Seit die Klimastreiks zum ersten Mal die Öffentlichkeit erreichten, melden sich auch die Gegner*innen der Bewegung immer wieder lautstark zu Wort: Mit Argumenten, welche die Klimajugend und andere verantwortungsbewusste Menschen als Heuchler*innen entblössen sollen, ziehen sie durch soziale Medien und Kommentarspalten. Der eigene Lebensstil hingegen wird dabei mit kläglichen Argumenten zurechtgebogen. Damit möglichst viel so bleibt, wie es ist. Letzte Woche schrieb Alexandra Tiefenbacher in diesem Artikel über die häufigsten Entblössungsversuche und wieso sie nichts taugen.
Warum sind diese Pippi Langstrumpfs, die sich die Welt so zurechtmachen, wie sie ihnen grad gefällt, in der Überzahl? Weshalb sind es die umweltbewussten und verzichtbereiten Gretas dieser Welt, die sich für ihr Verhalten rechtfertigen müssen? Und: Was kann mensch dagegen tun?
Kognitive Dissonanz: Wenn man sich die Welt so macht, wie sie einem gefällt
Pippi Langstrumpfs gibt es überall. Es gibt Pippis mit oder ohne Uniabschluss, es gibt Pippis im rechten und im linken Lager und aus unterschiedlichen soziokulturellen Milieus. Solche Pippi Langstrumpfs, das sind manchmal auch du und ich. Eine neue Studie der Universitäten St. Andrews und Graz zeigt auf, dass auch Ethikprofessor*innen in den meisten normativen Fragen kaum moralischer handeln als andere Wissenschaftler*innen.
Es gibt eine relativ simple psychologische Erklärung dafür, warum und wie Menschen ihr wissentlich falsches Handeln rechtfertigen. „Kognitive Dissonanz ist ein unangenehmer Spannungszustand, der eintritt, wenn unser Verhalten nicht mit unseren Werten übereinstimmt bzw. wenn zwei Werte sich widersprechen“, sagt Karen Hamann, Umweltpsychologin an der Universität Koblenz-Landau, gegenüber das Lamm. Da diese Spannungen als unangenehm empfunden werden, haben wir Menschen Strategien entwickelt, wie man diese auflösen kann.
Ein Beispiel: Eine Raucherin erfährt aus einer neuen wissenschaftlichen Studie, welche negativen Folgen der regelmässige Tabakkonsum auf ihre Lebenserwartung hat. So entsteht ein Spannungszustand zwischen Information und Handlung: weil sie jetzt weiss, dass der Wunsch, gesund zu bleiben und die Handlung „Rauchen“ unvereinbar sind. Auflösen lässt sich die Spannung mit einem gedanklichen Verweis auf die Grossmutter, die ja schliesslich auch geraucht hat – und trotzdem alt wurde.
Kognitive Dissonanz und Klimakrise gehen Hand in Hand
Auch eine Person, die über die Konsequenzen eines Fluges auf die Malediven aufgeklärt wird, kann an diesem unangenehmen Spannungszustand leiden, wenn Umweltschutz einer ihrer Werte ist. Die eigene Handlung stimmt nun nicht mehr mit dem Wissen über die (globalen und negativen) Konsequenzen ebendieser Handlung überein. Dieser Spannungszustand kann folgendermassen aufgelöst werden:
- Er*sie denkt: „Hmm, moment mal, ist ja voll true!“ Storniert den Flug und reist stattdessen für zwei Wochen an die ligurische Küste, wo es auch Strand gibt und man auch ohne Flugzeug hinkommt. Das zugrundeliegende Problem wird durch die Anpassung der Handlung gelöst.
- Er*sie denkt: „Stimmt, das Klima ist mir schon auch wichtig, nur kann ich das Klima alleine ja nicht retten, und Fliegen ist ja eh nur für einen Bruchteil der weltweiten Emissionen verantwortlich.“ Diesen und ähnlichen Argumenten folgen auch andere Ausreden und Scheinlösungen. Dabei wird nicht das Argument selbst, sondern die eigene Verantwortung relativiert. Die Spannungsreduktion geschieht hier, indem Information abgewertet oder umgedeutet wird.
- Er*sie denkt: „Das stimmt. Wobei: Andere Leute essen dafür jeden Tag Fleisch und fahren Auto. Ich als veganer Fahrradfahrer darf dafür in anderen Bereichen mehr CO2 produzieren.“ Auch dies ist eine Ausrede, dabei wird der Widerspruch zwischen Verhalten und Einstellung mit einem sozialen Vergleich kleingemacht.
Alle diese Reaktionen lösen die unangenehme kognitive Dissonanz auf. Jeder Mensch hat die freie Wahl, zwischen diesen Optionen zu entscheiden. Jedoch sind manche Kognitionen leichter zu ändern als andere. Da es sehr schwer ist, die eigenen Gewohnheiten zu ändern, greift der Mensch häufig auf die Reaktion zurück, die am wenigsten Aufwand verursacht. Und letztere beiden Optionen sind meistens mit weniger Aufwand verbunden als die erste. Informationen über den Klimawandel verursachen zudem Schmerz und Angst – und es ist daher natürlich, diese(n) lindern zu wollen.
Es gibt weitere Gründe, warum Menschen sehr häufig mit Ausreden und Scheinlösungen auf kognitive Dissonanzen reagieren. „Menschen finden Ausreden, weil es ihnen von ihrem Umfeld einfach gemacht wird“, sagt die Umweltpsychologin Hamann. „Wenn meine Nachbarin sich für den Kohleausstieg ausspricht, aber selbst keinen Ökostrom bezieht, beeinflusst mich das immens in meinem eigenen Verhalten. Ihr Verhalten ist dabei die beste Rechtfertigung, selbst auch inkonsistent zu sein.“ Inkonsistenzen in sozialen Normen tragen deshalb auch zur Auflösung der eigenen kognitiven Dissonanz bei, ohne dass sich Verhalten ändert. Kognitive Dissonanzen können nicht alles erklären. Denn das menschliche Handeln wird nicht nur von Werten geleitet, sondern auch von den Meinungen und dem Verhalten anderer sowie von sozialen Gruppenzugehörigkeiten, so Hamann.
Kognitive Dissonanzen gehören zum Leben
Klar ist: Es gibt wohl keinen Menschen, der sich jederzeit moralisch richtig verhält. Es ist fast unmöglich, sich ausschliesslich vegan, strikt lokal, saisonal und bio zu ernähren, dabei keinen Abfall zu produzieren, auf jegliche Mobilität zu verzichten, nur Secondhand-Kleider zu tragen, in einer 5‑Quadratmeter-Kammer zu hausen und keine elektronischen Geräte zu benutzen. Das asketische Leben von Diogenes im Fass sollte und muss auch nicht das erstrebenswerte Ideal sein.
Vielmehr gehören kognitive Dissonanzen und Widersprüche zum Leben. Wir tragen nicht nur einen Wert, sondern viele verschiedene Werte in uns, sagt die Psychologin. Je nach Situation können sich diese widersprechen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich diese Ziel- und Wertekonflikte. Etwa bei den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030, wenn sich das Ziel der nachhaltigen Stadtentwicklung mit dem Ziel des Wirtschaftswachstums widerspricht, so Hamann.
Wege aus der Falle: Wie werden Pippis zu Gretas?
Was tun? Wie geht man mit den mühseligen, eingangs erwähnten Diskussionen und mit dem eigenen Erleben von kognitiver Dissonanz um? Für Karen Hamann, die sich im Vorstand des Wandelwerk e.V. auch für Psychologie im Umweltschutz einsetzt, spielen folgende Lösungsansätze eine wichtige Rolle:
- Selbstwirksamkeit fördern: Viele Menschen reden die Klimakrise klein, statt ihr Verhalten zu ändern – da sie nicht glauben, dass sie etwas bewirken können. Selbstwirksamkeitserfahrungen können Menschen das Gefühl geben, dass es Lösungen für Klimaprobleme gibt und dass diese auch machbar sind. In einer Gruppe zu handeln, beispielsweise in einem Demonstrationsumzug, in der Schule oder mit der ganzen Familie, kann dabei die Annahme stärken, etwas bewegen zu können.
- In Diskussionen die Beziehung zum Gegenüber reflektieren: Es ist wichtig, zu Personen im nahen Umfeld trotz möglicher Differenzen eine positive Beziehung aufrechtzuerhalten. Eine Grundlage ist dabei die bedingungslose Wertschätzung der anderen Person. Zugleich kann man jedoch deutlich machen, dass man einige Verhaltensweisen kritisiert. Auch wenn wir in unserem direkten Umfeld nicht missionieren wollen, kann darüber hinaus unser eigenes umweltfreundliches Verhalten für die Person ein wichtiger und bedeutungsvoller Anker sein.
- Auch kleine Schritte bewirken viel: Als klimaverantwortlich Handelnde*r ist es wichtig, sachlich zu argumentieren. Damit können Befürworter*innen gewonnen werden, die sich sonst konform zur Mehrheit nicht nachhaltig verhalten. Mit dem Argument konfrontiert, dass Sojaprodukte auch aus dem Regenwald kommen und damit keinen Deut besser sind, kann man zunächst mit zwei validen Quellen belegen, wie viel Soja-Verbrauch für die Fleischproduktion bestimmt ist und darstellen, dass biologisch zertifiziertes Soja in den meisten Fällen aus Europa stammt. Das Gegenüber wird daraufhin nicht sofort seine Meinung ändern, da Minderheiteneinflüsse ihre Wirkung erst langsam entfalten. Ein erster Schritt ist jedoch getan.
Der Kampf gegen die einfache Auflösung der kognitiven Dissonanzen ist lang und hart. Es ist anspruchsvoll, den inneren Schweinehund zu überwinden: wenn es darum geht, mit dem Rauchen aufzuhören – und erst recht, wenn es darum geht, moralisch korrekt und zukunftsfähig zu handeln.
In der Diskussion um die Klimakrise ist die falsche Auflösung von kognitiver Dissonanz jedoch fatal. Hier betreffen die Auswirkungen unseres Handelns nicht nur die eigene Lunge, sondern die des ganzen Planeten.
Als korrekt Handelnde*r tut man deshalb gut daran, nicht aufzugeben. Denn gesellschaftliche Veränderungen beginnen immer im Kleinen. Potenziell reichen bereits 3–5% Beteiligte, um eine gesellschaftliche Veränderung anzustossen. Greta und die Klimajugend haben den Anfang gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass sich ihnen möglichst bald möglichst viele Weitere anschliessen.
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