„Also, wir leben zu fünft in einem Haus. Ich weiss nicht, ob es okay für dich ist, die sechste Person zu sein?“
„Haha, ich weiss zwar nicht, wie gross das Haus ist, ich habe jedenfalls kein Problem damit, mit vielen Leuten zusammen zu wohnen.“
„Cool, wenn das okay für dich ist, willkommen zuhause!“
Ich bin erleichtert, so unkompliziert über Whatsapp eine Unterkunft für das diesjährige Amani-Festival in Goma gefunden zu haben – dank einem Bekannten in Uganda, der mich mit Faraja Batumike in Verbindung setzte. Als ich wenige Tage später an der Grenze abgeholt und in meinem temporären Zuhause empfangen werde, stehe ich unmittelbar im Geschehen für die Vorbereitungen des Festivals. Denn die drei Brüder – Elie, Faraja und Victoire – arbeiten an diesem Event mit. Sie sind als Fotografen und Videoproduzenten Teil des Multimediateams, welches von ihrem älteren Bruder Kelvin geleitet wird, und sie stehen für mehrere Shows mit ihrer Tanzcrew auf den Bühnen. Ich selbst helfe mit Übersetzungen und Beiträgen für die Festival-Website im Kommunikationsteam mit.
Im Haus der Batumikes geht es schon frühmorgens geschäftig zu und her. Ab halb 7 dröhnt laute Musik aus drei Ecken, denn man lebt hier Tür an Tür mit den Nachbar*innen. Es wird getanzt, gelacht und zu 2Pac gerappt, während man Zähne putzt, Kleider bügelt, das Frühstück vorbereitet und jeden Morgen fein säuberlich die Schuhe putzt. Ein geselliges Zusammenleben scheint wichtiger als die Privatsphäre. Die Batumike-Brüder kommen selbst aus einer 14-köpfigen Familie, und wer auch immer gerade im Haus ist, setzt sich zum gemeinsamen Abendessen – meist Maisbrei mit Gemüsesosse – zu Boden in den Kreis oder spielt FIFA auf der Playstation mit.
Die täglichen Probleme von Goma machen sich aber auch hier bemerkbar. Die Stadt bietet kaum Arbeitsmöglichkeiten, und dies auch nach einem abgeschlossenen, sehr teuren Studium. Victoire ist mit 29 Jahren der Älteste im Haus und für die Finanzen verantwortlich – oft ein schwieriger Job, weil es auch gilt, die jüngeren Cousins zu unterstützen, die noch die Schule besuchen. Obwohl er selbst als freischaffender Berater für das WWF-Büro in Goma arbeitet, der älteste Cousin im Haus nach seinem Architekturstudium in der Hauptstadt Kinshasa ein Bauunternehmen gegründet hat und die Cousine bei der Steuerbehörde der Stadt Goma als Buchhalterin angestellt ist, sind die Ressourcen oftmals knapp.
Wie andere junge Leute, die ich in Goma kennenlerne, haben die Batumikes schon früh versucht, nebst einem regulären Job Geld zu verdienen. Sie geben privaten Tanzunterricht für Kinder von wohlhabenden Familien im ruandischen Gisenyi, sind als Hochzeitsfotografen tätig und sitzen abends lange an ihren Computern, um Videos zu bearbeiten oder eine Broschüre für eine NGO zu designen.
Mit solcher Eigeninitiative fördern sie zusammen mit Freund*innen und ihrem Bruder Kelvin, dem Leiter des Kivu Youth Entertainment, seit 2013 Talente in den Genres Musik, Film und Fotografie. „Happy in Goma“, eine Version von Pharrell Williams‘ Hit, zählt zu einer ihrer ersten Produktionen. Kelvin sagt: „Goma ist mein Paradies, die Stadt, die mich behütet und in welcher ich glücklich bin.“
Und doch legen sich immer wieder Schatten über dieses Glück. An vielen Abenden kreist ein Helikopter der UN-Basis, die auf einem Hügel vom Haus aus zu sehen ist, mit schallendem Lärm über die Dächer. Schon über längere Zeit finden in Teilen der Stadt immer wieder Tötungsdelikte und Entführungen statt, auch von Kindern. Goma liegt sehr nahe am Virunga-Nationalpark, von wo aus sich bewaffnete Gruppen, unter ihnen Anhänger der FDLR (Forces Démocratiques de Libération du Rwanda), in die Stadt wagen.
Am Wochenende, welches auf das Amani-Festival folgt, vernehmen wir die traurige Nachricht, dass im Stadtteil Ndosho zwölf Personen von Unbekannten in ihrem Zuhause erschossen wurden. Die Hintergründe sind unklar, die Opfer wurden nicht ausgeraubt.
In einem Facebook-Post eines Bekannten lese ich: „Mehr als zwölf Personen ermordet innerhalb weniger als einer Woche, ich habe es satt. NEIN zur Unsicherheit in meiner geliebten Stadt Goma und ihrer Peripherie, NEIN NEIN NEIN NEIN zu den Entführungen in meiner geliebten Stadt Goma und ihrer Peripherie. Friede in DR Kongo und in ganz Afrika. Morgen werde ich auf die Strasse gehen, um die Regierung in die Verantwortung zu ziehen und um zu sagen: NEIN NEIN NEIN, WIR HABEN ES SATT!”
Es sind Mitglieder der revolutionären Bewegung „La lutte pour le changement“, kurz „Lucha“, welche die Mitbürger*innen dazu aufrufen, auf die Strasse zu gehen. Von Slam-Poet und Aktivist John erfahre ich mehr über diese Bürgerrechtsbewegung, die vor allem von Student*innen und Akademiker*innen getragen wird. Von Beginn an betont er: „Lucha ist eine gewaltfreie Bewegung.” Zudem stehe Lucha hinter keiner Partei, ist unabhängig – auch von internationalen Institutionen – und egalitär in ihrer Struktur.
Obwohl seine Familie und seine Freund*innen mit der Bewegung sympathisieren, waren sie nicht erfreut, als John, der eigentlich anders heisst, zwei Jahre nach der Gründung im Jahr 2012 bei Lucha aktiv wurde: „Sie haben Angst vor der Brutalität, mit welcher wir bekämpft werden.” Vor allem seit Dezember 2016, als die Regierung unter Joseph Kabila die anstehenden Wahlen auf unbestimmte Zeit hinauszögerte, wurden Proteste in den Strassen Gomas gewalttätig niedergeschlagen und viele Aktivist*innen hinter Gitter gebracht, wie eine BBC-Dokumentation über Luchas Kampf berichtete.
Lucha wird von der Regierung weder anerkannt noch geduldet. Vor allem Kabilas Regime, welches sich bis zu den Wahlen im Dezember letzten Jahres an der Macht halten konnte, hatte sich so sehr über die Staatskassen und die Mineralvorkommen des Landes bereichert, dass jegliche Abweichung vom Status quo eine Bedrohung bedeutete. Luchas gewaltfreie Aktionen gegen ein drittes Mandat Kabilas haben aber trotz der Repression etwas bewirkt, wie John meint: „Kabila ist nicht einfach gegangen, weil er gehen wollte. Es war der Druck der Bevölkerung. Und ich glaube, es war vor allem der Druck von Lucha.” Er fügt an: „Das war ein kleiner Sieg, aber der Kampf geht weiter. Wir leben noch nicht in der Demokratie, die wir uns wünschen.”
Die jungen Leute von Lucha prangern aber nicht nur an, sondern packen auch mit an. Einige ihrer Aktionen finden im Rahmen von salongo statt, einer sozialen Aktion, die einst von der Stadtbehörde ins Leben gerufen wurde: Jeden Samstagmorgen organisieren sich Leute in ihren Stadtteilen, um Strassen zu reparieren, Abfall zu sammeln oder Unkraut zu jäten. Lucha hat dieses System wieder zum Leben erweckt, nachdem es für lange Zeit nicht mehr praktiziert wurde. Die jungen Aktivist*innen schaffen es dadurch, einen Grossteil der Bevölkerung in ihre sozialpolitischen Debatten zu involvieren und sie ins Zentrum der Veränderung zu rücken.
Bei der angekündigten Protestaktion ist die Bevölkerung jedoch wenig präsent. Um 8 Uhr morgens treffen sich Mitglieder der Bewegung an einer Tankstelle in Ndosho, dem Stadtteil mit den jüngsten Gewaltverbrechen. Sie scheinen sich alle zu kennen, verschränken die Finger der linken Hand zum Lucha-Gruss. Während sich der Grossteil der Gruppe auf den Weg macht, um mit einem Megaphon weitere Leute für ihre Protestaktion zu gewinnen, spreche ich mit einer Frau, die einen Stoffladen in der Nähe unterhält. Wie das Leben hier in Ndosho ist, will ich von ihr wissen. „Man lebt, aber man lebt nicht”, antwortet die Mutter von drei Kindern. Es sei schwierig, hier ein Geschäft aufrechtzuerhalten, denn um halb 7 abends sollte man zuhause sein, um nicht Gefahr zu laufen, Opfer eines Massakers zu werden. Die Verkäuferin erklärt: „Wenn es irgendwie möglich wäre, sollten hier mehr Soldaten oder Polizisten eingesetzt werden, um Sicherheit zu schaffen.”
Dies ist einer der konkreten Punkte, die Lucha von der Regierung fordert. In ihrem Memorandum, welches an die städtische und provinziale Behörde adressiert ist, fordern sie unter anderem die Einrichtung eines permanenten Rates, welcher sich mit Sicherheitsfragen in den unsicheren Stadtteilen Gomas auseinandersetzt, eine Aufstockung der Sicherheitskräfte, sowie eine angemessene Betreuung der Familien der Gewaltopfer.
Als sich die Gruppe wieder an der Tankstelle zusammenfindet, wird schnell klar, dass nicht viele Leute mobilisiert werden konnten, um für diese Anliegen mitzumarschieren. Dies überrascht die Mitglieder von Lucha jedoch nicht. Sie wissen, dass die meisten Leute hier dennoch mit ihnen sympathisieren, wie auch die Stoffverkäuferin mir gegenüber erwähnte: „Dank Lucha kann die Situation vielleicht verbessert werden.” Und sie verstehen die Angst der Bevölkerung, sich ihnen anzuschliessen. Eine junge Studentin erklärt mir, dass viel Menschen denken, Lucha beizutreten bedeute den Tod. Und so unrecht haben sie damit nicht. Laut einer Meldung von Human Rights Watch vom April 2018 haben Sicherheitskräfte in den letzten drei Jahren landesweit an die 300 Leute bei solchen politischen Demonstrationen getötet.
An diesem Tag besteht jedoch Hoffnung, dass den Demonstrant*innen mit weniger Gewalt begegnet wird, als dies unter dem Kabila-Regime der Fall war. Es ist die erste grössere Aktion, die Lucha in Goma unter dem neuen Präsidenten Felix Tshisekedi durchführt.
Seit einer Stunde läuft der kleine Zug, dem sich mittlerweile einige Kinder angeschlossen haben, Parolen rufend und singend durch den Stadtteil Ndosho. Kurz vor dem provinzialen Regierungsgebäude lösen sich die Hoffnungen auf mehr Respekt unter dem neuen Regime in Luft auf. Polizisten formieren sich um die Protestierenden und schon bald werden die ersten Aktivist*innen auf einem Pickup abgeführt. Trotz Verwarnung fotografiere ich weiter, als sich ein Journalist an einem Geländer festklammert und bald in einem weiteren Polizeiauto abgeführt wird. Einer der Umstehenden, die das Geschehen verfolgen, will intervenieren, doch ein Polizist richtet sofort sein Gewehr auf ihn.
Alle 22 Aktivist*innen werden festgenommen. Der Journalist wird schon nach ein paar Stunden samt Arbeitsmaterial wieder freigelassen, die Mitglieder von Lucha erst nach zwei Tagen. Sie hatten Glück — und einen guten Anwalt, denn immer wieder werden Mitglieder von Lucha für mehrere Monate weggesperrt. Im Hinblick auf die wachsende Präsenz von Lucha scheinen brutale Festnahmen und unbestimmte Verwahrung die einzige Möglichkeit der Regierung, eine weitere Mobilisierung der Massen zu verhindern. Und was ist an zeitaufwändigen Protestaktionen überhaupt möglich für eine Bevölkerung, welche sich tagtäglich ökonomisch über Wasser zu halten versucht?
Die Aktivist*innen von Lucha geben aber keineswegs auf. Aufgrund des Wiederaufflammens der Unsicherheit und der fehlenden Reaktionen von Seiten der Autoritäten sind sie zurzeit in den Strassen Gomas unterwegs und sammeln Unterschriften für ihre Petition, welche den Rücktritt des Bürgermeisters, des Polizeichefs der Provinz und des Vorgesetzten des Militärgerichts aus ihren Ämtern verlangt. In einem nächsten Schritt werden Bildungsinstitutionen und Kirchen zum Unterschreiben der Petition gebeten, bevor diese dem Präsidenten des Landes übergeben wird.
Die meisten solcher Informationen erhalte ich über Social Media oder von John, der mich weiterhin über die Aktionen von Lucha auf dem Laufenden hält. Der Protesttag in Ndosho war mein letzter in Goma. Ich war traurig und wütend, dass ich keine Chance mehr hatte, mich von John zu verabschieden, da er hinter Gittern war — bis zu meiner Abreise an einem unbekannten Ort.
Für mich bedeutete dieses Erlebnis eine absolute Ausnahmesituation, völlig aufgelöst kam ich nach der Protestaktion im Haus der Batumikes an. Für die Anwesenden, die eben mitten in einem Scrabble-Spiel sassen, war es eine alte Leier und sie amüsierten sich schon fast über meine Sorgen. Sehr wohl waren sie betroffen, denn sobald der Ort der Verwahrung ihrer Freunde bekannt wurde, besuchten sie diese und erkundigten sich nach ihrem Wohlergehen. Doch es gehört zu ihrem Alltag. Man kann wohl nicht in ständiger Angst und Sorge leben, schon gar nicht in einem selbsternannten Paradies.
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