Greta oder Pippi? Warum sich viele Menschen die Welt so machen, wie sie ihnen gefällt

In der Debatte um die Klima­krise werden viele mora­lisch korrekt handelnde Menschen mit faden­schei­nigen Argu­menten als schein­heilig und heuch­le­risch abge­kan­zelt. Die Umwelt­psy­cho­login Karen Hamann erklärt, woran das liegt – und wie man dagegen vorgehen kann. 
Vielleicht denkt er gerade darüber nach, dass er das Klima eh nicht alleine retten kann. (Foto: Jeshoots / Unsplash)

Seit die Klima­streiks zum ersten Mal die Öffent­lich­keit erreichten, melden sich auch die Gegner*innen der Bewe­gung immer wieder laut­stark zu Wort: Mit Argu­menten, welche die Klima­ju­gend und andere verant­wor­tungs­be­wusste Menschen als Heuchler*innen entblössen sollen, ziehen sie durch soziale Medien und Kommen­tar­spalten. Der eigene Lebens­stil hingegen wird dabei mit kläg­li­chen Argu­menten zurecht­ge­bogen. Damit möglichst viel so bleibt, wie es ist. Letzte Woche schrieb Alex­andra Tiefen­ba­cher in diesem Artikel über die häufig­sten Entblös­sungs­ver­suche und wieso sie nichts taugen.

Warum sind diese Pippi Lang­strumpfs, die sich die Welt so zurecht­ma­chen, wie sie ihnen grad gefällt, in der Über­zahl? Weshalb sind es die umwelt­be­wussten und verzicht­be­reiten Gretas dieser Welt, die sich für ihr Verhalten recht­fer­tigen müssen? Und: Was kann mensch dagegen tun?

Kogni­tive Disso­nanz: Wenn man sich die Welt so macht, wie sie einem gefällt

Pippi Lang­strumpfs gibt es überall. Es gibt Pippis mit oder ohne Uniab­schluss, es gibt Pippis im rechten und im linken Lager und aus unter­schied­li­chen sozio­kul­tu­rellen Milieus. Solche Pippi Lang­strumpfs, das sind manchmal auch du und ich. Eine neue Studie der Univer­si­täten St. Andrews und Graz zeigt auf, dass auch Ethikprofessor*innen in den meisten norma­tiven Fragen kaum mora­li­scher handeln als andere Wissenschaftler*innen.

Es gibt eine relativ simple psycho­lo­gi­sche Erklä­rung dafür, warum und wie Menschen ihr wissent­lich falsches Handeln recht­fer­tigen. „Kogni­tive Disso­nanz ist ein unan­ge­nehmer Span­nungs­zu­stand, der eintritt, wenn unser Verhalten nicht mit unseren Werten über­ein­stimmt bzw. wenn zwei Werte sich wider­spre­chen“, sagt Karen Hamann, Umwelt­psy­cho­login an der Univer­sität Koblenz-Landau, gegen­über das Lamm. Da diese Span­nungen als unan­ge­nehm empfunden werden, haben wir Menschen Stra­te­gien entwickelt, wie man diese auflösen kann.

Ein Beispiel: Eine Raucherin erfährt aus einer neuen wissen­schaft­li­chen Studie, welche nega­tiven Folgen der regel­mäs­sige Tabak­konsum auf ihre Lebens­er­war­tung hat. So entsteht ein Span­nungs­zu­stand zwischen Infor­ma­tion und Hand­lung: weil sie jetzt weiss, dass der Wunsch, gesund zu bleiben und die Hand­lung „Rauchen“ unver­einbar sind. Auflösen lässt sich die Span­nung mit einem gedank­li­chen Verweis auf die Gross­mutter, die ja schliess­lich auch geraucht hat – und trotzdem alt wurde.

Kogni­tive Disso­nanz und Klima­krise gehen Hand in Hand

Auch eine Person, die über die Konse­quenzen eines Fluges auf die Male­diven aufge­klärt wird, kann an diesem unan­ge­nehmen Span­nungs­zu­stand leiden, wenn Umwelt­schutz einer ihrer Werte ist. Die eigene Hand­lung stimmt nun nicht mehr mit dem Wissen über die (globalen und nega­tiven) Konse­quenzen eben­dieser Hand­lung überein. Dieser Span­nungs­zu­stand kann folgen­der­massen aufge­löst werden:

  • Er*sie denkt: „Hmm, moment mal, ist ja voll true!“ Stor­niert den Flug und reist statt­dessen für zwei Wochen an die ligu­ri­sche Küste, wo es auch Strand gibt und man auch ohne Flug­zeug hinkommt. Das zugrun­de­lie­gende Problem wird durch die Anpas­sung der Hand­lung gelöst.
  • Er*sie denkt: „Stimmt, das Klima ist mir schon auch wichtig, nur kann ich das Klima alleine ja nicht retten, und Fliegen ist ja eh nur für einen Bruch­teil der welt­weiten Emis­sionen verant­wort­lich.“ Diesen und ähnli­chen Argu­menten folgen auch andere Ausreden und Schein­lö­sungen. Dabei wird nicht das Argu­ment selbst, sondern die eigene Verant­wor­tung rela­ti­viert. Die Span­nungs­re­duk­tion geschieht hier, indem Infor­ma­tion abge­wertet oder umge­deutet wird.
  • Er*sie denkt: „Das stimmt. Wobei: Andere Leute essen dafür jeden Tag Fleisch und fahren Auto. Ich als veganer Fahr­rad­fahrer darf dafür in anderen Berei­chen mehr CO2 produ­zieren.“ Auch dies ist eine Ausrede, dabei wird der Wider­spruch zwischen Verhalten und Einstel­lung mit einem sozialen Vergleich kleingemacht.

Alle diese Reak­tionen lösen die unan­ge­nehme kogni­tive Disso­nanz auf. Jeder Mensch hat die freie Wahl, zwischen diesen Optionen zu entscheiden. Jedoch sind manche Kogni­tionen leichter zu ändern als andere. Da es sehr schwer ist, die eigenen Gewohn­heiten zu ändern, greift der Mensch häufig auf die Reak­tion zurück, die am wenig­sten Aufwand verur­sacht. Und letz­tere beiden Optionen sind meistens mit weniger Aufwand verbunden als die erste. Infor­ma­tionen über den Klima­wandel verur­sa­chen zudem Schmerz und Angst – und es ist daher natür­lich, diese(n) lindern zu wollen.

Es gibt weitere Gründe, warum Menschen sehr häufig mit Ausreden und Schein­lö­sungen auf kogni­tive Disso­nanzen reagieren. „Menschen finden Ausreden, weil es ihnen von ihrem Umfeld einfach gemacht wird“, sagt die Umwelt­psy­cho­login Hamann. „Wenn meine Nach­barin sich für den Kohle­aus­stieg ausspricht, aber selbst keinen Ökostrom bezieht, beein­flusst mich das immens in meinem eigenen Verhalten. Ihr Verhalten ist dabei die beste Recht­fer­ti­gung, selbst auch inkon­si­stent zu sein.“ Inkon­si­stenzen in sozialen Normen tragen deshalb auch zur Auflö­sung der eigenen kogni­tiven Disso­nanz bei, ohne dass sich Verhalten ändert. Kogni­tive Disso­nanzen können nicht alles erklären. Denn das mensch­liche Handeln wird nicht nur von Werten geleitet, sondern auch von den Meinungen und dem Verhalten anderer sowie von sozialen Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keiten, so Hamann.

Kogni­tive Disso­nanzen gehören zum Leben

Klar ist: Es gibt wohl keinen Menschen, der sich jeder­zeit mora­lisch richtig verhält. Es ist fast unmög­lich, sich ausschliess­lich vegan, strikt lokal, saisonal und bio zu ernähren, dabei keinen Abfall zu produ­zieren, auf jegliche Mobi­lität zu verzichten, nur Second­hand-Kleider zu tragen, in einer 5‑Qua­drat­meter-Kammer zu hausen und keine elek­tro­ni­schen Geräte zu benutzen. Das aske­ti­sche Leben von Diogenes im Fass sollte und muss auch nicht das erstre­bens­werte Ideal sein.

Viel­mehr gehören kogni­tive Disso­nanzen und Wider­sprüche zum Leben. Wir tragen nicht nur einen Wert, sondern viele verschie­dene Werte in uns, sagt die Psycho­login. Je nach Situa­tion können sich diese wider­spre­chen. Auch auf gesell­schaft­li­cher Ebene zeigen sich diese Ziel- und Werte­kon­flikte. Etwa bei den Nach­hal­tig­keits­zielen der Agenda 2030, wenn sich das Ziel der nach­hal­tigen Stadt­ent­wick­lung mit dem Ziel des Wirt­schafts­wachs­tums wider­spricht, so Hamann.

Wege aus der Falle: Wie werden Pippis zu Gretas?

Was tun? Wie geht man mit den mühse­ligen, eingangs erwähnten Diskus­sionen und mit dem eigenen Erleben von kogni­tiver Disso­nanz um? Für Karen Hamann, die sich im Vorstand des Wandel­werk e.V. auch für Psycho­logie im Umwelt­schutz einsetzt, spielen folgende Lösungs­an­sätze eine wich­tige Rolle:

  • Selbst­wirk­sam­keit fördern: Viele Menschen reden die Klima­krise klein, statt ihr Verhalten zu ändern – da sie nicht glauben, dass sie etwas bewirken können. Selbst­wirk­sam­keits­er­fah­rungen können Menschen das Gefühl geben, dass es Lösungen für Klima­pro­bleme gibt und dass diese auch machbar sind. In einer Gruppe zu handeln, beispiels­weise in einem Demon­stra­ti­ons­umzug, in der Schule oder mit der ganzen Familie, kann dabei die Annahme stärken, etwas bewegen zu können.
  • In Diskus­sionen die Bezie­hung zum Gegen­über reflek­tieren: Es ist wichtig, zu Personen im nahen Umfeld trotz mögli­cher Diffe­renzen eine posi­tive Bezie­hung aufrecht­zu­er­halten. Eine Grund­lage ist dabei die bedin­gungs­lose Wert­schät­zung der anderen Person. Zugleich kann man jedoch deut­lich machen, dass man einige Verhal­tens­weisen kriti­siert. Auch wenn wir in unserem direkten Umfeld nicht missio­nieren wollen, kann darüber hinaus unser eigenes umwelt­freund­li­ches Verhalten für die Person ein wich­tiger und bedeu­tungs­voller Anker sein.
  • Auch kleine Schritte bewirken viel: Als klima­ver­ant­wort­lich Handelnde*r ist es wichtig, sach­lich zu argu­men­tieren. Damit können Befürworter*innen gewonnen werden, die sich sonst konform zur Mehr­heit nicht nach­haltig verhalten. Mit dem Argu­ment konfron­tiert, dass Soja­pro­dukte auch aus dem Regen­wald kommen und damit keinen Deut besser sind, kann man zunächst mit zwei validen Quellen belegen, wie viel Soja-Verbrauch für die Fleisch­pro­duk­tion bestimmt ist und darstellen, dass biolo­gisch zerti­fi­ziertes Soja in den meisten Fällen aus Europa stammt. Das Gegen­über wird daraufhin nicht sofort seine Meinung ändern, da Minder­hei­ten­ein­flüsse ihre Wirkung erst langsam entfalten. Ein erster Schritt ist jedoch getan.

Der Kampf gegen die einfache Auflö­sung der kogni­tiven Disso­nanzen ist lang und hart. Es ist anspruchs­voll, den inneren Schwei­ne­hund zu über­winden: wenn es darum geht, mit dem Rauchen aufzu­hören – und erst recht, wenn es darum geht, mora­lisch korrekt und zukunfts­fähig zu handeln.

In der Diskus­sion um die Klima­krise ist die falsche Auflö­sung von kogni­tiver Disso­nanz jedoch fatal. Hier betreffen die Auswir­kungen unseres Handelns nicht nur die eigene Lunge, sondern die des ganzen Planeten.

Als korrekt Handelnde*r tut man deshalb gut daran, nicht aufzu­geben. Denn gesell­schaft­liche Verän­de­rungen beginnen immer im Kleinen. Poten­ziell reichen bereits 3–5% Betei­ligte, um eine gesell­schaft­liche Verän­de­rung anzu­stossen. Greta und die Klima­ju­gend haben den Anfang gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass sich ihnen möglichst bald möglichst viele Weitere anschliessen.


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