„Wir sind die Rebell:innen des heutigen Systems“, sagt Islam Alijaj, während er seinen Cappuccino mit einem Röhrchen trinkt. An einem sonnigen Herbstnachmittag spricht er im Restaurant Rauti in Altstetten über das Behindertenwesen in der Schweiz. Es geht um die Behindertenpolitik, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sowie um die Rolle von Behindertenorganisationen. Das Restaurant Rauti bietet geschützte Arbeitsplätze für Menschen mit IV-Rente an. Islam Alijaj, der selbst mit einer Behinderung lebt, engagiert sich seit über zehn Jahren für die Gleichstellung und Inklusion von Menschen mit Behinderungen.
Im Gespräch wird unverzüglich klar, dass im Behindertenwesen grundlegender Reformbedarf besteht. Als Präsident des Vereins Tatkraft strebt er deshalb mit weiteren Betroffenen einen Wandel und den Aufbau einer Behindertenbewegung an. Ihr nächstes Projekt: eine Initiative auf nationaler Ebene. Die Forderungen der Inklusionsinitiative sind das Produkt eines Bedürfnisses nach echter Gleichstellung, Anerkennung auf Augenhöhe, gesellschaftlicher Teilhabe und Inklusion.
Was ist los im Schweizer Behindertenwesen? Weshalb lehnen sich die Betroffenen dagegen auf? Was muss sich verändern und wo bleibt die politische und öffentliche Aufmerksamkeit für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen?
Baustellen bei der Inklusion
In der Schweiz leben 1.6 Millionen Menschen mit Behinderungen. Ein Drittel gilt als „stark beeinträchtigt“. Da die Führung eines selbstständigen Lebens zu Hause für sie schwierig ist, sind sie oft gezwungen, in Heimen oder Institutionen zu leben. Laut der Behindertenrechtskonvention der UNO (UN-BRK) zählen als Menschen mit Behinderungen jene Personen, die „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben“. Diese Beeinträchtigungen erschweren ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wesentlich für eine inklusive Gesellschaft ist, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. In diesem Kontext ist die Debatte um die gesellschaftlichen Pflichten gegenüber Menschen mit Behinderungen nicht zu umgehen.
Im Jahr 2014 hat die Schweiz die UN-BRK ratifiziert. Dabei handelt es sich um ein Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. „Das Ziel der Konvention ist die Gewährleistung und Förderung der Menschenrechte von allen Menschen mit Behinderungen. Sie sollen möglichst selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können“, erklärt Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behinderten-Organisationen. In einem Jahr überprüft der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Umsetzung der Konvention in der Schweiz. Inclusion Handicap identifiziert zurzeit in fünf Bereichen grosse Mängel.
Das erste Problem betrifft die Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen, selbstständig Rechtsverträge abzuschliessen. Oftmals wird Betroffenen aufgrund ihrer kognitiven oder psychischen Behinderung mit der Beistandschaft die Handlungsfähigkeit entzogen. Zudem haben Menschen, die mental beeinträchtigt sind, keine politischen Rechte, wenn sie unter Beistandschaft stehen. Dieser kategorische Ausschluss beruhe auf der Vorstellung, dass mental beeinträchtige Personen zur politischen Meinungsbildung nicht fähig seien, was der Realität nicht gerecht werde und der UN-BRK widerspreche. Deshalb fordert Inclusion Handicap einen konsequenten Einbezug von Menschen mit Behinderungen in den politischen Prozess.
Eine weitere Schwachstelle betrifft das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Im heutigen System erhalten Menschen mit Behinderungen vorwiegend in Heimen und Institutionen Unterstützung und Betreuung. Das Geld von Bund und Kantonen fliesst somit nicht direkt zu den betroffenen Personen. „Aktuell widerspricht dieses System der UN-BRK“, betont Hess-Klein. Es habe zur Folge, dass viele Menschen mit Behinderungen sich mangels Alternativen gezwungen sehen, in einer Institution zu leben. Gemäss UN-BRK sollen Menschen mit Behinderungen aber selber entscheiden können, wie und wo sie wohnen möchten. Damit das Geld direkt zu den Betroffenen fliesst, seien Massnahmen zur De-Institutionalisierung des Behindertenwesens zentral.
Weiter ist die Inklusion von Menschen mit Behinderungen weder auf dem Arbeitsmarkt noch im Bildungssystem gewährleistet. Im Rahmen von privaten Arbeitsverhältnissen sei die Lage besonders prekär, da kein Schutz vor Diskriminierung bestehe: „Dazu gibt es unzählige Beispiele, wie etwa jemand, der wegen Gehörlosigkeit nicht angestellt wird, oder die Person im Rollstuhl, die nicht befördert wird.“
Von diesen Mängeln sind Menschen mit Behinderungen folglich in verschiedenen Lebensbereichen betroffen. Hinzu kommt, dass es sich bei der Umsetzung einer inklusiven Behindertenpolitik für eine Gruppe von 1.6 Millionen Menschen, die in ihrem Alltag mit sehr unterschiedlichen Problemen konfrontiert sind, um eine komplexe Aufgabe handelt. Trotzdem sind sich Alijaj und Hess-Klein einig, dass die Politik mehr machen könnte. Dabei nehmen sie Bezug zu Nachbarländern wie Deutschland oder Österreich, die bei der Umsetzung der Konvention deutlich voraus sind.
Selbstbestimmung durch ausreichende Assistenz
Mit der Inklusionsinitiative fokussieren die Initiant:innen auf die Selbstbestimmung. Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung zu ermöglichen, bräuchten diese einen freien Zugang zu vollumfänglicher Assistenz. Heute haben IV-Bezüger:innen, die zu Hause leben möchten und dabei auf regelmässige Hilfe angewiesen sind, Anspruch auf zusätzliche Beiträge für eine Assistenz. Aktuell sieht Alijaj diesbezüglich aber mehrere Probleme. Die Assistenzbeiträge werden hauptsächlich für die Bereiche Wohnen und Freizeit gesprochen. „Das reicht hinten und vorne nicht. Wir wissen alle, dass das Leben ganz andere Facetten beinhaltet. Ich erhalte heute ca. 100 Stunden Assistenzbeiträge pro Monat, was ungefähr 3’200 Franken entspricht. Ich bräuchte aber eigentlich doppelt so viel, um meinen Unterstützungsbedarf zu decken.“
Mit den Assistenzbeiträgen sollen Menschen mit Behinderungen Herausforderungen, denen sie mit ihrer Behinderung begegnen, ausgleichen können. Zum Beispiel ist Alijaj neben Tatkraft auch bei der Sozialdemokratischen Partei aktiv. Um als Politiker eine Rede zu halten, stellt seine Sprachbehinderung jedoch eine Hürde dar. Demnach sollte er Anspruch auf eine Assistenz haben, die es ihm ermöglicht, an einem Redner:innenpult seine Ideen und Argumente einem Publikum vorzustellen. Die Beiträge sollten daher nicht nur die Bereiche Wohnen und Freizeit betreffen, sondern alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens abdecken.
Neben einer Ausweitung der Assistenzbeiträge fordern die Initiant:innen schliesslich eine Neudefinition des Begriffs der Assistenz. Bisher definiert die IV Assistenz in Form von Dienstleistungen, die durch Personen verrichtet werden. „Aber auch mein Smartphone dient mir als Assistenz“, erklärt Alijaj. Technische Hilfsmittel gewinnen für Menschen mit Behinderungen zur Bewältigung ihres Alltags stark an Bedeutung und müssten deshalb ebenfalls in den Assistenzbeiträgen vorgesehen sein. Auch bei der Lancierung der Initiative dienen ihnen technische Mittel: „Ohne WeCollect, das eine digitale Unterschriftensammlung ermöglicht, hätten wir nie die Kraft gehabt, das selber zu meistern. Die Digitalisierung ermächtigt uns im politischen Prozess.“
Inclusion Handicap unterstützt das Anliegen der Initiant:innen. „Wir müssen aber auch diskutieren, wie die Schweiz durch eine Verfassungsänderung eine möglichst gute Grundlage für die Umsetzung der UN-BRK bekommt“, ergänzt Hess-Klein.
Mit der Inklusionsinitiative will Alijaj bei den Assistenzbeiträgen einen Anfang machen. „Inklusion ist ein breites Themengebiet. In einer Volksinitiative muss man sich aber begrenzen, um die Bevölkerung abzuholen.“ Mit den Assistenzbeiträgen werde ein zentrales Thema angesprochen: „Mit ausreichend Assistenz befähigt man Menschen mit Behinderungen. Man macht sie sichtbar. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft und in der Kultur.“ Im Januar soll eine öffentliche Vernehmlassung stattfinden, um den Initiativtext zu verfassen.
Gleichstellung mit Selbstvertretung
Wie so oft, wenn es um Gleichstellung geht, ist die rechtliche Gleichstellung nur ein erster, aber dringend notwendiger Schritt. Neben Hürden bei der IV und den Assistenzbeiträgen, Selbstbestimmung und politischen Rechten ist das Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft elementar.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Terminologie im Behindertenwesen. Bei der Invalidenversicherung gibt es die Unterkategorie „Hilflosenentschädigung“- eine Leistungsart, die genau Menschen mit Behinderungen betrifft, die Hilfe bei alltäglichen Lebensverrichtungen benötigen. Und selbst das Wort „invalid“ heisst übersetzt „wertlos“. „Die Gesellschaft sieht uns als wertlose und arme Geschöpfe an. Mit den Spendenkampagnen der Behindertenorganisationen wird dieses Bild umso mehr zementiert“, bekräftigt Alijaj. „Wir müssen selber aktiv werden, denn Gleichstellung erreichen wir nur mit Selbstvertretung. Das können wir wiederum nur, wenn wir genügend Assistenz erhalten.“
Zugleich scheint die Situation für Menschen mit Behinderungen politisch sowie öffentlich nicht weit oben auf der Agenda zu stehen. Alijaj sieht dafür verschiedene Gründe. „Wir sind fremdbestimmt. Sogar in den eigenen Organisationen sind wir unterrepräsentiert.“ Viel Geld und viele Arbeitsplätze seien vom heutigen System mit seinen Institutionen abhängig, weshalb der notwendige Wandel nur schleppend vorangehe, argumentiert Alijaj.
Ausserdem hätten viele Behindertenorganisationen im Gegensatz zu selbstorganisierten Vereinen wie Tatkraft zwei Hüte auf: „Einerseits vertreten sie unsere politischen Interessen, andererseits sind sie auch Dienstleister, die Produkte für uns anbieten.“ Diese Dienstleistungen, wie zum Beispiel Rechtsberatung oder Betreuungsangebote, würden wiederum vom Staat bezahlt. Eine Person, die Unterstützung bei alltäglichen Tätigkeiten wie Einkaufen oder Körperhygiene braucht, kann sich für eine Assistenz an eine Organisation wenden. Diese Kosten werden dann durch die Assistenzbeiträge der IV gedeckt.
„Viele Linke, und das sage ich als Linker, unterstützen dieses System, weil sie zu wenig Ahnung davon haben, wie das Behindertenwesen funktioniert. Wenn sie eine Frage haben, sprechen sie in den Organisationen mit nicht-behinderten Menschen über uns.“ Gleichzeitig weisen die Organisationen oftmals der Politik die Schuld für Missstände zu, sagt Alijai. Aus diesen Gründen sieht er es als Aufgabe der Betroffenen, mit der Inklusionsinitiative das System grundlegend weiterzuentwickeln.
Menschen mit Behinderungen für diese Bewegung zu mobilisieren sei aber unter den bestehenden Einschränkungen und den gesellschaftlichen Benachteiligungen schwierig. Trotzdem stimmt ihn ein Referenzpunkt, der noch nicht weit zurückliegt, hoffnungsvoll: „Auch die Frauen in den 70er-Jahren haben selber für ihre Rechte gekämpft. Damals waren sie Spinnerinnen, die sich gegen ihre Familien aufgelehnt haben. Heute bezeichnen wir sie als Heldinnen.“
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