Eigentlich stehen wir uns doch gar nicht so nah. Dennoch begegnete ich dir fast jeden Tag – aus Zufall oder aus Kalkül? Nun, wohl eher Letzteres, denn du stehst immer nur da, fest verwurzelt auf dem Platz vor dem Bezirksgericht, rührst dich nicht vom Fleck, während ich fast jeden Tag an dir vorbeifahre, mit dem Fahrrad oder mit der Tram. Dann sehe ich dich vor der Scheibe vorbeiziehen und empfinde immer einen kurzen Augenblick Ruhe bei deinem Anblick.
Auch wenn der Tag lang war, anstrengend und mühsam, voller unerwarteter Wendungen, kann ich doch immer darauf zählen, dass du am Abend seelenruhig dort sein wirst, wo ich dich am Morgen verabschiedet habe. Du bist für mich eine Konstante im hektischen Stadtalltag.
Wir stehen uns zwar nicht so nah, aber trotzdem hast du mir immer viel erzählt. Denn wenn sich im Frühling deine dicken, klebrigen Knospen für die ersten grünen Triebe öffnen, flüsterst du mir zu: „Er kommt bestimmt, der Sommer!“ Und spätestens wenn deine rosa Blüten kamen, glaubte ich dir dein alljährliches Versprechen. Wenn du im Herbst deine Blätter von dir stiessest, wusste ich, dass sich der kalte Wintermantel bald um die Stadt legen würde. Und wenn du dann, so kahl, dennoch der Kälte trotztest, dann wusste ich, dass du ausharrst im Wissen, dass der Winter nicht ewig verweilt.
Wir stehen uns zwar gar nicht so nah, aber trotzdem hast du dich immer um mich gekümmert, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, weder von mir noch von den Tausenden anderen Städterinnen und Städtern, für die du mit deinen Blättern Tag für Tag die Luft verbesserst und mit dem Schatten deines Blätterbaldachins die ÖV-Warterei angenehmer machst. Du lädst gar zum Verweilen ein, angelehnt an deinen dicken Stamm.
Nie hättest du etwas zurückverlangt, eine Entschädigung oder eine Entschuldigung für die Stickluft, die dich umgibt, für die Abgase, die deine Ästchen umstreichen. Für die Schnitzereien in deiner dicken Rinde.
Wir stehen uns zwar gar nicht so nah, aber trotzdem hast du mich und andere inspiriert. Deine Blätter hat schon so manches Stadtkind zwischen den dünnen Seiten eines verlotterten Telefonbuches gepresst, aus deinen Früchten und ein paar Zahnstochern bastelte ich im Herbst mit meinen Neffen und Nichten Zwergmännchen und Minigiraffen – Tiere, welche du gar nicht kennst, besuchen dich doch höchstens Tauben, Stadtvögel und der eine oder andere Hund.
Wir stehen uns zwar nicht so nah, aber trotzdem bist du für mich wichtig geworden. Genauso wie für all die anderen Menschen, die jahrein jahraus ihren Weg an dir vorbei zum Bezirksgericht fanden. Tagtäglich siehst du Hunderte an dir vorbeihetzen, und auch wenn du denkst, dass du uns allen egal bist, ein Baum unter vielen, möchte ich dir sagen, dass wir dich zu schätzen wissen. Wir nehmen dich und die anderen Stadtbäume oft nicht bewusst wahr, das muss ich eingestehen. Doch wenn ich mir ein Zürich ohne euch vorstelle, dann zieht sich mein Magen zusammen. Wir brauchen euch für unsere Atemluft, für Schatten und Abkühlung, eure Baumkronen als Nistplatz für Vögel, eure Rinde für Insekten, eure Präsenzen für unsere Seele.
Unter all den Stadtbäumen warst du mir immer der liebste, und ich werde traurig sein, wenn ein anderer an deinem Platz stehen wird. Denn seit ein paar Jahren werden deine Blätter immer früher braun. Die Miniermotte setzt dir zu, und der Klimawandel gibt dir den Rest. Gerne würde für einmal ich dir sagen, dass bald der Frühling kommt, dass alles gut wird.
Ich werde dich vermissen, wir standen uns nah.
Hier geht’s zum nächsten Teil der Stadtbaum-Serie: Weshalb die Rosskastanie sterben muss. Und viele andere Stadtbäume auch.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 21 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1352 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 735 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 357 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!