Teil 1: Kopflose Rambos? Wenn Zürcher Polizist:innen prügeln.
Teil 2: Im Zweifel für den Beamten.
Moritz* sitzt im September 2019 in U‑Haft im Gefängnis Limmattal. Unschuldig, wie er sagt. Die Staatsanwaltschaft muss eine Untersuchungshaft beim Zwangsmassnahmengericht beantragen. In der Begründung steht: Es müsse befürchtet werden, dass Moritz „die am Einsatz beteiligten Polizisten, insbesondere Kloos*, beeinflussen oder auf Beweismittel einwirken“ würde. So könne er etwa „den noch nicht sichergestellten Stein beseitigen, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen“.
Das Zwangsmassnahmengericht wird oft als „Schattengericht“ bezeichnet, da die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden und die Akten meistens unter Verschluss bleiben. Zudem werden in 97 von 100 Fällen die Anträge der Staatsanwaltschaft gutgeheissen. So auch in Moritz’ Fall.
Moritz wird knapp einen Monat in der Haftanstalt Limmattal verbringen. Während dieser Zeit durchsucht die Kantonspolizei Zürich im Auftrag der Staatsanwaltschaft Moritz’ Wohnung und registriert sein DNA-Profil. Bei der Hausdurchsuchung wird kein relevanter Gegenstand erfasst. Nichts, das den Beschuldigten belastet, ist in den Akten vermerkt, die das Lamm vorliegen.
Zudem führt die Stadtpolizei Einvernahmen mit den Feuerwehrleuten durch, die am Gerangel am Limmatplatz beteiligt waren. Sie alle bestätigen, dass eine Gruppe vermummter Menschen versucht habe, das Feuerwehrauto zu beschädigen und es an der Weiterfahrt zu hindern. Sie alle sagen zudem aus, dass der Löschauftrag trotzdem nach wenigen Minuten fortgesetzt werden konnte, dass niemand von ihnen Angst hatte, ihnen könne etwas zustossen.
Zu Beginn der Einvernahmen sagt der befragende Beamte gemäss Protokoll: „Im Polizei-Feuerwehrumfeld duzen wir uns grundsätzlich. Ich werde dich in dieser Einvernahme per Sie ansprechen.“
Während die Polizei Einvernahmen durchführt, sammelt die „Krawallgruppe“ Beweismaterial. Dieser Teil der Zürcher Staatsanwaltschaft wurde 2012 gegründet und wird seither von Edwin Lüscher geleitet. Lüscher wurde vom Tages-Anzeiger schon als „Hooligan-Jäger“ bezeichnet. Einem Artikel der WOZ zufolge ist sein Büro mit Armeeutensilien geschmückt. Über seinem Schreibtisch prangt ein ausgestopfter Bärenkopf.
Lüscher steht in Zürich für „law and order“. Er fordert lieber ein besonders hohes als ein ungewöhnlich mildes Strafmass. Vor einigen Jahren wollte er einen jungen Mann, der in einem besetzten Haus zu Besuch war, zu hundert Tagen Gefängnis verdonnern. Das einzige Beweismittel waren damals Fingerabdrücke auf der Klospülung.
Lüscher begann 1990 seine Arbeit in der Staatsanwaltschaft und sagte gegenüber der WOZ, er habe die Opernhauskrawalle, die Jugendrevolte in den 80er-Jahren, selbst mitgekriegt. Lüscher ist ein Teil jenes Zürichs, dass sich von Linken und Hausbesetzer:innen bedroht sieht.
Die „Krawallgruppe“ arbeitet in der Strafverfolgung eng mit der Polizei zusammen. Staatsanwält:innen der Gruppe sind oft bei Fussballspielen oder Demos selbst vor Ort, um sich ein Bild von der Lage zu machen.
Lüschers Verfahren sind zwar oft gewagt, doch bei der Beweis- und Verfahrenslage hapert es regelmässig. Im vergangenen Jahr wies das Gericht ein Verfahren Lüschers gegen einen Fussballhooligan aufgrund von formalen Fehlern im Verfahren zurück, und im März 2021 wurde ein der Gewalttat beschuldigter Antifa aufgrund fehlender Beweise freigelassen.
Auch für das Verfahren gegen Moritz sind Lüscher und die Krawallgruppe verantwortlich. Das Verfahren scheint für sie derart wichtig zu sein, dass es im Jahresbericht 2019 als einziger Fall explizit erwähnt wird. Über die Gegendemo zum Marsch fürs Läbe steht dort: „Ein Steinewerfer konnte in flagranti verhaftet und der Krawallgruppe zugeführt werden.“ Dass alle Verfahren von diesem Tag noch hängig sind, steht weiter unten im Text. Dass der vermeintliche Steinwurf nicht bewiesen ist, wird allerdings nicht erwähnt.
Moritz im Blick der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft findet Aufnahmen der Geschehnisse beim Limmatplatz, auf denen ein Mann mit weisser Cap zu erkennen ist – sie wird später folgern, dass es sich dabei um Moritz handelt.
Was sie nicht findet: Hinweise auf einen Steinwurf. In einem Polizeirapport in den Akten steht zudem: „Verletzungen: Drei Rötungen am Oberkörper durch Gummischrot.“
Bemerkenswert ist, dass die Einvernahme mit dem einzigen Zeugen für den Steinwurf, Georg Kloos, nicht in dieser Zeit stattfindet. Stattdessen findet sie mehr als ein Jahr später statt, obwohl die angebliche Kollusionsgefahr wichtiger Grund für die Untersuchungshaft war. Die Einvernahme übernimmt Edwin Lüscher am 17. Dezember 2020 persönlich.
Die Staatsanwaltschaft rechtfertigt auf Anfrage die U‑Haft, ohne auf die verspätete Einvernahme einzugehen. Die Medienvertretung schreibt: „Weil ein dringender Tatverdacht bestand und Haftgründe gegeben waren, hatte das Zwangsmassnahmengericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft angeordnet. Das Vorgehen […] steht im Einklang mit der Schweizerischen Strafprozessordnung.“
Was ebenfalls ausbleibt: eine Untersuchung des Polizeieinsatzes. Moritz hat sich dagegen entschieden, Anzeige zu erstatten. Sein Anwalt hat ihm davon abgeraten. Zu aussichtslos seien solche Anzeigen gegen Bedienstete, bei denen kaum Beweismaterial vorliegt.
Doch selbst wenn es Indizien gibt, ist die Anklage von Polizist:innen wegen eines Einsatzes selten. Noch seltener ist eine Verurteilung. Nicht einmal dann, wenn der Fall klar erscheint: 2015 schossen zwei Polizisten insgesamt 13-Mal auf einen psychisch kranken Mann. Er leidet bis heute an den Folgen des Vorfalls. Das Verfahren gegen den Polizisten, der zweimal schoss, wurde eingestellt. Der andere Schütze wurde in erster Instanz freigesprochen.
Torsten Kahlhöfer war damals der Anwalt des angeschossenen Mannes. „Es gibt unter Polizisten einen starken Korpsgeist. Man will die Kollegen nicht belasten, schliesslich kann man ja auch selbst in eine ähnliche Situation geraten und ist dann froh um Rückhalt“, sagt er. Im Debriefing nach einem Einsatz wie diesem gebe es genug Möglichkeiten, Aussagen aufeinander abzustimmen.
Auch die Expertin für Menschenrechte an der Universität Bern Evelyn Sturm bestätigt: „Die Polizisten geniessen vor Gericht und in den Ermittlungen oft mehr Glaubwürdigkeit.“ Dass es gegen die Polizei aber kaum je Strafverfahren gebe, sei auch ein juristisches Problem: Das Strafrecht sei in der Schweiz nicht in jedem Fall ausreichend, um Menschenrechte durchzusetzen. Ein Problem ist beispielsweise, dass in einem Strafverfahren die individuelle Schuld nachgewiesen werden muss.
Wenn aber etwa bei einem Gummischroteinsatz nicht bewiesen werden kann, welcher Polizist bzw. welche Polizistin für das entscheidende Geschoss verantwortlich ist, kommt es zu einem Freispruch, obschon aus menschenrechtlicher Optik möglicherweise eine Verantwortlichkeit des Staates vorliegen würde. Weder das Bundesamt für Statistik noch Statistik Stadt Zürich verfügen über Zahlen dazu, wie oft Strafverfahren gegen Polizeibeamte eröffnet werden.
Die Justiz sei gegenüber Polizeigewalt „dysfunktional“, so auch Rolf Zopfi von der Menschenrechtsorganisation Augenauf. Es bräuchte enorme Beweismittel, um Gewalt nachzuweisen. Zopfi fügt an: „Bevor deine Anzeige wegen Polizeigewalt untersucht wird, wirst du schon mit einer Klage überzogen und vor Gericht schuldig gesprochen. Danach ist der Einsatz der Gewalt gerechtfertigt, es war ja zur Selbstverteidigung.“
Eine Klage gegen einen Polizeieinsatz ist also beinahe aussichtslos. Daneben rät die Stadtpolizei betroffenen Personen, sich an die Ombudsstelle der Stadt Zürich zu wenden.
Pierre Heusser ist der entsprechende Ombudsmann. Er gibt an, dass ihn regelmässig Beschwerden zu Polizeieinsätzen erreichen. Allerdings handelt es sich dabei selten um eigentliche Polizeigewalt, sondern vielmehr um Menschen, die ihrer Aussage nach unfreundlich behandelt oder ungerechtfertigt kontrolliert worden sind, um Fälle, in denen der Verdacht auf Racial Profiling besteht oder wenn jemand der Polizei Untätigkeit vorwirft.
Heusser sagt: „An uns wendet man sich sinnvollerweise, wenn es noch möglich ist, ein Gespräch zwischen den involvierten Personen zu führen, das gegenseitige Verständnis zu stärken und eventuell Lösungsansätze zu finden. Beim Einsatz von Gewalt ist dies meist nicht mehr der Fall.“
Nachdem Moritz im Oktober 2019 freigelassen wird, passiert lange Zeit nichts. Erst im Dezember 2020 finden Einvernahmen mit Moritz selbst und mit dem Zeugen, Zugführer Georg Kloos, statt.
Moritz macht von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch und sagt nichts. Kloos sagt in der Einvernahme, er habe gesehen wie „der Beschuldigte, also eine dunkel angezogene vermummte Person, etwas gegen die Polizisten, die vor uns durchgegangen sind, geworfen hat“.
Im Dezember 2020 fischt Moritz eine Anklageschrift aus dem Briefkasten. Ihm wird Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte vorgeworfen. Er habe, so die Anklageschrift, „mindestens einen Stein“ in Richtung der Polizist:innen geworfen. Ebenfalls habe er Landfriedensbruch und Sachbeschädigung begangen, weil er Teil der randalierenden Gruppe am Limmatplatz gewesen sei.
Am Ende der eineinhalbjährigen Ermittlungen wegen des mutmasslichen Steinwurfs stehen: fünf Einvernahmen. Eine Hausdurchsuchung ohne Resultat. Eine DNA-Entnahme. Ein Prozess vor dem Zwangsmassnahmengericht. Ein Monat Untersuchungshaft. 258 Seiten Untersuchungsakten. Mehrere Tausend Franken Prozesskosten.
Die Verhandlung
Vor dem Bezirksgericht Zürich stehen ein paar Dutzend Menschen und rufen: „Tout le monde déteste la police“, die ganze Welt hasst die Polizei. Sie sind hier, um ihre Solidarität mit Moritz auszudrücken. Moritz tigert vor dem Gericht hin- und her, raucht eine Zigarette. Dann winkt er den Protestierenden zu und verschwindet im Gebäude. Es ist der 25. März 2021 und Verhandlungstag.
Vor dem Gerichtssaal stehen Polizist:innen, sie kontrollieren alle, die das Bezirksgerichtsgebäude betreten. Selbst akkreditierte Journalist:innen müssen sich filzen lassen, ein Polizist untersucht jede einzelne Karte im Geldbeutel.
Staatsanwalt Edwin Lüscher betritt den Gerichtssaal. Er ist ein breitschultriger Mann mit Glatze und schlecht sitzendem Anzug. Er ist hier, obwohl er nicht müsste. Vertreter:innen der Staatsanwaltschaft müssen nur erscheinen, wenn sie eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr fordern.
Es geht in der Verhandlung um zwei vermeintliche Vergehen. Das erste betrifft das Gerangel am Limmatplatz. Moritz wird vorgeworfen, dort Teil einer gewalttätigen Zusammenrottung gewesen zu sein. Das zweite betrifft den mutmasslichen Steinwurf.
Ersteres sei, so der Staatsanwalt, mithilfe von Bild- und Videoaufnahmen bewiesen. Auf ihnen sei Moritz wegen seiner weissen Cap deutlich zu erkennen. Lüschers Beweis für den Steinwurf: die Einvernahme mit dem Einsatzleiter Kloos.
„Alles ist bewiesen“, sagt Lüscher. Der Angeklagte habe Gewalt gegenüber Andersdenkenden, sogar eine „Gewaltorgie“ ausgelebt. Er beendet sein Plädoyer nach zehn Minuten, ohne den Blick von seinem Zettel zu heben.
Moritz’ Verteidiger holt tief Luft. Und plädiert dann dafür, seinen Mandaten freizusprechen. Er weist auf Lücken in der Beweisführung hin, es läge hier eine Verwechslung vor. Erstens sei unklar, warum die Staatsanwaltschaft davon ausgehe, dass die weisse Cap auf den Bildern zu Moritz gehört. Sie ist zwar als Teil seiner persönlichen Belange bei der Festnahme vermerkt. Allerdings hat Moritz diese Liste nie unterzeichnet und damit auch nicht bestätigt, dass die aufgeführten Gegenstände ihm gehören.
Zweitens gebe es abgesehen von der Aussage des einen Polizisten keinen Beweis dafür, dass Moritz den Stein geschmissen habe. Kein Bild, keine Videoaufnahmen, noch nicht einmal Zeugenaussagen von weiteren Polizist:innen. Es sei, so die Argumentation des Verteidigers, unplausibel, dass Kloos im unübersichtlichen Handgemenge bei der Josefwiese den Steinwurf zuverlässig einer Person zuordnen könne. Zudem widerspreche sich der Polizist in zwei unterschiedlichen Einvernahmen selbst. Es stehe hier Aussage gegen Aussage. Es gelte: Im Zweifel für den Angeklagten.
Am Ende hält Moritz sein Schlussplädoyer. In einem halbstündigen Vortrag beschreibt der Geschichtsstudent den Kampf von Frauen um die Autonomie und Kontrolle über ihre Körper. Der Richter blättert dabei gelangweilt in einem Ordner. Einmal versucht er, das Plädoyer zu unterbrechen. „Bleiben Sie bei der Sache“, sagt er. Doch Moritz beharrt auf seinem Recht.
Als der GLP-Richter Thomas Vesely sein Urteil spricht, ist es still im Saal. Er sagt: „Sie werden schuldig gesprochen wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte, Landfriedensbruch und des Verstosses gegen das Vermummungsverbot.“ Er verurteilt Moritz zu acht Monaten bedingter Freiheitsstrafe und einer Busse. Edwin Lüscher verlässt den Saal zuerst. Moritz schlendert nach ihm nach draussen.
Für die „Krawallgruppe“ ist der Fall somit abgeschlossen, der Täter gefasst, „alles bewiesen“, wie Lüscher sagt. Moritz hingegen sieht jetzt noch weniger Hoffnung, dass eine Anklage gegen den Polizeieinsatz Erfolg haben könnte. Während er vom Bezirksgericht in Richtung Langstrasse läuft, sagt er nochmals, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem: „Ich habe den Stein nicht geschmissen.“
*Namen von der Redaktion geändert.
Diese Recherche wurde vom Recherche-Fonds der Gottlieb und Hans Vogt Stiftung, vergeben durch investigativ.ch, gefördert.
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