Gap Year: Das Privileg einer Auszeit

Das Zwischen­jahr ist für viele Schulabgänger*innen eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Unsere Kolum­ni­stin denkt über das Privileg einer solcher Auszeit und ihre Kehr­seiten nach. 
Viele Schulabgänger*innen gehen in ihrem Zwischenjahr auf Reisen. (Foto: Unsplash / Febe Vanermen)

„Jetzt können wir uns nicht mehr als Schüler*innen bezeichnen. Vorerst gelten wir wohl als arbeitslos“, sage ich und wir lachen irgendwie erleich­tert. Es ist der letzte Tag im Juni und ich geniesse nachts in einem Park die letzten Stunden mit meinen Schulkolleg*innen.

Dafür, dass es der erste Abend eines neuen Lebens­ab­schnittes sein sollte, fühlt er sich nervig bekannt an. Wir trinken billigen Wein, reden mitein­ander und zögern den ulti­ma­tiven Abschied um einige Stunden hinaus. Trotzdem können wir es kaum fassen: Die Schul­zeit geht endlich zu Ende. 

Da wir in verschie­denen Ecken landen würden, wollen wir heraus­finden, was unsere Mitschüler*innen näch­stes Jahr vorhaben – in der Hoff­nung, dass wir uns viel­leicht doch noch das eine oder andere Mal kreuzen. Während einige ein Studium oder eine Ausbil­dung beginnen, antworten die aller­mei­sten: „Ich mache ein Zwischenjahr“. 

Die Idee des Weltfriedens

Das Zwischen­jahr – auch Gap Year genannt – ist unter jungen Menschen sehr beliebt. Viele brau­chen nach der Schule oder nach dem Studium eine Auszeit und nehmen sich ein Jahr dafür frei. 

Dieses Phänomen ist nicht neu. Bereits in den 60er Jahren fingen junge Menschen in Gross­bri­tan­nien an, ein Zwischen­jahr nach der Schule und vor dem Studium zu machen. Die Absicht dahinter war scheinbar der Welt­frieden: Im Gross­bri­tan­nien der Nach­kriegs­zeit erhoffte man sich eine Jugend, die durch das Reisen in ferne Gebiete und das Kennen­lernen von anderen Kulturen für den Frieden sensi­bi­li­siert würde. „Geht, schaut euch die Menschen und Ortschaften an und hoffent­lich tut ihr denen in Zukunft nichts“, schien die Devise.

Diese Indu­strie ist so profit­reich, dass viele Agen­turen die frei­wil­lige Arbeit auf ihren eigenen Gewinn ausrichten.

Seither hat sich das Gap Year fast zu einer Norm entwickelt – zumin­dest nach meiner Erfah­rung. Diese Norm bedeutet, sich eine Auszeit zu nehmen für Selbst­fin­dung und um den eigenen Hori­zont zu erwei­tern. Gerade nach dem struk­tu­rierten Alltag in der Schule ist die Idee von Ferne und Neuem verlockend.

Die Beliebt­heit des Zwischen­jahrs im Globalen Norden liess zudem eine riesige Indu­strie entstehen. Wer etwa mit der Sprach­rei­se­or­ga­ni­sa­tion Educa­tion First (EF) in Sydney Englisch lernen möchte, muss bereit und in der Lage sein, knapp 1’000 Franken pro Woche auszu­geben. Je nach Unter­kunft und Sprach­kurs kann die Zahl steigen.

Eine profi­table Industrie

Neben den vielen Sprach­schul­an­ge­boten gibt es etliche Agen­turen, die jungen Menschen Stellen als Frei­wil­lige in ärmeren Ländern vermit­teln. Die Nach­frage dafür ist gross, denn oft wollen junge Menschen in ihrem Zwischen­jahr auch sinn­stif­tende Arbeit leisten. Die Agen­turen verspre­chen exoti­sche Land­schaften, eine unver­gess­liche Reise und die Möglich­keit, nebenbei zu helfen. Im Engli­schen nennt man das „volun­tou­rism“

Diese Indu­strie ist so profit­reich, dass viele Agen­turen die frei­wil­lige Arbeit auf ihren eigenen Gewinn ausrichten. Frei­wil­lige müssen je nach Orga­ni­sa­tion ordent­lich viel zahlen, um an einem solchen Programm teil­zu­nehmen. Diese Kosten beinhalten einer­seits Verpfle­gung und Unter­kunft der Frei­wil­ligen – aber oft zu einem über­ris­senen Preis.

Mit der Agentur Travel­works zahlen Frei­wil­lige etwa weit über 2’000 Franken im Monat, um an einer Schule in Ghana frei­willig zu unter­richten. Lokale Schulen seien ausge­la­stet und es gäbe für Inter­es­sierte „viel zu tun“, so ihre Website. Zwar können solche Ange­bote die Situa­tion kurz­fri­stig erleich­tern, sie erzeugen aber gleich­zeitig eine lang­fri­stige Abhän­gig­keit. Die betrof­fene Region kann nicht mehr ohne die Frei­wil­ligen leben: Sind sie nicht da, gibt es schlichtweg zu wenig Lehr­per­sonen an den Schulen.

Was viel­leicht mit einer posi­tiven Absicht anfing, endet schluss­end­lich in einer Form von white saviour complex.

Auch gibt es beispiels­weise Waisen­häuser, die in armen Regionen Kinder von ihren Eltern mit dem Verspre­chen trennen, dass sie nun ein besseres Leben mit finan­zi­eller Sicher­heit geniessen werden. Dabei geht es an erster Stelle darum, das Angebot für die Frei­wil­ligen attrak­tiver zu machen, die sich natür­lich gerne um die „Waisen­kinder“ kümmern. Bauen die Kinder eine Verbin­dung zu den Frei­wil­ligen auf, müssen sie sich einige Wochen später unver­meid­lich wieder verabschieden.

Kritisch an diesen Ange­boten ist zudem, dass man in einem Zwischen­jahr nur begrenzt Zeit hat. Das führt dazu, dass Frei­wil­lige oft Aufgaben über­nehmen, für die sie weder eine Ausbil­dung noch die nötigen Skills haben. Was viel­leicht mit einer posi­tiven Absicht anfing, endet schluss­end­lich in einer Form von white saviour complex – ein Phänomen, nach dem sich weisse Menschen aus dem Globalen Norden dazu berufen fühlen, in Ländern des Globalen Südens Entwicklungs‑, Aufklä­rungs- oder Hilfs­ar­beit zu leisten. Im Vorder­grund dieser Beru­fung steht übli­cher­weise das eigene Befinden: Das gute Gewissen, jemanden geholfen zu haben. Ob man dabei wahr­haftig geholfen hat, gerät in den Hinter­grund oder in Vergessenheit.

Eine grosse Ausnahme

Während viele Schulabgänger*innen in der Schweiz die Wahl haben, ein solches Zwischen­jahr zu machen, ist es bei weitem nicht in allen Ländern so. Im Austausch wird mir klar: Von meinen Kolleg*innen aus der Schweiz geht kaum jemand direkt studieren. Von jenen aus meiner Heimat Brasi­lien hingegen kenne ich keine Person, die frei­willig ein Zwischen­jahr macht. Wird man nach der Schule nicht direkt an einer Univer­sität aufge­nommen, so verbringt man das nächste Jahr in einem Vorbe­rei­tungs­kurs – eine Auszeit, wie wir das hier kennen, erlaubt das strenge Schul­sy­stem nicht.

Eine Auszeit vom schnellen und profit­ori­en­tierten Alltag, der uns die kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft aufdrängt, ist nur möglich, weil wir an deren Spitze stehen.

Noch wich­tiger: Neben­jobs, die gute Löhne zahlen und die Möglich­keit, das Geld über­haupt sparen zu können, sind in Brasi­lien seltene Ausnahmen. Auch gehen viele junge Menschen aus finan­zi­ellen Gründen gar nicht erst an eine Hoch­schule. Es wurde mir einmal mehr klar: Eine Auszeit vom schnellen und profit­ori­en­tierten Alltag, der uns die kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft aufdrängt, ist nur möglich, weil wir an deren Spitze stehen.

Wenn ich an die näch­sten Monate denke oder mit meinen Kolleg*innen über unsere Reise­pläne spreche, könnte ich vor Freude platzen. Ich bin dankbar, dass ich in einer Posi­tion stecke, in der das über­haupt möglich ist. Die Welt zu erkunden ist span­nend, aufre­gend und wunderbar. Auf der Suche nach Sinn und Erfül­lung müssen wir uns aber dazu verpflichten, diese nicht auf Kosten anderer zu machen. Es liegt an uns, Ange­bote gründ­lich zu recher­chieren und ihre Wirkungen zu hinterfragen.

Diese Welt gehört nicht nur uns. Auch, wenn sich das an der Matu­ra­feier ein biss­chen so anfühlt.


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