Kein Angriff auf uns alle

Vor zwei Wochen jährte sich der rassi­sti­sche Anschlag in Hanau zum dritten Mal. Ein Text über Hanau als Chiffre und die Funk­tion von Rassismus in der Klassengesellschaft. 
Der Durchlass zur Mehrheitsgesellschaft ist eng. Gerade beim Gedenken an Anschlagsopfer zeigt sich: Nicht nur Rassismus sondern auch Klassismus verstellen ihn. (Illustration: Luca Mondgenast)

Am Abend des 19. Februar 2020, ich schaue gerade irgend­etwas auf meinem Laptop, ruft mir meine Freundin zu, dass es einen Anschlag gab. „Wo?“, frage ich. „In Hanau“, antwortet sie. Hanau, der Ort, wo einer meiner Schul­freunde hinge­zogen ist. Ich google und lese, dass es mehrere Tote gibt, die Situa­tion ist noch unklar.

Ich lese aber auch: „Shis­habar“, ich lese: „Kiosk“, ich lese: „Straße. Orte margi­na­li­sierten Lebens.“ Noch am selben Abend ist die Rede von migran­ti­schen Opfern. In mir steigt jene irra­tio­nale Panik auf, wie sie wohl jede*r spürt, der*die Menschen kennt, auf die diese diffusen Beschrei­bungen der Opfer zutreffen. Ich kontak­tiere meinen alten Freund, der halb Deut­scher, halb Türke ist, mit dem ich schon in Hanau an Orten rumge­hangen habe, die sich kaum von den Tatorten unter­scheiden. Nach ein paar Stunden erfahre ich, dass er erschrocken ist, aber in Sicherheit.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David 
gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Ich erin­nere mich an einen Anschlag ein paar Jahre zuvor, am 13. November 2015. Mehrere isla­mi­sti­sche Atten­täter töteten in Paris in einem Club und in Bars und Restau­rants sowie am Stade de France insge­samt 130 Menschen. Mit einer Truppe Schauspieler*innen bin ich in Heidel­berg. Gerade hat unsere Komödie (ich spielte zu dem Zeit­punkt noch Theater) den Publi­kums­preis der Heidel­berger Thea­ter­tage gewonnen. 

Wir feierten den Preis und uns in einer Bar, bis meine dama­lige Freundin anruft und in den Hörer weint. In Paris würde geschossen, sagte sie, genauer: Am Place de la Repu­blique, wo ein Freund von ihr wohnte, wo wir schon getanzt hatten, wo sie viele Menschen kannte, die sich dort an warmen Abenden trafen. In der Bar ging die Musik aus, der Fern­seher zeigte erste Aufnahmen, die Rede war von Dutzenden Toten. Später erfahren wir erst die ganze Dimen­sion des Terrors, von dem Paris an jenem Abend heim­ge­sucht wurde. Der Freund von ihr und ihre Bekannten waren nicht unter den Opfern. 

Paris 2015 und Hanau 2020

Zwei Anschläge, zweimal vernich­tender Hass – und doch: Alles Weitere lässt sich nur schwer verglei­chen. Wer waren die Opfer?

In Paris waren es vor allem weisse Feiernde, die im Nacht­club Bata­clan, während eines Konzertes der Band Eagles of Death Metal erschossen wurden, am Place de la Repu­blique sind es – wieder vor allem –  gut verdie­nende Weisse, die in geho­benen Restau­rants und Bars beiein­ander sassen, die sprich­wört­liche Mitte der Gesellschaft. 

In Hanau ist die Situa­tion eine andere. Dort sind Menschen betroffen, die in ihrem Alltag auf gleich mehr­fache Art Ausschluss erfahren und die dort aufge­sucht wurden, wo diese Ausschluss­erfah­rungen norma­ler­weise kaum eine Rolle spielen. Die Autorin Nadire Biskin schreibt: „Die Tatorte des rassi­sti­schen Anschlags in Hanau waren safer spaces. Solche Shis­ha­bars, Bars und Kioske sind safer, weil die Türpo­litik einen aufgrund von Iden­ti­täts­merk­malen wie beispiels­weise race, class und gender Sams­tag­abends nicht ausschließt. Hier wird man nicht abge­wiesen, nur weil man kein weißes Mittel­schichts­kind ist.“

Es ist kein gutes Gefühl, Serpil Temiz Unvar, der Mutter des getö­teten Ferhat Unvar zu wider­spre­chen, die sagt: „Der Anschlag in Hanau galt nicht nur meinem Sohn, sondern allen Migrant*innen“. Doch hier zu korri­gieren ist wichtig, denn dieser Anschlag galt genauso wenig allen Migrant*innen wie der Terror­an­schlag 2016 in München, bei dem ein junger rassi­sti­scher Atten­täter neun Menschen ermor­dete. Der Anschlag galt armen Migrant*innen, Migrant*innen aus der Arbei­ter­klasse. Auch die Opfer des NSU waren soge­nannte einfache Leute, Blumen- und Gemü­se­händler, Döner­ver­käufer und Schneider.

Die Frage, wer denn die Opfer waren, führt zur Frage nach dem „wo“, den Tatorten. Sie verraten, worüber – abge­sehen von Ausnahmen – lieber geschwiegen wird: die verti­kale Dimen­sion von Rassismus. In München war es 2016 eine McDo­nalds-Filiale, an der der Täter zuschlug. Im Falle von Hanau waren es eine Shis­habar und ein Kiosk. Orte prekären, oft migran­tisch geprägten Lebens. 

Das „wo“ führt einen wiederum zurück zu den Opfern: Gemeint waren nicht der migran­ti­sche Chef­arzt, nicht der Firmen­chef, nicht die Poli­ti­kerin mit anderen Wurzeln, wie es immer wieder so dumpf­backig heisst. Gemeint waren prekär lebende Migrant*innen, Menschen aus der Unter­klasse – was für viele Menschen ein und dasselbe bedeutet.

Rassismus in einer Klas­sen­ge­sell­schaft fällt nicht einfach vom Himmel oder wird einfach so von Menschen als Herr­schafts­in­stru­ment benutzt, es ist ein Werk­zeug im Klas­sen­kampf, das durch die Zuschrei­bung von Eigen­schaften Ausschlüsse produ­ziert, um den Zugang zu Ressourcen zu verklei­nern. Denn wenn mehr Menschen ihren Teil vom Kuchen abhaben wollen, wird der gesamte Kuchen kleiner. Rassi­sti­scher Terror erfüllt hier die tödliche Funk­tion des Ausschlusses. Wenn der Anschlag in Hanau also in Erin­ne­rung bleiben sollte, dann als Chiffre dafür, dass Rassismus zum Ziel hat, diese Art von Ausschlüssen im Vertei­lungs­kampf zu produzieren.

Am Ende des Konzepts des rassi­sti­schen Kampfes stehen auch wohl­ha­bende Politiker*innen, Künstler*innen, wohl­ha­bende Migrant*innen auf den Hass­li­sten. Doch das Gros der Menschen, die rassi­sti­schen Terror erleben, kommt aus der unteren Klasse. 

Kein Angriff auf uns alle

Man kann die Frage, wie wir erin­nern, nicht trennen von der Frage, wen wir erin­nern. Seit beinahe drei Jahren fordern die Hinter­blie­benen der Opfer vom 19. Februar in Hanau ein würdiges Gedenken ein. Sie haben Vorschläge einge­bracht, sie haben Forde­rungen gestellt. Es wurde ein Wett­be­werb für ein Denkmal ins Leben gerufen. Doch drei Jahre nach dem Anschlag gibt es immer noch kein solches Denkmal, an dem erin­nert wird. Die Hinter­blie­benen und Über­le­benden des Anschlags wollen ein Denkmal auf dem Markt­platz von Hanau errichten lassen, gleich neben jenem für die Gebrüder Grimm, den wohl berühm­te­sten Bürgern Hanaus. Das passt nicht allen.

Offi­zi­ellen und einigen Bürger*innen von Hanau, so heisst es, ist der Rathaus­platz für ein Denkmal zu promi­nent. Was sie damit meinen, ohne es sagen zu wollen: Anders als in Paris oder beim Anschlag auf dem Breit­scheid­platz wird beim Anschlag in Hanau eben nicht der Mitte der Gesell­schaft gedacht, und darum soll auch nicht im Herzen Hanaus getrauert werden. Es wird jener gedacht, die an den Rand gedrängt über­leben, solange man sie lässt, solange nicht ein rassi­sti­scher Atten­täter kommt und sie abknallt. Entspre­chend soll doch bitte auch dort gedacht werden, wo sie gelebt haben – am Rand. 

Diese soziale Dimen­sion nicht zu benennen bedeutet im schlimm­sten Fall, den Rassismus und mit ihm die Abwer­tung von Menschen als „Angriff auf uns alle“ zu verklären, wie es Bundes­prä­si­dent Stein­meier tat. Im besten Fall bedeutet es, nicht aufge­klärt zu sein über die Funk­tion von Rassismus in einer Klas­sen­ge­sell­schaft. Der erste Fall muss für alle Zeiten bekämpft, das Eintreten des zweiten Falls soli­da­risch gera­de­ge­rückt werden – aber niemals darf darüber geschwiegen werden. 

Im Sammel­band „Die Diver­sität der Ausbeu­tung – Zur Kritik des herr­schenden Anti­ras­sismus“ setzt die Autorin Bafta Sarbo die zwei Phäno­mene Rassismus und Krise in Bezug zuein­ander. Über den Rückzug des Sozi­al­staates und den parallel gras­sie­renden Rassismus im Deutsch­land der 1980er-Jahre schreibt sie: „In dieser Phase popu­la­ri­sierte sich die berühmte rechte Parole ‚Deutsch­land den Deut­schen, Ausländer raus‘. Dabei geht es vor allem darum, durch rassi­sti­sche Ausschlüsse einen Konkur­renz­vor­teil in Bezug auf (vermeint­lich) begrenzte Ressourcen zu erlangen.“ Das ist die Funk­tion von Rassismus und ihre extremste Ausprä­gung haben Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kier­pacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Sara­çoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov am eigenen Leib erfahren. 

Wenn wir die Erin­ne­rungs­kultur als Ressource verstehen, dann wird klar, dass die Hinter­blie­benen in Hanau vergeb­lich auf ein promi­nentes Denkmal hoffen müssen. Drei Jahre nach dem Anschlag ist immer noch keins in Sicht. Derweil gibt es in Frank­reich seit dem Jahr 2015 eine Aner­ken­nungs­me­daille für die Opfer des Terro­rismus. Am Place de la Repu­blique ist eine „Eiche der Erin­ne­rungen“ gepflanzt worden. 

An eines der Opfer des Anschlags von Hanau aller­dings wird erin­nert. Es ist Vili Viorel Păun, nach ihm wurde die Vili-Viorel-Păun-Straße benannt – in Singu­reni, seinem Heimat­dorf in Rumänien.


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