Das Lamm: Hernâni Marques, welche technischen Möglichkeiten stehen Betreiber*innen von Überwachungskameras heute zur Verfügung?
Hernâni Marques: Man muss hierbei zwei Ansätze unterscheiden. Der erste Ansatz ist es, jemand Bestimmtes zu suchen, etwa Terrorist*innen. Deren Daten können dann in das System eingespeist werden, um die Personen ausfindig zu machen. Das funktioniert mit einer recht guten Übereinstimmungswahrscheinlichkeit. Wenn man genau weiss, wen man sucht, dann ist es relativ einfach, diese Person auch zu finden — sofern sie sich im Wissen darum nicht bemüht, sich zu verschleiern. Eine leichte Maskierung kann bereits reichen, um sich den Suchmustern zu entziehen.
Und der zweite Ansatz?
Der andere Ansatz ist derjenige der Massenüberwachung: das Suchen nach Mustern, also etwa Leuten, die ein wenig links oder rechts aussehen. Das funktioniert jedoch noch erstaunlich schlecht. Denn diese programmierten Muster dürfen weder zu genau noch zu ungenau sein. Hier liegt das Problem: Es gibt immer entweder zu viele falsch positive – oder zu wenig Treffer.
Flächendeckende Massenüberwachung ist also technisch noch nicht möglich, und eine gesetzliche Grundlage ist auch nicht vorhanden. Also alles gut?
Nein, natürlich nicht. Die massive Zunahme der Videoüberwachung im öffentlichen Raum ist ein weiteres Puzzlestück des flächendeckenden Überwachungsapparats. Es gibt mittlerweile kaum mehr einen Bereich, in dem man sich mit Sicherheit unbeobachtet bewegen kann. Das ist ein Problem. Man sollte dringend einmal die Grundsatzfrage stellen, was noch freiheitlich ist daran, jederzeit beschattet zu werden. Um es zynisch zu sagen: Früher hat man sich wenigstens noch die Mühe gegeben, den Leuten verdeckt zu folgen. Heute passiert das alles automatisch – und vor den Augen der Öffentlichkeit.
Weshalb ist das denn ein Problem? Ich habe nichts zu verbergen, und der Schweizer Staat ist ja vergleichsweise vertrauenswürdig.
In der Vergangenheit hat man schon versagt in der Schweiz. Man denke nur an die Fichen-Affäre. Ich sehe keinen Grund zur Annahme, dass es jetzt besser ist. Dieser Staat hat keinen Vertrauensvorsprung verdient. Und wenn man bedenkt, dass man in der Schweiz eigentlich kaum ein Problem mit Kriminalität hat, ist das Ausmass der betriebenen Überwachung schon sehr fragwürdig. Ich erwarte, dass innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre mehrere Skandale ans Tageslicht kommen werden. Immer wenn sich irgendwo derart viele Daten sammeln, passiert etwas. Mindestens Pannen sind zu erwarten.
Wenn wir jetzt trotzdem davon ausgehen, dass die Daten bei den Zürcher Verkehrsbetrieben (ZVV) und Co. vertraulich und entsprechend den Vorgaben behandelt werden: Heisst das, dass unsere Daten sicher sind? Sind die unknackbar für Unbefugte?
Technisch ist es sicher möglich, darauf zuzugreifen. Da kann man noch so lange sagen, dass es rechtliche Vorschriften dafür gibt, wer das Videomaterial ansehen darf und wer nicht.
Also konkret: Können Hacker*innen auf die Videobilder der Kameras am Zürcher Central zugreifen?
Ja, sicher. Solche Daten sind kaum abzusichern. Also wenn jemand mit den entsprechenden Fähigkeiten Lust hat, mal zu sehen, was da so läuft, dann ist das nicht so eine grosse Sache. Und auch beim Zugriff auf allfällige Datenspeicher geht es nicht darum, ob das möglich ist, sondern darum, wieviel Aufwand ein*e Angreifer*in gewillt ist, auf sich zu nehmen. Es ist wichtig, den Leuten immer wieder klar zu machen, dass sich die IT-Landschaft in einem desolaten Zustand befindet. Beim Chaos Computer Club haben wir noch alte Hefte aus den 80er Jahren rumliegen, der Anfangszeit des Internets. „Datenschleuder“ heissen die. Darin haben Leute Texte darüber veröffentlicht, was sie grad alles gehackt haben. Man war euphorisch, das war ein richtiges Eldorado. Und heute sind wir wieder am genau gleichen Punkt angelangt. Es ist eine Katastrophe.
Also sind wir alle naiv?
Ja. Wir speichern immer mehr persönliche Daten – und das auf Systemen, die gar niemand im Griff hat. In die Grundlagen der IT wird nicht investiert, stattdessen werden immer mehr Geräte ans Internet angeschlossen. Mit einem Laptop am Hauptbahnhof könnte man all die Daten, die dort erhoben werden, einfach so absaugen. Das ist absurd.
Aber sind denn all diese Kameras mit dem Internet verbunden?
Nicht alle, aber viele haben eine IP-Adresse, und dann kann man die Geräte anzapfen. Es sind ja auch schon völlig skurrile Dinge passiert. In Deutschland hat mal eine Gruppe unglaublich viele Kameras, so im Hunderttausender Bereich, angezapft – und die dann verwendet, um Angriffe auf Websites auszuüben. Also man könnte mit Überwachungskameras theoretisch Angriffe auf das E‑Voting ausüben. Das ist völlig absurd, skurril, und niemand versteht das – aber es funktioniert trotzdem.
Kameras sind ja trotzdem nur die Spitze des Eisbergs. Wie sieht es den eigentlich etwa mit Handys aus, die ja konstant Daten sammeln?
Handys können ganz einfach als Mittel der Überwachung eingesetzt werden, etwa für die Standortermittlung, aber auch als Wanzen, welche die Umgebungsgeräusche aufzeichnen. Es gibt einen guten Grund dafür, dass die Bundesrät*innen bei Sitzungen ihr Handy nicht mit ins Sitzungszimmer nehmen. (lacht) Und das sind ja auch eher die Leute, die solche Praktiken vorantreiben. Die ganze Handy-Infrastruktur ist praktisch darauf ausgerichtet, dass die Handys abgehört werden können. Ein Beispiel: Die Verschlüsselung des Mobilfunkstandards GSM ist offensichtlich absichtlich besonders schwach, damit Geheimdienste darauf zugreifen können. Man hätte schon damals bei seiner Einführung stärkere Verschlüsselungsverfahren gekannt. Aber die Telefoninfrastruktur ist traditionell eine staatsnahe Infrastruktur, und dann spielen neben der Privatsphäre der Benutzer*innen noch ganz andere Interessen mit.
Ist das nicht paranoid? Wir werden ja kaum alle jederzeit überwacht. Dafür ist die Datenmenge viel zu gross.
Natürlich sollte man nicht paranoid werden. Tatsache ist aber: Wenn man einmal wirklich nicht abgehört werden will, dann sollte man das Handy am besten zuhause lassen oder mindestens nicht mit ins Zimmer nehmen. Den Akku rauszunehmen, funktioniert auch. Das Handy einfach abzuschalten, reicht aber nicht. Auch wenn das Handy ausgeschaltet ist, kann via Computer im Computer auf das Mikrofon zugegriffen werden. Man kann es einfach nicht anders sagen: Handys sind Wanzen. Und das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) sowie das Bundesgesetz über den Nachrichtendienst lassen das sogar explizit zu. Wie das mit einem freiheitlichen Staat einhergehen soll, geht mir nicht in den Kopf.
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