Du warst mein lieb­ster Stadt­baum. Ich werde dich vermissen.

Eine Ode an die Ross­ka­stanie vor dem Bezirks­ge­richt Zürich 
Wir standen uns nah. Illustration: Gaia Giacomelli

Eigent­lich stehen wir uns doch gar nicht so nah. Dennoch begeg­nete ich dir fast jeden Tag – aus Zufall oder aus Kalkül? Nun, wohl eher Letz­teres, denn du stehst immer nur da, fest verwur­zelt auf dem Platz vor dem Bezirks­ge­richt, rührst dich nicht vom Fleck, während ich fast jeden Tag an dir vorbei­fahre, mit dem Fahrrad oder mit der Tram. Dann sehe ich dich vor der Scheibe vorbei­ziehen und empfinde immer einen kurzen Augen­blick Ruhe bei deinem Anblick.

Auch wenn der Tag lang war, anstren­gend und mühsam, voller uner­war­teter Wendungen, kann ich doch immer darauf zählen, dass du am Abend seelen­ruhig dort sein wirst, wo ich dich am Morgen verab­schiedet habe. Du bist für mich eine Konstante im hekti­schen Stadtalltag.

Wir stehen uns zwar nicht so nah, aber trotzdem hast du mir immer viel erzählt. Denn wenn sich im Früh­ling deine dicken, kleb­rigen Knospen für die ersten grünen Triebe öffnen, flüsterst du mir zu: „Er kommt bestimmt, der Sommer!“ Und späte­stens wenn deine rosa Blüten kamen, glaubte ich dir dein alljähr­li­ches Verspre­chen. Wenn du im Herbst deine Blätter von dir sties­sest, wusste ich, dass sich der kalte Winter­mantel bald um die Stadt legen würde. Und wenn du dann, so kahl, dennoch der Kälte trotz­test, dann wusste ich, dass du ausharrst im Wissen, dass der Winter nicht ewig verweilt.

Wir stehen uns zwar gar nicht so nah, aber trotzdem hast du dich immer um mich geküm­mert, ohne eine Gegen­lei­stung zu verlangen, weder von mir noch von den Tausenden anderen Städ­te­rinnen und Städ­tern, für die du mit deinen Blät­tern Tag für Tag die Luft verbes­serst und mit dem Schatten deines Blät­ter­bal­dachins die ÖV-Warterei ange­nehmer machst. Du lädst gar zum Verweilen ein, ange­lehnt an deinen dicken Stamm.

Nie hättest du etwas zurück­ver­langt, eine Entschä­di­gung oder eine Entschul­di­gung für die Stick­luft, die dich umgibt, für die Abgase, die deine Ästchen umstrei­chen. Für die Schnit­ze­reien in deiner dicken Rinde.

Wir stehen uns zwar gar nicht so nah, aber trotzdem hast du mich und andere inspi­riert. Deine Blätter hat schon so manches Stadt­kind zwischen den dünnen Seiten eines verlot­terten Tele­fon­bu­ches gepresst, aus deinen Früchten und ein paar Zahn­sto­chern bastelte ich im Herbst mit meinen Neffen und Nichten Zwerg­männ­chen und Mini­gi­raffen – Tiere, welche du gar nicht kennst, besu­chen dich doch höch­stens Tauben, Stadt­vögel und der eine oder andere Hund.

Wir stehen uns zwar nicht so nah, aber trotzdem bist du für mich wichtig geworden. Genauso wie für all die anderen Menschen, die jahrein jahraus ihren Weg an dir vorbei zum Bezirks­ge­richt fanden. Tagtäg­lich siehst du Hunderte an dir vorbei­hetzen, und auch wenn du denkst, dass du uns allen egal bist, ein Baum unter vielen, möchte ich dir sagen, dass wir dich zu schätzen wissen. Wir nehmen dich und die anderen Stadt­bäume oft nicht bewusst wahr, das muss ich einge­stehen. Doch wenn ich mir ein Zürich ohne euch vorstelle, dann zieht sich mein Magen zusammen. Wir brau­chen euch für unsere Atem­luft, für Schatten und Abküh­lung, eure Baum­kronen als Nist­platz für Vögel, eure Rinde für Insekten, eure Präsenzen für unsere Seele.

Unter all den Stadt­bäumen warst du mir immer der liebste, und ich werde traurig sein, wenn ein anderer an deinem Platz stehen wird. Denn seit ein paar Jahren werden deine Blätter immer früher braun. Die Minier­motte setzt dir zu, und der Klima­wandel gibt dir den Rest. Gerne würde für einmal ich dir sagen, dass bald der Früh­ling kommt, dass alles gut wird.

Ich werde dich vermissen, wir standen uns nah.

Hier geht’s zum näch­sten Teil der Stadt­baum-Serie: Weshalb die Ross­ka­stanie sterben muss. Und viele andere Stadt­bäume auch. 

 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 21 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1352 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel