Gefähr­dung des Lebens durch die Stadt­po­lizei Zürich

Während einer Poli­zei­kon­trolle wird Wilson A. lebens­ge­fähr­lich verletzt. Es folgt ein 15-jähriges Rechts­ver­fahren voller Lücken und Verfah­rens­fehler. Der Fall zeigt beispiel­haft, wie schwer es ist, gegen die Schweizer Polizei zu prozessieren. 
Wilson A. an der Verhandlung gegen den ehemaligen Einsatzleiter Z. im Februar 2024 (Illustration: Iris Weidmann)

Inhalts­war­nung: In diesem Beitrag wird rassi­sti­sche Poli­zei­ge­walt explizit beschrieben.

Als Wilson A. und sein Freund B. am 19. Oktober 2009 in Zürich auf dem Heimweg sind, klopfen zwei Polizist*innen gegen die Türen und Fenster der fahrenden Stras­sen­bahn. Diese hält abrupt an, lässt die Unifor­mierten einsteigen und fährt erneut los. Die Beamt*innen gehen direkt auf Wilson A. und seinen Freund zu und weisen sie an, für eine Perso­nen­kon­trolle an der näch­sten Halte­stelle auszusteigen. 

Direkt nach dem Ausstieg habe ihm eine Poli­zi­stin Pfef­fer­spray ins Gesicht gesprüht. Ein dritter Poli­zist sei hinzu­ge­kommen und habe ihn mit seinen Fäusten und seinem Knie in Unter­leib und Brust gestossen. Danach sei Wilson A. von allen drei Beamt*innen mit ihren Stöcken geschlagen worden, bis er umkippte. Ange­sichts seiner Herz­er­kran­kung und des Defi­bril­la­tors in seiner Brust sei er in Panik geraten und habe verzwei­felt versucht, sich zu vertei­digen und wieder aufzustehen.

„Wilson, they will kill you!“, habe B. immer wieder geschrien. Er selbst sei gefes­selt und vom Geschehen isoliert worden.

„Scheiss-Afri­kaner, geh zurück nach Afrika!“ Während einer der Poli­zei­be­amten Wilson A. rassi­stisch belei­digt habe, hätten sie weiter auf ihn einge­schlagen. Einer der Beamten habe ihm sogar einen Daumen ins Auge gedrückt. Dann habe ihn ein Poli­zist so lange von hinten in den Würge­griff genommen, bis Wilson A. benommen dage­legen sei. In diesem Zustand seien ihm Hand­schellen ange­legt und seine Beine verdreht worden, sodass sie später operiert werden mussten.

Laut Polizei sei die Kontrolle in dieser Nacht nach Vorschrift verlaufen.

Das ist die Version des Tatvor­ganges, wie sie Wilson A. und sein Anwalt zusammen mit der „Allianz gegen Racial Profiling“ detail­ge­treu rekon­stru­iert haben. Die Gruppe unter­stützt Wilson A. seit Jahren in seinem Rechts­ver­fahren gegen die Polizist*innen der Stadt­po­lizei Zürich, die ihn in jener Nacht verprü­gelt haben sollen.

Laut Polizei sei die Kontrolle in dieser Nacht nach Vorschrift verlaufen und keiner dieser Über­griffe passiert. Statt­dessen werden sie Wilson A. dafür anklagen, sich aggressiv verhalten zu haben.

Kein rechts­me­di­zi­ni­sches Gutachten

Statt in die Notauf­nahme zu fahren, nehmen die Polizist*innen Wilson A. in Unter­su­chungs­haft. Auf dem Revier doku­men­tiert ein Rechts­me­di­ziner zwar, dass A. weder Alkohol noch andere Drogen konsu­miert habe, erstellt aber kein rechts­me­di­zi­ni­sches Gutachten der Verlet­zungen des Betrof­fenen. Zum selben Zeit­punkt schreiben die Polizist*innen einen subjek­tiven Wahr­neh­mungs­be­richt über die Ausein­an­der­set­zung und halten ihre eigenen Verlet­zungen foto­gra­fisch fest: Schür­fungen an Knien und Armen.

Nach der Unter­su­chungs­haft wird Wilson A. ins Unispital Zürich einge­lie­fert, wo er medi­zi­nisch unter­sucht wird. Der Arzt stellt unter anderem einen gebro­chenen Lenden­wirbel, ein verletztes Knie sowie Prel­lungen und Blut­ergüsse an der Stelle des implan­tierten Herz­schritt­ma­chers fest.

In derselben Nacht erstatten die Polizist*innen Anzeige gegen Wilson A. 

Dieser habe sich bei der Kontrolle aggressiv verhalten und die Beamt*innen belei­digt. Angeb­lich führten die Polizist*innen den Einsatz wegen einer Fahn­dungs­mel­dung durch. Das entspre­chende Doku­ment der Fahn­dungs­mel­dung findet die Stadt­po­lizei aller­dings erst vier Monate nach dem Vorfall.

Wenn sie von draussen durch die Scheibe ledig­lich zwei Schwarze Männer erahnt hätten, wäre es ein Fall von Racial Profiling. 

Laut der „Allianz gegen Racial Profiling“ handle es sich dabei um die Fahn­dung eines anderen Schwarzen Mannes, der Wilson A. und seinem Freund B. nicht einmal ähnlich sehe. Auch kann der Einsatz­leiter Z. nicht belegen, dass er zum gege­benen Zeit­punkt bereits von der Fahn­dungs­mel­dung wusste.

Bis zuletzt bleibt unge­klärt, ob die Polizist*innen von ihrer Perspek­tive ausser­halb des fahrenden Trams Wilson A. und seinen Freund über­haupt hätten erkennen können, oder ob sie einfach zwei Schwarze Männer gesehen hatten und daraufhin die Perso­nen­kon­trolle durch­führten. Wenn sie von draussen durch die Scheibe ledig­lich zwei Schwarze Männer erahnt hätten, wäre es ein Fall von Racial Profiling. 

Einsatz­leiter Z. (v.r.) und sein Anwalt (v.l.) der Verhand­lung im Ober­ge­richt Zürich, fünf­zehn Jahre nach dem Vorfall. (Illu­stra­tion: Iris Weidmann)

Doch die zustän­dige Staats­an­wältin Chri­stina Braun­schweig leitet keine einzige Ermitt­lung zu diesen Unge­reimt­heiten ein.

Im Dezember 2009 reicht Wilson A. eine Anzeige wegen Amts­miss­brauch, Körper­ver­let­zung, Gefähr­dung des Lebens und unter­las­sener Hilfe­lei­stung gegen die drei Polizist*innen der Stadt Zürich ein.

Das Verfahren gegen Wilson A. wird kurze Zeit später wieder eingestellt.

Staats­an­wältin fehlt vor Gericht, Polizist*innen freigesprochen 

Da die Staats­an­wältin Braun­schweig zweimal vergeb­lich versucht, das Verfahren gegen die Polizist*innen einzu­stellen, dauert es ganze sechs Jahre, bis die Anzeige von Wilson A. gegen die Stadt­zür­cher Polizist*innen beim Gericht einge­reicht wird. So soll die erste Verhand­lung im November 2016, also knappe sieben Jahre nach dem Vorfall stattfinden. 

Doch als der Prozesstag ansteht, taucht die Staats­an­wältin, die die Anklage vor Gericht vertreten müsste, entgegen ihrer Pflicht nicht vor dem Bezirks­ge­richt auf.

Der Auftrag der Staats­an­walt­schaft ist es, das Vorver­fahren unpar­tei­isch zu leiten und alle mutmass­li­chen Straf­taten im Vorfeld zu unter­su­chen. In einem Verfahren gegen die Polizei muss die Staats­an­walt­schaft eine neutrale Posi­tion einnehmen, wobei sie sonst eng mit der Polizei zusammenarbeitet. 

Anwalt Bruno Steiner forderte bereits 2014, dass die Staats­an­wältin das Verfahren abgeben solle, da sie befangen sei und alles dafür getan hätte, den Prozess zu verun­mög­li­chen. Die Beschwer­de­kammer des Ober­ge­richts lehnte dies jedoch ab, da der Antrag zu spät einge­reicht worden sei.

Die Beamt*innen hätten ledig­lich ihren Job gemacht.

Durch das Fehlen der Staats­an­wältin sah sich der zustän­dige Richter dazu gezwungen, den Termin aber­mals zu verschieben. Zum zweiten Termin am 29. November 2016, der über eine Woche später statt­findet, erscheint die Staats­an­wältin schliesslich. 

Laut Ankla­ge­schrift, die die Staats­an­wältin formu­lieren musste, wird den Polizist*innen Amts­miss­brauch und einfache Körper­ver­let­zung vorge­worfen. Als Beweis­mittel legt die Staats­an­wältin Befra­gungs­pro­to­kolle mit den drei invol­vierten Polizist*innen, Wilson A. und seinem Freund B. vor. Letz­tere wurden aller­dings erst acht bezie­hungs­weise drei­zehn Monate nach dem Vorfall befragt. Weitere Beweise hat die Staats­an­walt­schaft nicht erhoben. Ein gerichts­me­di­zi­ni­sches Gutachten der lebens­ge­fähr­li­chen Verlet­zungen von Wilson A. etwa, gibt es nicht.

Auch die Vorwürfe des Racial Profilings und des lebens­be­droh­li­chen Würge­griffs, die Wilson A. gegen die Stadtpolizist*innen erhoben hat, nimmt die Staats­an­wältin nicht in ihre Ankla­ge­schrift auf. Und da nur dieje­nigen Themen vor Gericht verhan­delt werden, die die Staats­an­walt­schaft anklagt, wird an diesem Tag weder über die Recht­mäs­sig­keit noch über das mögli­cher­weise rassi­sti­sche Vorgehen der Stadt­po­lizei disku­tiert, die eigent­lich der zentrale Bestand­teil der Verhand­lung hätten sein sollen.

Racial Profiling, auch als rassi­sti­sches Profiling bezeichnet, ist eine Praxis, bei der die Polizei Personen aufgrund von äusseren Merk­malen wie Haut­farbe oder vermu­teter Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit einer bestimmten Perso­nen­gruppe zuordnet und pauschal als verdächtig behan­delt. Diese Praxis ist in vielen Ländern, auch in der Schweiz, weit verbreitet und wird von Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen als menschen­rechts­widrig kriti­siert. Die Praxis des Racial Profilings kann zu psychi­schen Schäden bei den Betrof­fenen führen. So können sie sich gede­mü­tigt, verun­si­chert und bedroht fühlen. In einigen Fällen kann Racial Profiling auch eine lebens­be­dro­hende Gefahr darstellen.

So fordert die Staats­an­wältin an diesem Tag im November 2016 vor dem Bezirks­ge­richt ledig­lich ein Straf­mass von 100 Tages­sätzen für die beschul­digten Polizist*innen. Gemessen am Vorwurf der schweren Körper­ver­let­zung und Gefähr­dung des Lebens ist dieses Straf­mass unge­wöhn­lich tief. Der zustän­dige Bezirks­richter sprach sich gegen den Entscheid der Staats­an­wältin aus und forderte ein höheres Straf­mass, was er als Einzel­richter aber nicht entscheiden darf.

Er über­weist den Fall an ein soge­nanntes Kolle­gi­al­ge­richt, bei dem ein Gremium aus Richter*innen zuständig ist. Noch immer fehlt sowohl ein gerichts­me­di­zi­ni­sches Gutachten von Wilson A.s Verlet­zungen als auch Unter­su­chungen bezüg­lich des Vorwurfes des Racial Profilings.

Bei der Haupt­ver­hand­lung vor dem Kolle­gi­al­ge­richt im Früh­ling 2018 plädiert die Staats­an­wältin auf Frei­spruch für alle Polizist*innen. Das Gericht folgt ihrem Antrag, erhebt keine weiteren Beweis­mittel und spricht die Beamt*innen voll­um­fäng­lich frei. Die Begrün­dung des Urteils lautet, Wilson A.s Schil­de­rungen des Gesche­hens seien nicht glaub­haft, dieje­nigen der Polizist*innen, die alle deckungs­gleich sind, jedoch schon. Die Beamt*innen hätten ledig­lich ihren Job gemacht.

„Was Wilson A. wider­fahren ist, ist kein Einzelfall!“

Orga­ni­sator der Kund­ge­bung gegen rassi­sti­sche Poli­zei­ge­walt am 15. Februar 2024

Wilson A. aber legt Beru­fung gegen das Urteil ein, um endlich dieje­nigen Ankla­ge­punkte vor Gericht zu bringen, um die es seit Beginn des Verfah­rens gehen müsste. Etwas später zog er die Vorwürfe gegen zwei der drei Polizist*innen wieder zurück, sodass sich die Verhand­lungen nur noch gegen den Einsatz­leiter des besagten Tages im Oktober 2009 richtete.

Gefähr­dung des Lebens

Wieder vergehen Jahre, bis der Beru­fungs­pro­zess gegen den poli­zei­li­chen Einsatz­leiter statt­findet. Am 15. Februar 2024 ist es dann endlich so weit. Am Verhand­lungstag steht ein grosses Poli­zei­auf­gebot mit mehreren Kasten­wagen vor dem Ober­ge­richt in Zürich bereit.

Einige Meter weiter versam­meln sich über fünfzig Personen in der Zürcher Altstadt für eine Kund­ge­bung gegen rassi­sti­sche Poli­zei­ge­walt. „Es geht um die Verlet­zung der Menschen­rechte und darum, dass die Verant­wort­li­chen zur Rechen­schaft gezogen werden“, spricht einer der Organisator*innen an diesem Diens­tag­morgen zu der Menschen­menge. „Was Wilson A. wider­fahren ist, ist kein Einzel­fall!“ Die Blicke des Publi­kums sind betrübt, die Erschüt­te­rung ist allen in die müden Gesichter geschrieben.

Die Kund­ge­bung gegen rassi­sti­sche Poli­zei­ge­walt fand kurz vor dem Beru­fungs­pro­zess statt. (Illu­stra­tion: Iris Weidmann)

Nach der Kund­ge­bung begleiten mehrere Dutzend Personen Wilson A. in den Verhand­lungs­saal des Ober­ge­richts. Da nicht alle in den Verhand­lungs­raum passen, warten einige Personen draussen vor der schweren Holz­türe des Gerichts.

Durch den unge­wöhn­lich grossen Zulauf beginnt die Verhand­lung mit Verspä­tung. Entnervt und unge­duldig eröffnet der vorsit­zende Ober­richter Stefan Volken den Prozess. „Wir führen hier ein juri­sti­sches Verfahren“, ermahnt er das Publikum zu Beginn. „Das ist keine poli­ti­sche Mani­fe­sta­tion“. Dann fügt Volken an, er komme Wilson A. heute damit entgegen, die Verhand­lung auf Hoch­deutsch zu führen.

Bereits im November 2021 sollte es zum Prozess gegen den Einsatz­leiter Z. kommen. Doch Wilson A.s zustän­diger Rechts­an­walt Bruno Steiner erkrankt an Krebs und muss sein Amt kurzer­hand abgeben. Der leitende Ober­richter Stefan Volken aber lässt keinen Ersatz für den Anwalt von Wilson A. zu, sodass dieser ohne Rechts­ver­tre­tung vors Ober­ge­richt gehen müsste. Die Verhand­lung wird daraufhin ein weiteres Mal vertagt.

Im selben Monat reichte der an Krebs erkrankte Anwalt Steiner eine Straf­an­zeige und eine Befan­gen­heits­klage gegen Ober­richter Volken ein, da dieser versucht habe, die recht­liche Vertre­tung von Wilson A. zu verun­mög­li­chen. In den Jahren darauf wird der Ober­richter von allen Vorwürfen freigesprochen.

Volkens Urteile haben bereits in der Vergan­gen­heit für mediale Aufmerk­sam­keit gesorgt, als er beispiels­weise ein äusserst geringes Straf­mass für einen jungen Mann verhängte, der unter Kokain- und Ketamin­e­influss seinen Freund brutal ermor­dete, da er ihn angeb­lich für einen Alien hielt. Auch die Einschät­zung des Ober­rich­ters bezüg­lich Verge­wal­ti­gungs­vor­würfen gegen­über dem Beschul­digten in einem anderen Fall wirkten urteils­min­dernd. So bediente sich Volkens dem gängigen Narrativ, die Vorwürfe seien unglaub­würdig, weil die mutmass­lich Verge­wal­tigte ihre Anklage erst Monate nach der vermeint­li­chen Tat zur Anzeige brachte.

Volken erhielt daraufhin Post vom Bundes­ge­richt. Ihm werden unter anderem „will­kür­liche Berück­sich­ti­gung von Beweisen, zwei­fel­hafte Abstüt­zung auf Gutachten, Igno­rieren von Wider­sprü­chen in den Aussagen des Täters“ sowie die Verlet­zung der Ermitt­lungs­pflicht und Form­fehler vorgeworfen.

Trotz dieser Vorge­schichte soll Volken den Gerichts­pro­zess vor dem Ober­ge­richt weiterhin unbe­fangen leiten.

Dem dama­ligen Einsatz­leiter Z., ein Mann mitt­leren Alters mit Brille und Bauch­an­satz, werden Amts­miss­brauch und die Gefähr­dung des Lebens von Wilson A. vorge­worfen. Einer seiner Poli­zei­kol­legen hockt eben­falls im Publikum. Sein grauer Anzug sitzt stramm auf den breiten Schul­tern, der Blick hinter der schwarzen Brille ist stets nach vorne gerichtet.

Der ange­klagte ehema­lige Einsatz­leiter Z. (Illu­stra­tion: Iris Weidmann)

Wilson A.s neuer Anwalt Daniel Walder hält zu Beginn des Prozesses ein fünf­zehn­mi­nü­tiges Plädoyer, in dem er auf die bis heute fehlenden medi­zi­ni­schen Gutachten hinweist, weitere Unter­su­chungen und die vorbe­halt­lose Aufklä­rung der Sach­ver­halte verlangt. Auch der Aspekt des Racial Profilings soll endlich im Prozess beachtet werden.

Z.s Anwalt hält sich kurz: Er lehnt alle Forde­rungen von Anwalt Walder ab und kriti­siert, dass der Privat­kläger „seit Jahren auf Kosten des Gerichts“ prozessiere.

In der darauf­fol­genden Pause stehen der dama­lige Einsatz­leiter Z., sein Anwalt und sein Poli­zei­kol­lege in einer Ecke vor dem Gerichts­saal, plau­dern locker und lachen entspannt.

Danach verkündet der Ober­richter sein Urteil: Die Forde­rungen von Walder werden gänz­lich abge­lehnt. Die Anklage ginge davon aus, dass die Poli­zei­kon­trolle recht­mässig war. „Es handelt sich nicht um einen Fall des Racial Profilings“, wendet sich Volken erneut direkt an das Publikum. Auch weise nichts darauf hin, dass Wilson A. lebens­be­droh­lich gewürgt oder sonst eine Form der unan­ge­mes­senen Gewalt ange­wendet worden sei.

Volken stellt dem Beschul­digten noch ein paar Fragen: Ob dieser lange juri­sti­sche Prozess ihn als dama­ligen Einsatz­leiter privat oder beruf­lich beein­flusst hätte. Z. antwortet, dass es beruf­lich keinen Einschnitt gegeben hätte, ihn der Prozess aller­dings „privat bela­stet“. Ein Raunen geht durch das Publikum. Sofort reagiert der Ober­richter scharf: Wer aus dieser Verhand­lung eine Kund­ge­bung machen wolle, solle sofort den Raum verlassen.

Eine straf­recht­liche Verur­tei­lung von Polizist*innen kommt beinahe nie zustande.

Der Tag endet, wie erwartet: Auch das Zürcher Ober­ge­richt spricht den dritten Poli­zi­sten und Einsatz­leiter, der Wilson A. gewürgt haben soll, frei. 

Laut Urteil habe der Anwalt des Privat­klä­gers eine Version der Tatsa­chen gelie­fert, die nicht der Wahr­heit entspre­chen. „Es gab kein Blut­würgen“, verkündet der Ober­richter. Auch Wilson A.s dama­liger Begleiter habe in der Unter­su­chung nichts von Würgen erzählt. Der ange­klagte Poli­zist habe auch sonst keine unan­ge­mes­sene Gewalt angewendet. 

Zum Abschluss wird der dama­lige Poli­zei­ein­satz­leiter Z. mit 48‘000 Franken entschädigt.

Kein Einzel­fall

Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen wie der Euro­päi­sche Gerichtshof für Menschen­rechte oder der UN-Menschen­rechtsrat kriti­sieren die Schweiz seit Jahr­zehnten, da die Melde­stellen bei poli­zei­li­chem Fehl­ver­halten nicht unab­hängig genug seien und dem glei­chen Depar­te­ment wie die Polizei selbst unter­liegen. Doch trotz inter­na­tio­naler Kritik geschieht in der Schweiz kaum etwas, um eine dauer­hafte Lösung zu institutionalisieren.

So bleiben die Erfolgs­chancen, Beamt*innen bei Gewalt, Über­griffen und Diskri­mi­nie­rung zur Rechen­schaft zu ziehen, gering. Eine straf­recht­liche Verur­tei­lung von Polizist*innen kommt beinahe nie zustande. Die Möglich­keiten, sich über poli­zei­li­ches Fehl­ver­halten zu beschweren, sind unüber­sicht­lich und können schnell teuer werden. Wer eine Anzeige wegen poli­zei­li­chem Fehl­ver­halten einreicht, muss zudem mit einer Gegen­an­zeige der Polizei rechnen. Stati­stiken darüber, wie oft Polizist*innen ange­zeigt werden, gibt es in der Schweiz keine.

Zahlen aus Deutsch­land können einen Hinweis auf die geringen Erfolgs­chancen geben: 2021 wurden über 5’000 Ermitt­lungs­ver­fahren gegen die Polizei einge­leitet, wobei ledig­lich 61 Fälle vor Gericht landeten.

Trotz aller Kritik des Anwalts Daniel Walder am juri­sti­schen Verfahren, wird auch der dritte Poli­zist im Februar 2024 erneut frei­ge­spro­chen. (Illu­stra­tion: Iris Weidmann)

Der Umstand, dass in der Schweiz noch nie ein*e Polizist*in wegen rassi­sti­scher Hand­lungen verur­teilt wurde, weist auf die unzu­läng­liche juri­sti­sche Ausein­an­der­set­zung mit poli­zei­in­ternen Vergehen hin. Es gibt keine Gerichts­praxis zu rassi­sti­schem Profiling und auch keine expli­ziten Verbote für dessen Anwendung.

Der uner­schüt­ter­liche Korps­geist der Polizei und ihre Nähe zur Staats­an­walt­schaft redu­zieren die Wahr­schein­lich­keit auf einen fairen Prozess. Beamt*innen sagen nur in den selten­sten Fällen gegen ihre Kolleg*innen aus. Strafrechtler*innen führen das auf eine falsch verstan­dene Loya­lität im Poli­zei­korps zurück. 

„Ange­sichts einer in der soge­nannten Cop Culture veran­kerten internen Werte­ord­nung, die Zusam­men­halt und Loya­lität gross­schreibt und das öffent­liche Einge­stehen von Fehlern sank­tio­niert“, so Rechts­an­walt Benjamin Derin und Rechts­wis­sen­schaftler Tobias Singeln­stein, müsse man davon ausgehen, dass in poli­zei­in­ternen Ermitt­lungen nicht immer das gleiche Problem­be­wusst­sein bestehe, wie es in anderen Straf­ver­fahren üblich sei.

Trotz alledem wird Wilson A. den Fall weiter ans Bundes­ge­richt und wenn nötig, bis vor den Euro­päi­schen Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) ziehen. 

Im Februar 2024 verur­teilte das EGMR die Schweiz wegen einer rassi­sti­schen Poli­zei­kon­trolle. Dieser Präze­denz­fall und das neue, breite mediale Inter­esse an Fällen des Racial Profilings bergen Hoffnung.


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