Goma: Gewalt­loser Kampf für ein Paradies

Goma ist der Regie­rung in Kongo-Kinshasa immer wieder ein Dorn im Auge. Nicht nur als Rebel­len­standort, sondern auch als Geburts­stätte der jungen Wider­stands­be­we­gung Lucha. Die pulsie­rende Stadt im Osten des Landes trotzt nicht nur mit dem alljähr­li­chen Amani-Festival ihrem tragi­schen Ruf. Mit wenigen Mitteln setzen sich junge Menschen in einem repres­siven System für ein besseres Leben in ihrer geliebten Stadt ein. Ein Erlebnisbericht. 
Mitglieder von Lucha unterschreiben die Petition für Massnahmen gegen die zunehmende Unsicherheit in Goma. (Foto: Justin Kabumba

„Also, wir leben zu fünft in einem Haus. Ich weiss nicht, ob es okay für dich ist, die sechste Person zu sein?“

„Haha, ich weiss zwar nicht, wie gross das Haus ist, ich habe jeden­falls kein Problem damit, mit vielen Leuten zusammen zu wohnen.“

„Cool, wenn das okay für dich ist, will­kommen zuhause!“

Ich bin erleich­tert, so unkom­pli­ziert über Whatsapp eine Unter­kunft für das dies­jäh­rige Amani-Festival in Goma gefunden zu haben – dank einem Bekannten in Uganda, der mich mit Faraja Batu­mike in Verbin­dung setzte. Als ich wenige Tage später an der Grenze abge­holt und in meinem tempo­rären Zuhause empfangen werde, stehe ich unmit­telbar im Geschehen für die Vorbe­rei­tungen des Festi­vals. Denn die drei Brüder – Elie, Faraja und Victoire – arbeiten an diesem Event mit. Sie sind als Foto­grafen und Video­pro­du­zenten Teil des Multi­me­dia­teams, welches von ihrem älteren Bruder Kelvin geleitet wird, und sie stehen für mehrere Shows mit ihrer Tanz­crew auf den Bühnen. Ich selbst helfe mit Über­set­zungen und Beiträgen für die Festival-Website im Kommu­ni­ka­ti­ons­team mit.

Im Haus der Batu­mikes geht es schon früh­mor­gens geschäftig zu und her. Ab halb 7 dröhnt laute Musik aus drei Ecken, denn man lebt hier Tür an Tür mit den Nachbar*innen. Es wird getanzt, gelacht und zu 2Pac gerappt, während man Zähne putzt, Kleider bügelt, das Früh­stück vorbe­reitet und jeden Morgen fein säuber­lich die Schuhe putzt. Ein gesel­liges Zusam­men­leben scheint wich­tiger als die Privat­sphäre. Die Batu­mike-Brüder kommen selbst aus einer 14-köpfigen Familie, und wer auch immer gerade im Haus ist, setzt sich zum gemein­samen Abend­essen – meist Mais­brei mit Gemü­se­sosse – zu Boden in den Kreis oder spielt FIFA auf der Play­sta­tion mit.

Die tägli­chen Probleme von Goma machen sich aber auch hier bemerkbar. Die Stadt bietet kaum Arbeits­mög­lich­keiten, und dies auch nach einem abge­schlos­senen, sehr teuren Studium. Victoire ist mit 29 Jahren der Älteste im Haus und für die Finanzen verant­wort­lich – oft ein schwie­riger Job, weil es auch gilt, die jüngeren Cousins zu unter­stützen, die noch die Schule besu­chen. Obwohl er selbst als frei­schaf­fender Berater für das WWF-Büro in Goma arbeitet, der älteste Cousin im Haus nach seinem Archi­tek­tur­stu­dium in der Haupt­stadt Kinshasa ein Bauun­ter­nehmen gegründet hat und die Cousine bei der Steu­er­be­hörde der Stadt Goma als Buch­hal­terin ange­stellt ist, sind die Ressourcen oftmals knapp.

Wie andere junge Leute, die ich in Goma kennen­lerne, haben die Batu­mikes schon früh versucht, nebst einem regu­lären Job Geld zu verdienen. Sie geben privaten Tanz­un­ter­richt für Kinder von wohl­ha­benden Fami­lien im ruan­di­schen Gisenyi, sind als Hoch­zeits­fo­to­grafen tätig und sitzen abends lange an ihren Compu­tern, um Videos zu bear­beiten oder eine Broschüre für eine NGO zu designen.

Mit solcher Eigen­in­itia­tive fördern sie zusammen mit Freund*innen und ihrem Bruder Kelvin, dem Leiter des Kivu Youth Enter­tain­ment, seit 2013 Talente in den Genres Musik, Film und Foto­grafie. „Happy in Goma“, eine Version von Phar­rell Williams‘ Hit, zählt zu einer ihrer ersten Produk­tionen. Kelvin sagt: „Goma ist mein Para­dies, die Stadt, die mich behütet und in welcher ich glück­lich bin.“

Und doch legen sich immer wieder Schatten über dieses Glück. An vielen Abenden kreist ein Heli­ko­pter der UN-Basis, die auf einem Hügel vom Haus aus zu sehen ist, mit schal­lendem Lärm über die Dächer. Schon über längere Zeit finden in Teilen der Stadt immer wieder Tötungs­de­likte und Entfüh­rungen statt, auch von Kindern. Goma liegt sehr nahe am Virunga-Natio­nal­park, von wo aus sich bewaff­nete Gruppen, unter ihnen Anhänger der FDLR (Forces Démo­cra­ti­ques de Libé­ra­tion du Rwanda), in die Stadt wagen.

Am Wochen­ende, welches auf das Amani-Festival folgt, vernehmen wir die trau­rige Nach­richt, dass im Stadt­teil Ndosho zwölf Personen von Unbe­kannten in ihrem Zuhause erschossen wurden. Die Hinter­gründe sind unklar, die Opfer wurden nicht ausgeraubt.

In einem Face­book-Post eines Bekannten lese ich: „Mehr als zwölf Personen ermordet inner­halb weniger als einer Woche, ich habe es satt. NEIN zur Unsi­cher­heit in meiner geliebten Stadt Goma und ihrer Peri­pherie, NEIN NEIN NEIN NEIN zu den Entfüh­rungen in meiner geliebten Stadt Goma und ihrer Peri­pherie. Friede in DR Kongo und in ganz Afrika. Morgen werde ich auf die Strasse gehen, um die Regie­rung in die Verant­wor­tung zu ziehen und um zu sagen: NEIN NEIN NEIN, WIR HABEN ES SATT!”

Es sind Mitglieder der revo­lu­tio­nären Bewe­gung „La lutte pour le chan­ge­ment“, kurz „Lucha“, welche die Mitbürger*innen dazu aufrufen, auf die Strasse zu gehen. Von Slam-Poet und Akti­vist John erfahre ich mehr über diese Bürger­rechts­be­we­gung, die vor allem von Student*innen und Akademiker*innen getragen wird. Von Beginn an betont er: „Lucha ist eine gewalt­freie Bewe­gung.” Zudem stehe Lucha hinter keiner Partei, ist unab­hängig – auch von inter­na­tio­nalen Insti­tu­tionen – und egalitär in ihrer Struktur.

Obwohl seine Familie und seine Freund*innen mit der Bewe­gung sympa­thi­sieren, waren sie nicht erfreut, als John, der eigent­lich anders heisst, zwei Jahre nach der Grün­dung im Jahr 2012 bei Lucha aktiv wurde: „Sie haben Angst vor der Bruta­lität, mit welcher wir bekämpft werden.” Vor allem seit Dezember 2016, als die Regie­rung unter Joseph Kabila die anste­henden Wahlen auf unbe­stimmte Zeit hinaus­zö­gerte, wurden Proteste in den Strassen Gomas gewalt­tätig nieder­ge­schlagen und viele Aktivist*innen hinter Gitter gebracht, wie eine BBC-Doku­men­ta­tion über Luchas Kampf berichtete.

Lucha wird von der Regie­rung weder aner­kannt noch geduldet. Vor allem Kabilas Regime, welches sich bis zu den Wahlen im Dezember letzten Jahres an der Macht halten konnte, hatte sich so sehr über die Staats­kassen und die Mine­ral­vor­kommen des Landes berei­chert, dass jegliche Abwei­chung vom Status quo eine Bedro­hung bedeu­tete. Luchas gewalt­freie Aktionen gegen ein drittes Mandat Kabilas haben aber trotz der Repres­sion etwas bewirkt, wie John meint: „Kabila ist nicht einfach gegangen, weil er gehen wollte. Es war der Druck der Bevöl­ke­rung. Und ich glaube, es war vor allem der Druck von Lucha.” Er fügt an: „Das war ein kleiner Sieg, aber der Kampf geht weiter. Wir leben noch nicht in der Demo­kratie, die wir uns wünschen.”

Die jungen Leute von Lucha pran­gern aber nicht nur an, sondern packen auch mit an. Einige ihrer Aktionen finden im Rahmen von salongo statt, einer sozialen Aktion, die einst von der Stadt­be­hörde ins Leben gerufen wurde: Jeden Sams­tag­morgen orga­ni­sieren sich Leute in ihren Stadt­teilen, um Strassen zu repa­rieren, Abfall zu sammeln oder Unkraut zu jäten. Lucha hat dieses System wieder zum Leben erweckt, nachdem es für lange Zeit nicht mehr prak­ti­ziert wurde. Die jungen Aktivist*innen schaffen es dadurch, einen Gross­teil der Bevöl­ke­rung in ihre sozi­al­po­li­ti­schen Debatten zu invol­vieren und sie ins Zentrum der Verän­de­rung zu rücken.

Bei der ange­kün­digten Protest­ak­tion ist die Bevöl­ke­rung jedoch wenig präsent. Um 8 Uhr morgens treffen sich Mitglieder der Bewe­gung an einer Tank­stelle in Ndosho, dem Stadt­teil mit den jüng­sten Gewalt­ver­bre­chen. Sie scheinen sich alle zu kennen, verschränken die Finger der linken Hand zum Lucha-Gruss. Während sich der Gross­teil der Gruppe auf den Weg macht, um mit einem Mega­phon weitere Leute für ihre Protest­ak­tion zu gewinnen, spreche ich mit einer Frau, die einen Stoff­laden in der Nähe unter­hält. Wie das Leben hier in Ndosho ist, will ich von ihr wissen. „Man lebt, aber man lebt nicht”, antwortet die Mutter von drei Kindern. Es sei schwierig, hier ein Geschäft aufrecht­zu­er­halten, denn um halb 7 abends sollte man zuhause sein, um nicht Gefahr zu laufen, Opfer eines Massa­kers zu werden. Die Verkäu­ferin erklärt: „Wenn es irgendwie möglich wäre, sollten hier mehr Soldaten oder Poli­zi­sten einge­setzt werden, um Sicher­heit zu schaffen.”

Der Lucha-Gruss dient vor Protest­ak­tionen dem Ener­gie­aus­tausch und dem Schutz der jeweils anderen Person. © Ben Kamuntu

Dies ist einer der konkreten Punkte, die Lucha von der Regie­rung fordert. In ihrem Memo­randum, welches an die städ­ti­sche und provin­ziale Behörde adres­siert ist, fordern sie unter anderem die Einrich­tung eines perma­nenten Rates, welcher sich mit Sicher­heits­fragen in den unsi­cheren Stadt­teilen Gomas ausein­an­der­setzt, eine Aufstockung der Sicher­heits­kräfte, sowie eine ange­mes­sene Betreuung der Fami­lien der Gewaltopfer.

Als sich die Gruppe wieder an der Tank­stelle zusam­men­findet, wird schnell klar, dass nicht viele Leute mobi­li­siert werden konnten, um für diese Anliegen mitzu­mar­schieren. Dies über­rascht die Mitglieder von Lucha jedoch nicht. Sie wissen, dass die meisten Leute hier dennoch mit ihnen sympa­thi­sieren, wie auch die Stoff­ver­käu­ferin mir gegen­über erwähnte: „Dank Lucha kann die Situa­tion viel­leicht verbes­sert werden.” Und sie verstehen die Angst der Bevöl­ke­rung, sich ihnen anzu­schliessen. Eine junge Studentin erklärt mir, dass viel Menschen denken, Lucha beizu­treten bedeute den Tod. Und so unrecht haben sie damit nicht. Laut einer Meldung von Human Rights Watch vom April 2018 haben Sicher­heits­kräfte in den letzten drei Jahren landes­weit an die 300 Leute bei solchen poli­ti­schen Demon­stra­tionen getötet.

An diesem Tag besteht jedoch Hoff­nung, dass den Demonstrant*innen mit weniger Gewalt begegnet wird, als dies unter dem Kabila-Regime der Fall war. Es ist die erste grös­sere Aktion, die Lucha in Goma unter dem neuen Präsi­denten Felix Tshise­kedi durchführt.

Obwohl die Präsenz der Polizei von der Bevöl­ke­rung oftmals als Schi­kane erlebt wird, arbeitet Lucha am Protest­marsch in Ndosho auf eine bessere Zusam­men­ar­beit mit den Sicher­heits­kräften hin, wie sie in ihrem Memo­randum kommu­ni­zieren. © Maria-Theres Schuler

Seit einer Stunde läuft der kleine Zug, dem sich mitt­ler­weile einige Kinder ange­schlossen haben, Parolen rufend und singend durch den Stadt­teil Ndosho. Kurz vor dem provin­zialen Regie­rungs­ge­bäude lösen sich die Hoff­nungen auf mehr Respekt unter dem neuen Regime in Luft auf. Poli­zi­sten formieren sich um die Prote­stie­renden und schon bald werden die ersten Aktivist*innen auf einem Pickup abge­führt. Trotz Verwar­nung foto­gra­fiere ich weiter, als sich ein Jour­na­list an einem Geländer fest­klam­mert und bald in einem weiteren Poli­zei­auto abge­führt wird. Einer der Umste­henden, die das Geschehen verfolgen, will inter­ve­nieren, doch ein Poli­zist richtet sofort sein Gewehr auf ihn.

Alle 22 Aktivist*innen werden fest­ge­nommen. Der Jour­na­list wird schon nach ein paar Stunden samt Arbeits­ma­te­rial wieder frei­ge­lassen, die Mitglieder von Lucha erst nach zwei Tagen. Sie hatten Glück — und einen guten Anwalt, denn immer wieder werden Mitglieder von Lucha für mehrere Monate wegge­sperrt. Im Hinblick auf die wach­sende Präsenz von Lucha scheinen brutale Fest­nahmen und unbe­stimmte Verwah­rung die einzige Möglich­keit der Regie­rung, eine weitere Mobi­li­sie­rung der Massen zu verhin­dern. Und was ist an zeit­auf­wän­digen Protest­ak­tionen über­haupt möglich für eine Bevöl­ke­rung, welche sich tagtäg­lich ökono­misch über Wasser zu halten versucht?

Die Aktivist*innen von Lucha geben aber keines­wegs auf. Aufgrund des Wieder­auf­flam­mens der Unsi­cher­heit und der fehlenden Reak­tionen von Seiten der Auto­ri­täten sind sie zurzeit in den Strassen Gomas unter­wegs und sammeln Unter­schriften für ihre Peti­tion, welche den Rück­tritt des Bürger­mei­sters, des Poli­zei­chefs der Provinz und des Vorge­setzten des Mili­tär­ge­richts aus ihren Ämtern verlangt. In einem näch­sten Schritt werden Bildungs­in­sti­tu­tionen und Kirchen zum Unter­schreiben der Peti­tion gebeten, bevor diese dem Präsi­denten des Landes über­geben wird.

Die meisten solcher Infor­ma­tionen erhalte ich über Social Media oder von John, der mich weiterhin über die Aktionen von Lucha auf dem Laufenden hält. Der Protesttag in Ndosho war mein letzter in Goma. Ich war traurig und wütend, dass ich keine Chance mehr hatte, mich von John zu verab­schieden, da er hinter Gittern war — bis zu meiner Abreise an einem unbe­kannten Ort.

Für mich bedeu­tete dieses Erlebnis eine abso­lute Ausnah­me­si­tua­tion, völlig aufge­löst kam ich nach der Protest­ak­tion im Haus der Batu­mikes an. Für die Anwe­senden, die eben mitten in einem Scrabble-Spiel sassen, war es eine alte Leier und sie amüsierten sich schon fast über meine Sorgen. Sehr wohl waren sie betroffen, denn sobald der Ort der Verwah­rung ihrer Freunde bekannt wurde, besuchten sie diese und erkun­digten sich nach ihrem Wohl­ergehen. Doch es gehört zu ihrem Alltag. Man kann wohl nicht in stän­diger Angst und Sorge leben, schon gar nicht in einem selbst­er­nannten Paradies.

 


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