Gleich­stel­lung durch weniger Geld – geht das?

Das Bundes­ge­richt hat in den vergan­genen zwei Jahren verschie­dene Grund­satz­ur­teile darüber gefällt, ob und wie lange nach einer Schei­dung eine Person Anrecht auf Unter­halts­zah­lungen hat. Was trocken klingt, hat grossen Einfluss auf die Gleich­stel­lungs­po­litik. Das Lamm im Gespräch mit Histo­ri­kerin Simona Isler. 
Simona Isler ist Historikerin, Mutter und setzt sich als Aktivistin bei der "Eidgenössischen Kommission dini Mueter" (kurz: EKdM) für eine feministische Mütterpolitik ein. (Foto: zVg)

Frau Isler, hat das Bundes­ge­richt Mann und Frau endlich gleichgestellt?

Simona Isler: Nein, im Gegenteil.

Das sehen viele Kommentator*innen aber an­ders. Sie spre­chen bei den fünf Bundesgerichts­entscheiden (siehe Infobox „Die Bundes­ge­richts­ent­scheide“) von einer „Revolu­tion des Eherechts“ und vom „Ende der traditi­onellen Geschlechterrollen“…

Ich weiss nicht, wie man zu dieser Einschät­zung gelangen kann. Das Bundes­ge­richt hat in seinen Entscheiden igno­riert, dass Männer und Frauen in der Schweiz ökono­misch nicht gleich­ge­stellt sind. Das ergibt sich zum grössten Teil daraus, dass Frauen mehr unbe­zahlte Care-Arbeit leisten als Männer und öfter in schlecht bezahlten Berufen arbeiten. Die geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Einkom­mens­lücke, die sich daraus ergibt, beläuft sich auf rund 100 Milli­arden Franken im Jahr.

All das igno­riert das Bundes­ge­richt. Ich weiss nicht, ob die Richter naiv sind oder frau­en­feind­lich, aber die Entscheide werden die Ungleich­heiten weiter verschärfen und zu einer weiteren Umver­tei­lung von Geld und Zeit führen – weg von den Frauen hin zu den Männern.

Das Bundes­ge­richt hat in fünf Grund­satz­ur­teilen seit November 2020 Fragen zum Unter­halts­recht behan­delt und so mehrere Praxis­än­de­rungen eingeleitet.

BGE 5A_907/2018: Die Fest­le­gung des Unter­halts zwischen zwei Eltern nach einer Schei­dung hängt davon ab, ob eine Ehe „lebens­prä­gend“ war. Bisher galt eine Ehe als lebens­prä­gend, wenn sie mehr als zehn Jahre dauerte oder Kinder aus der Ehe hervor­ge­gangen sind. 

Neu gilt dieser Auto­ma­tismus nicht mehr, sondern es muss im Einzel­fall berück­sich­tigt werden, ob die ökono­mi­sche Selbst­stän­dig­keit für die Betreuung der Kinder aufge­geben wurde und ob es der betrof­fenen Person deshalb nach der Schei­dung nicht mehr möglich ist, an die frühere beruf­liche Stel­lung anzu­knüpfen oder einer ähnli­chen Erwerbs­tätig- keit nachzugehen.

BGE 5A_104/2018: Bisher galt: Personen, die älter als 45 Jahre alt waren und vor allem unbe­zahlte Care-Arbeit gelei­stet haben, mussten nach der Schei­dung keine neue Arbeits­stelle suchen und hatten Anspruch auf Unter­halts­zah­lungen. Auch diesen Auto­ma­tismus hat das Bundes­ge­richt abgeschafft.

BGE 5A_907/2018: Wenn eine Person nach der Schei­dung nicht für ihre Ei- genver­sor­gung aufkommen kann, besteht ein Anspruch auf nach­ehe­li­chen Unter­halt. Dieser Unter­halt muss ange­messen sein und ist deshalb gemäss Bundes­ge­richt insbe­son­dere zeit­lich zu limitieren. 

Kurzum: Es besteht kein Anspruch auf lebens­läng­liche finan­zi­elle Gleich­stel­lung nach der Ehe.

BGE 5A_311/2019, BGE 5A_891/2018, BGE 5A_800/2019: Mit diesen drei Entscheiden hat das Bundes­ge­richt die verschie­denen Berech­nungs­me­thoden der Höhe des Unter­halts, die in den Kantonen zur Anwen­dung kommen, vereinheitlicht.

Wie genau führt eine Ände­rung im Unter­halts­recht zu einer Umverteilung?

Die Unter­halts­zah­lungen nach einer Schei­dung gehören zu den wenigen Mecha­nismen in der Schweiz, die versu­chen, die unbe­zahlte Care-Arbeit finan­ziell zu berück­sich­tigen. Ein anderer solcher Mecha­nismus ist die Betreu­ungs­gut­schrift in der AHV, eine Errun­gen­schaft der Frau­en­be­we­gung, welche die unbe­zahlte Care-Arbeit auch in der Sozi­al­ver­si­che­rung abbildet. 

In einem Paar­haus­halt mit zwei Kindern leisten Mütter durch­schnitt­lich 23 Stunden pro Woche mehr Betreu­ungs­ar­beit als Väter, was theo­re­tisch einem Lohn von 4249 Franken entspre­chen würde. Es ist nur fair, dass die Mutter nach der Schei­dung Geld zurück­er­hält, weil sie in dieser Zeit mit ihrer Arbeit ihrem Ehepartner eine Erwerbs­kar­riere ermög­licht hat.

Jetzt schwächt aber das Bundes­ge­richt im Unter­halts­recht einen Mecha­nismus, der diese Arbeit wert­schätzt, und somit auch das Prinzip, dass unbe­zahlte Care-Arbeit berechnet und berück­sich­tigt werden soll.

In der Schweizer Stati­stik werden Personen in Frauen und Männer aufge­teilt – non-binäre, inter und agender Personen werden also nicht als solche aufge­führt, sondern fälsch­li­cher­weise in die binäre Struktur einge­teilt. Im Fall dieses Arti­kels gilt das sowohl für die Stati­stik über die Auftei­lung von Betreu­ungs­ar­beit zwischen den Eltern­teilen sowie für die gespro­chenen Unterhaltsforderungen.

Trans Frauen und Männer fallen in die „rich­tige“ Kate­gorie, sofern sie ihren Geschlechts­ein­trag ange­passt haben. 

Was nicht vergessen werden darf: Auch non-binäre, agender und inter Personen sowie trans Männer gebären Kinder. Wir schreiben in diesem Text einfach­heits­halber über „Mütter“ und „Väter“.

Aber dem Unter­halts­recht liegt doch die patri­ar­chale Vorstel­lung der Ehe als „Vorsor­ge­insti­tu­tion“ zugrunde. Das schafft Abhän­gig­keiten, meistens von Frauen gegen­über Männern. Ist es nicht gut, dass das Bundes­ge­richt hier vorwärtsmacht?

Natür­lich kann man die Ehe als Vorsor­ge­insti­tu­tion kriti­sieren. Die Idee dahinter ist ja, dass die beiden Ehepartner unter­schied­liche Arbeiten leisten, aber die ökono­mi­schen Lasten und Risiken gemeinsam tragen. Das kann zu Abhän­gig­keiten zwischen den beiden Ehepart­nern führen, etwa wenn sich eine Frau nicht scheiden lassen kann, weil sie auf das Einkommen ihres Ehepart­ners ange­wiesen ist.

Wenn man jetzt aber einen Ausgleichs­me­cha­nismus im Namen der Gleich­stel­lung abbaut und mehr Eigen­ver­ant­wor­tung von Frauen verlangt, aber gleich­zeitig keine andere Form des Ausgleichs für gelei­stete unbe­zahlte Arbeit bietet, schiebt man die ganzen Kosten zu den Frauen. Das ist das Gegen­teil von Gleichstellung.

Diese Entwick­lung konnten wir bereits in der Vergan­gen­heit beob­achten: Seit den 1990er-Jahren nehmen die gespro­chenen Unter­halts­zah­lungen ab, ohne dass die Einkommen der geschie­denen Frauen im glei­chen Masse gestiegen sind – sie haben heute ein tieferes Haus­halts­ein­kommen als in den 1990er-Jahren. Anstatt diese bestehenden Ungleich­heiten anzu­glei­chen, spitzt das Bundes­ge­richt diese zu.

Diese Ungleich­heiten auszu­glei­chen und einen Ersatz für die wegfal­lenden Unter­halts­zah­lungen zu finden, wäre dann die Aufgabe der Politik. Ist das Bundes­ge­richts­ur­teil viel­leicht ein Weckruf für die Politik, mit der Gleich­stel­lung endlich vorwärtszumachen?

Da bin ich pessi­mi­stisch. Warum sollen genau diese Urteile jetzt die Politik dazu moti­vieren, endlich soli­da­risch mit Müttern zu sein? In der Schweiz befinden wir uns mit der Finan­zie­rung der Betreu­ungs­ar­beit inter­na­tional auf einem sehr tiefen Niveau und seit Jahren fehlt der poli­ti­sche Wille, daran etwas zu ändern.

Irgendwie scheint es zur Schweizer DNA zu gehören, dass Kinder­be­treuung Privat­sache und nicht eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Aufgabe ist. Und solange sich das nicht ändert und wir nicht bereit sind, Milli­arden zu inve­stieren, sehe ich wenig Anlass für Optimismus.

Nehmen wir aber an, der Wille wäre da. Was muss sich poli­tisch ändern?

Erstens müssen wir analog zu den Betreu­ungs­gut­schriften weitere Mecha­nismen einführen, die dazu führen, dass unbe­zahlte Care-Arbeit in den Sozi­al­ver­si­che­rungen berück­sich­tigt wird, Stich­wort Renten­lücke. Diese existiert dank den Betreu­ungs­gut­schriften zwar in der AHV kaum noch, dafür aber in der Pensionskasse. 

Und weil die AHV nicht existenz­si­chernd ist, müssen wir auch bei der Pensi­ons­kasse dafür sorgen, dass gelei­stete Betreu­ungs­ar­beit renten­bil­dend ist. Es gibt zwar den Vorsor­ge­aus­gleich in der Pensi­ons­kasse, bei einer Schei­dung werden also die Renten­gut­haben hälftig geteilt. Aber wenn die Schei­dung noch während des Berufs­le­bens statt­findet, reicht das nicht aus.

Zwei­tens brau­chen wir eine bessere Finan­zie­rung von ausserfa­mi­liären Betreu­ungs­an­ge­boten wie Tages­schulen und Kitas, die für alle bezahlbar sind und gute Arbeits­be­din­gungen für die Betreuer*innen garantieren.

Und dann braucht es eine Eltern­zeit, mit der die Gesell­schaft soli­da­risch die Betreuung der Klein­kinder finan­ziert. Aber selbst in einer idealen Welt mit all diesen Verbes­se­rungen wären die Urteile des Bundes­ge­richts nicht gerecht, weil es unbe­zahlte Betreu­ungs­ar­beit nicht als Leistung anerkennt.

Im Kanton Zürich entscheidet die Stimmbevöl­kerung am 15. Mai über eine Eltern­zeit von je 18 Wochen für Mutter und Vater. Die EKdM lehnt ein solches pari­tä­ti­sches Modell ab. Warum?

Fast alles ist besser als der Status quo und die Initia­tive bringt insge­samt mehr bezahlte Wochen, das ist natür­lich zu begrüssen. Wir von der EKdM finden aber proble­ma­tisch, dass das Zürcher Modell den Mutter­schafts­ur­laub in die 18 Wochen mitein­rechnet, was dazu führt, dass Mütter weniger von der Eltern­zeit profi­tieren als die Väter. 

Aus unserer Sicht müsste die Eltern­zeit zusätz­lich zur Mutter­schafts­ver­si­che­rung einge­führt werden, weil Letz­tere vor allem die gesund­heit­li­chen Aspekte berück­sich­tigt. Mütter sind schwanger, gebären und stillen die Kinder – sie sind mehr als Eltern. Eine pari­tä­ti­sche Eltern­zeit macht die spezi­fi­sche Erfah­rung des Mutter­wer­dens unsichtbar, weil sie diese mit dem Vater­werden gleichsetzt.

Aber würde das Modell nicht zumin­dest dazu führen, dass Väter mehr Betreu­ungs­ar­beit zu Hause übernehmen?

Die Erfah­rungen der letzten 50 Jahre lassen mich daran zwei­feln. Diese Umver­tei­lung der Betreu­ungs­ar­beit zwischen den Geschlech­tern ist ein Ziel der femi­ni­sti­schen Bewe­gung seit den 1970er-Jahren, doch bis heute ist das kaum passiert. 

Was hingegen passiert ist, ist eine Umver­tei­lung von Frauen zu Frauen – von unbe­zahlter Haus- und Betreu­ungs­ar­beit zu schlecht bezahlten Putz­kräften oder Kitamitarbeiter*innen.

Wie müsste dann die Eltern­zeit aus Ihrer Sicht ausge­staltet sein?

Wie bereits gesagt, müsste die Eltern­zeit zusätz­lich zum Mutter­schafts­ur­laub beziehbar sein. Sie müsste minde­stens ein Jahr dauern und auch nicht erwerbs­tä­tige Eltern sollten ein Recht auf Eltern­zeit haben. Weiter sollten die Wochen flexibel unter den Eltern aufteilbar und auch ein Bezug in Teil­zeit möglich sein. Die Politik muss aner­kennen, dass es sich bei der Frage, wer die Betreu­ungs­ar­beit über­nimmt, auch um eine Klas­sen­frage handelt: Paare orga­ni­sieren sich so, wie es für sie ökono­misch Sinn macht. 

Wenn sich eine Frau entscheidet, Betreu­ungs­ar­beit zu leisten und nebenbei Teil­zeit zu arbeiten, macht sie das nicht, weil sie noch nichts von der Eman­zi­pa­tion gehört hat, sondern weil das für sie und für die Familie die sinn­vollste Lösung ist, auch ökonomisch.

Studien zeigen, dass Parität vor allem der Wunsch von gut ausge­bil­deten und gutver­die­nenden Frauen ist – und für sie soll sie auch unbe­dingt möglich sein. Frauen im Nied­rig­lohn­sektor wie im Verkauf oder in der Gastro­nomie leben bereits heute häufig paritär – beide Eltern­teile müssen Voll­zeit arbeiten, um über die Runden zu kommen. 

Für sie ist das aber kein Ideal, sondern eine Zumu­tung. Sie wünschen sich mehr Zeit für die Kinder und weniger Arbeit insge­samt. Deswegen muss die unbe­zahlte Betreu­ungs­ar­beit ins Zentrum gestellt und endlich auch gesell­schaft­lich wert­ge­schätzt und bezahlt werden. 

Parität kann dann eine Konse­quenz aus der Eltern­zeit, muss aber nicht deren Ziel sein.

Dieses Inter­view ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlags­un­ab­hän­gigen Medien der Schweiz.


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