Freitag, der 26. März: Seit fünf Tagen campieren die Arbeiter:innen von SwissJust Argentina vor den Produktionsanlagen des Schweizer Naturkosmetikherstellers Just in General Rodríguez, einer Vorstadt von Buenos Aires.
Mardonio Racedo ist erschöpft. Der rund 40-jährige Arbeiter erzählt, dass er vierzig Kilometer zurückgelegt hat, um vor den Produktionsanlagen von Just zu protestieren. Am Tag zuvor regnete es den ganzen Tag und die Zelte, die er und die anderen errichtet haben, sind zum Teil noch nass. Überall hängt Wäsche zum Trocknen. Gerade wird eine Sitzung mit anderen Gewerkschaften aus dem Bezirk abgehalten. Es wird über internationale Solidarität und Arbeitskampferfahrung gesprochen. Der Besuch der internationalen Presse ermutigt ihn und die anderen Arbeiter:innen.
Er selber arbeitete in einer der Lagerhallen von SwissJust Argentina, dem Logistikunternehmen für die Produkte von Just, bis ihm gekündigt wurde. Die Arbeitsplätze sind weg, die Hallen stehen seit einem Monat leer. Und alles ohne Vorwarnung.
Eine unrühmliche Entlassung
Fast ein Jahr hätten Racedo und seine Arbeitskolleg:innen ohne Unterbruch gearbeitet, erzählt er. Während der Coronapandemie mussten sie zusätzliche Schichten schieben und waren selbst an Feiertagen in den Lagerhallen von Just. Immer bereit, die Extraschichten zu leisten. Just stellt in Argentinien Kosmetika her, Racedo und seine Kolleg:innen waren in einem Partnerunternehmen für Verpackung und Direktvertrieb in Argentinien verantwortlich.
Dem Kosmetikhersteller aus der Schweiz geht es prächtig. Er expandiert auf dem lateinamerikanischen Markt und dies trotz der aktuellen Pandemie und Wirtschaftskrise, die den Kontinent heimsucht. Doch wieso die Massenentlassung?
„Im Februar – endlich – gewährten sie uns ein paar freie Tage“, erzählt Racedo. Viele der Arbeiter:innen hatten seit über einem Jahr keine Ferien gehabt. Doch dann, Mitte Februar, einen Tag vor Wiedereintritt, wurden die Arbeiter:innen zu einer Sitzung per Zoom eingeladen – mit verheerenden Folgen.
Die Firma verkündete, dass die Lagerhallen am Standort in Lomas del Mirador, dort, wo Racedo arbeitet, per sofort geschlossen würden. In einer Nacht- und Nebelaktion wurden sämtliche Maschinen an einen neuen Standort verlagert. Das Partnerunternehmen wurde geschlossen, Verpackung und Vertrieb nun durch ein grösseres Unternehmen übernommen.
Nachdem Racedo und seine Mitarbeiter:innen vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, wurde ihnen empfohlen, die doppelte Abfindung zu akzeptieren und sich gleichzeitig bei der neuen Arbeitgeberin, etwa 60 Kilometer entfernt, zu bewerben. Für die Arbeiter:innen ein Affront: „Wir wurden mitten in einer weltweiten Krise von einem Tag auf den anderen auf die Strasse gestellt.“
Illegale Praxis
Racedo ist wütend. Die Praxis des Unternehmens hat in Argentinien einen Namen: Vaciamiento, die Leerung der Produktionsstätte über Nacht. So wird verhindert, dass die Arbeiter:innen einen Arbeitskampf beginnen oder gar die Fabrik besetzen können.
Das Problem: Diese Praxis ist illegal und seit Beginn der Pandemie sind Entlassungen in Argentinien nur bei wirtschaftlichen Problemen des Unternehmens erlaubt. Deswegen hat die Gewerkschaft Comercio, Industria y Servicios (CIS) ein Schlichtungsverfahren begonnen. Die relativ kleine Gewerkschaft begleitet den Kampf der Arbeiter:innen.
Gewerkschaftler Gustavo Cordóba schaltet sich per Zoom dazu. Der Mate, das argentinische Nationalgetränk, ist Prominent im Bild platziert. Er erzählt: „Dieser Prozess ist staatlich reguliert und bestimmt, dass zu Beginn alle Entscheidungen zurückgenommen werden müssen.“ Die Arbeiter:innen durften also wieder in den Lagerhallen arbeiten, bis eine Entscheidung im Schlichtungsverfahren oder vor Gericht getroffen wurde. „Der Arbeitgeber muss nicht nur die Lohnfortzahlung garantieren, sondern auch eine effektive Beschäftigung“, ergänzt Cordóba.
Nun sind aber die Lagerhallen mittlerweile leer. „Wir sassen den ganzen Tag herum und konnten nichts machen“, erzählt Racedo. Die Arbeiter:innen versuchten inständig, mit der Unternehmensleitung von Just in Kontakt zu treten, doch diese wies ab. Da SwissJust Argentina einen anderen Besitzer habe, seien sie nicht für das Verhalten des Partnerunternehmens verantwortlich.
Um den Druck zu erhöhen, zogen die Arbeiter:innen vor die Fabrik in General Rodríguez, wo Just Kosmetika für ganz Lateinamerika herstellt. Die Fabrik wird von Just International Latam betrieben und ist im direkten Besitz der Gründerfamilie. Für die Arbeiter:innen ist klar: Trotz der organisatorischen Trennung ist Just aus der Schweiz für die Entscheidung verantwortlich.
Dieser Meinung ist auch die UNIA aus der Schweiz. Am 10. März demonstrierte die Gewerkschaft vor dem Hauptsitz des Unternehmens in Walzenhausen. In einem offenen Brief kritisiert die Sektion Säntis-Bodensee der UNIA das geheime Verfahren, mit dem den Arbeiter:innen ihre Jobs genommen wurden.
Das Verhalten des Unternehmens sei „unwürdig“: „Hier wird nicht nur geltendes Recht gebrochen, sondern auch die Würde der Mitarbeitenden grob verletzt. Dies ist umso stossender, als dass Just in Argentinien volle Auftragsbücher hat und sogar bekräftigte, auf ‚Expansionskurs‘ zu sein.“
Suche nach Gründen
„Der Grund für diese Entscheidung muss in der Umstrukturierung des Unternehmens liegen“, vermutet Cordóba. Just gliedert sich in verschiedene Unternehmen auf. Für die Produktion ist Just Latam verantwortlich. Die Verpackung und den Vertrieb übernehmen für jedes Land spezielle Partnerunternehmen und der Verkauf wird durch wirtschaftlich selbstständig arbeitende Produktberater:innen übernommen. Trotz dieser organisatorischen Trennung treten alle Unternehmen auf der Webseite von Just.ch als ein zusammenhängendes Netzwerk auf. Bis Montag den 29. März wurden die Partnerunternehmen noch „selbständige Auslandsvertretungen“ genannt.
„Da das Unternehmen mehr und mehr gewachsen ist, hat man beschlossen, die Verteilung der Produkte nun über ein grösseres Unternehmen abzuwickeln, sprich auszulagern“, erzählt Cordóba weiter. Die Verteilung übernimmt neuerdings das Logistikunternehmen Transfarmaco.
Den Gewerkschaftler erstaunt dieser Entscheid nicht: In der Logik des Unternehmens ist so etwas gut nachvollziehbar. Es stört ihn aber, dass dabei keine anständige Lösung für die Arbeiter:innen gefunden wurde. Sie wurden nicht vorgewarnt, der neue Standort liegt etwa zwei Stunden Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt und die Arbeitsbedingungen sind deutlich schlechter.
Er erinnert daran, dass es ihnen im Prinzip nur um eine sozialverträgliche Abwicklung der Fabrik in Lomas del Mirador gehe: „Das Unternehmen hätte ihre Pläne früher bekannt geben, den Arbeiter:innen eine Übernahme zu gleichen Bedingungen anbieten und für den Mehraufwand einer längeren Reise aufkommen sollen.“ All dies ist bis dato nicht geschehen.
Unternehmen verneint Verantwortung
Das Unternehmen aus der Schweiz dementiert eine direkte Verantwortung und rechtfertigt das Handeln des Partnerunternehmens. «SwissJust Argentina [ist] ein von Just International wirtschaftlich und rechtlich unabhängiges Unternehmen», so der Geschäftsführer Heinz Moser. Das Unternehmen habe sich aufgrund des Wachstums dazu entschlossen, seine Logistik neu zu organisieren. Die Lagerhallen in Lomas del Mirador seien nicht mehr zeitgemäss gewesen.
Laut Moser konnten bei der Planung nicht sämtliche Arbeiter:innen in den Prozess involviert werden, „um die Lieferkette zu den 70’000 Berater:innen jederzeit aufrecht zu erhalten“ und so ihre Erwerbstätigkeit und das Einkommen für sie und ihre Familien zu garantieren. Dies aufgrund der „Befürchtung, dass ein sehr kleiner Teil der Belegschaft einen notwendigen und verantwortungsvollen Entwicklungsschritt behindern und blockieren könnte“. Diese Befürchtung wird in seinen Augen durch die „fragwürdigen Aktionen von einigen wenigen Arbeiter:innen leider bestätigt“.
Der Kampf geht weiter
Die Arbeiter:innen sind verzweifelt. Mittlerweile sind immer mehr Genoss:innen abgesprungen, bereits knapp die Hälfte der ehemals 52 Arbeiter:innen haben die Bedingungen von Just akzeptiert. Die anderen sind vor die Tore des Mutterkonzerns gegangen, um ihren Forderungen mehr Druck zu verleihen. Seit Tagen lassen sie keinen Lastwagen mehr das Gelände verlassen.
Racedo erzählt, dass sie ein gutes Verhältnis zu den Arbeiter:innen vor Ort pflegen. Sie kennen sich aus gemeinsamen Firmenanlässen. Nun verbietet die Unternehmensleitung den Umgang mit den Protestierenden und behauptet, sie seien gewalttätig.
Dem widerspricht Racedo. So seien mittlerweile viele Gespräche zwischen den Arbeiter:innen aufgekommen. Sie erzählen, so Racedo, von einem „despotischen“ Regime in den Fabrikhallen, Beschimpfungen am Arbeitsplatz und Zwang zu Überstunden. Die Gewerkschaft vor Ort sei unter einer Decke mit der Unternehmensleitung und würde jeden Protest unterbinden. Mitgliedschaften in anderen Gewerkschaften seien verboten.
Das Unternehmen aus der Schweiz verneint auch hier die Anschuldigungen. Leider will niemand von den betroffenen Arbeiter:innen direkt mit das Lamm sprechen. Cordóba von der CIS meint, dass dies leider traurige Normalität sei. Zu viele Gewerkschaften hätten sich an die Unternehmensleitungen verkauft. So würden aktiv Arbeitskämpfe verhindert und unterdrückt. Mittlerweile hat die CIS die Erzählung eine:r Arbeiter:in veröffentlicht, der Arbeitskampf geht in eine zweite Runde.
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