Keine blosse Willensfrage

Der Zugang zur Corona-Impfung ist nicht nur eine Frage des Willens, sondern auch eine soziale Frage. Neben konse­quenten Impfverweigerer:innen gibt es Menschen, die aus sozio­öko­no­mi­schen Gründen über weniger Zugang zur Impfung verfügen. Gemäss der neuen Test­stra­tegie des Bundes sollen sie nun die Kosten tragen. 
Neben konsequenten Impfverweigerer:innen gibt es Menschen, die aus sozioökonomischen Gründen über weniger Zugang zur Impfung und den dazugehörigen Informationen verfügen. (Foto: pixabay.com)

Eine euro­päi­sche Regie­rung nach der anderen erhöhte in den vergan­genen Wochen ange­sichts der stagnie­renden Impf­quoten und den stei­genden Fall­zahlen den Impf­druck. In der Schweiz will der Bundesrat die Zerti­fi­kats­pflicht ab Oktober auf Innen­räume wie Restau­rants oder Museen ausweiten. Zudem müssen Schweizer:innen ohne Symptome Tests und Selbst­tests, die für Unge­impfte der einzige Weg zu einem Zerti­fikat sind, ab dem 1. Oktober selber zahlen. Das Argu­ment: Die Steuerzahler:innen sollen nicht mehr für Unge­impfte zahlen. Schliess­lich hätten sich alle Impf­wil­ligen bis heute impfen lassen können. Zurzeit beträgt die Impf­quote der Personen mit minde­stens einer Impf­dosis rund 57 Prozent.

Was sich zunächst plau­sibel anhört, bedarf jedoch einer näheren Betrach­tung. Denn beim Zugang zur Impfung und der Impf­be­reit­schaft handelt es sich nicht bloss um eine Willens­frage, sondern auch um eine soziale Frage. Neben konse­quenten Impfverweigerer:innen gibt es Menschen, die aus sozio­öko­no­mi­schen Gründen über weniger Zugang zur Impfung und den dazu­ge­hö­rigen Infor­ma­tionen verfügen. Gerade sie tragen aber unter der neuen Stra­tegie über­pro­por­tional die Kosten und Konsequenzen. 

Doch welche Versuche hat die Schweizer Politik unter­nommen, um die Impf­be­reit­schaft dieser Menschen zu erhöhen? Hat sie die Hürden beim Zugang zur Impfung recht­zeitig mini­miert, bevor sie den Druck auf Unge­impfte erhöht?

Nach­teile beim Zugang zur Impfung

Die Zürcher Hoch­schule für Ange­wandte Wissen­schaften (ZHAW) hat anhand eines COVID-19 Social Moni­tors regel­mäs­sige Befra­gungen in der Schweizer Bevöl­ke­rung durch­ge­führt. Im Juli wurde im Rahmen dieses Forschungs­pro­jekts eine Studie zum Impf­fort­schritt in der Schweiz publi­ziert. Es handelt sich um eine Moment­auf­nahme, Stand Anfang Juni. Die Kern­fragen lauten: Wer hat sich impfen lassen und wer will noch? 

Personen mit hohem Haus­halts­ein­kommen wiesen zu jener Zeit eine etwas höhere Impf­quote auf als solche mit mitt­lerem oder tiefem Haus­halts­ein­kommen. Auch beim Bildungs­grad und dem Wohnort sind poten­zi­elle Impf­gräben erkennbar. Die aktu­ellste Erhe­bung des SRG-Corona-Moni­tors zeigt für dieselben Kate­go­rien ähnliche Tendenzen auf.

Die Caritas hat während der Pandemie Bera­tungs­an­ge­bote und finan­zi­elle Über­brückungs­hilfen für einkom­mens­schwache Menschen gelei­stet. Medi­en­spre­cher Stefan Gribi sagt gegen­über das Lamm, dass neben indi­vi­du­ellen auch struk­tu­relle Gründe einkom­mens­schwa­chen Menschen den Zugang zur Impfung erschweren würden. „Menschen, die sehr viel arbeiten und trotzdem zu wenig verdienen, sind sehr stark mit ihrer Existenz­si­che­rung beschäf­tigt“, erklärt er. Dies habe zeit­liche oder orga­ni­sa­to­ri­sche Probleme zur Folge, die dazu führen können, dass es für sie schwie­riger ist, einen Impf­termin in ihrem Alltag unterzubringen.

Eine Studie der Univer­sität Bern zeigt zudem auf, dass sich Menschen mit weniger finan­zi­ellen Mitteln und in prekären Arbeits­be­din­gungen weniger testen lassen. Dies bestä­tigt Gribi: „Menschen mit tieferen Einkommen befürchten, dass sie bei einem allfäl­ligen posi­tiven Entscheid Arbeits­ein­sätze nicht mehr leisten könnten. Dadurch würden sie existen­zi­elle Einnahmen verlieren.“ 

Ein weiteres Problem stelle der Zugang zu Infor­ma­tionen dar: „Armuts­be­trof­fene Menschen haben oft schlech­teren Zugang zu Online-Infor­ma­tionen, weil ihnen die notwen­dige Infra­struktur oder auch digi­tale Kompe­tenzen fehlen.“ Somit kann auch die bisher erfor­der­liche Online-Regi­strie­rung für die Impfung eine Hürde sein.

Weiter zeigt die Studie der Univer­sität Bern, dass Menschen mit tiefem sozio­öko­no­mi­schen Status zu jenen gehören, die dem Virus am stärk­sten ausge­setzt sind. Sie haben somit eine höhere Wahr­schein­lich­keit, hospi­ta­li­siert zu werden oder daran zu sterben. Die Abschaf­fung von Gratis­tests würde sie zudem in zahl­rei­chen Lebens­be­rei­chen stark treffen.

Die Gratis­tests haben Unge­impften bis anhin Zugang zu Veran­stal­tungen oder Frei­zeit­ak­ti­vi­täten verschafft. Deren Abschaf­fung würde genau Unge­impfte mit tiefen Einkommen am stärk­sten treffen, obwohl sie dieje­nigen sind, die Nach­teile beim Zugang erfahren.

Zurzeit kostet ein Antigen-Schnell­test um die 50, ein PCR-Test um die 150 Franken. „Menschen mit kleinem Einkommen werden sich, sofern sie sich nicht impfen lassen, noch weniger testen lassen“, warnt Gribi. Armuts­be­trof­fene, die sich schon jetzt nicht testen lassen, würden das auch in Zukunft nicht tun. „Die Abschaf­fung der Gratis­tests wird wohl auch die Impf­be­reit­schaft in dieser Ziel­gruppe kaum erhöhen können“, schätzt er die Situa­tion ein. 

Mit dem stark limi­tierten Zugang zu Veran­stal­tungen und Akti­vi­täten komme zudem ein nega­tiver Effekt auf die soziale Inte­gra­tion hinzu. Und das, obwohl Menschen mit tiefem Einkommen auch vor Corona dieje­nigen waren, die für die Teil­nahme am sozialen Leben aufgrund ihres sozio­öko­no­mi­schen Status mit mehr Einschrän­kungen konfron­tiert waren.

Ausbau nieder­schwel­liger Angebote

Ein wich­tiger Punkt der Impf­stra­tegie des Bundes­rates lag in der voll­stän­digen Über­nahme der Kosten der Impfung durch die Kran­ken­kasse. „Das dürfte die Impf­be­reit­schaft von Menschen mit wenig Geld erhöht haben“, meint Gribi. Es gibt jedoch noch weitere Anreize, mit denen man die Impf­be­reit­schaft in dieser sozialen Gruppe stei­gern könnte.

Im Bundes­land Thüringen in Deutsch­land zum Beispiel sorgte die „Brat­wurst-Impfung“ für Schlag­zeilen. Wer sich impfen liess, erhielt danach eine Brat­wurst umsonst. Im Impf­zen­trum tauchten an diesem Tag beinahe doppelt so viele Menschen wie gewöhn­lich auf. Der Impf­an­reiz basierte also auf einer Beloh­nung. Dass eine kosten­lose Brat­wurst ein Beweg­grund sein könnte, sich impfen zu lassen, mag erstaunen. Doch hierbei handelt es sich um eine Beloh­nung, die auf die Entschei­dungs­me­cha­nismen ärmerer Menschen zuge­schnitten ist.

Bisher hat die Schweiz in ihrer Impf­kam­pagne weniger auf Anreize in Form von Beloh­nung oder Bestra­fung gesetzt, sondern eher auf Kommu­ni­ka­tion und Infor­ma­tion. Nun steuert die Schweiz so wie viele andere Länder in Rich­tung eines Anreiz­sy­stems, das folgen­der­massen funk­tio­niert: Bestra­fung von Unge­impften in Form von Einschrän­kungen und Beloh­nung von Geimpften in Form von zurück­er­langten Freiheiten.

Zentral für die Impf­be­reit­schaft sei laut Gribi, dass die Möglich­keiten, sich spontan ohne Anmel­dung impfen zu lassen, sowie weitere nieder­schwel­lige Ange­bote für Personen, die über keinen Ausweis oder Kran­ken­ver­si­che­rung verfügen, ausge­baut werden. Diesen Ansatz haben einige Kantone im Sommer, während grosse Impf­zen­tren ihre Türen schlossen, mit Walk-in-Impf­zen­tren aufge­griffen. Vor dem Fuss­ball­sta­dion in St. Gallen werden bei den Heim­spielen des FC St. Gallen Spon­tan­imp­fungen ange­boten. Im Aargau konnten sich Menschen vor der Migros impfen lassen, während in Zürich oder Schaff­hausen Impf­busse durch die Kantone touren. Nun sollen unge­impfte Menschen bis im Oktober noch Zeit haben, um im sozialen Leben keine Nach­teile zu erfahren. Sollten die nieder­schwel­ligen Ange­bote funk­tio­nieren, müsste es im September zu einem Impfan­drang kommen.

Ob und wie die verschie­denen Stra­te­gien und Anreize funk­tio­nieren, wird sich in den näch­sten Monaten zeigen. Zentral für eine demo­kra­ti­sche und soli­da­ri­sche Gesell­schaft ist jedoch, dass vulnerable Menschen im poli­ti­schen Entschei­dungs­pro­zess nicht vergessen gehen dürfen. Bevor der Impf­druck erhöht wird, muss der Bundesrat deshalb alles daran setzen, diese Menschen abzuholen.

Dies hat er bis jetzt nicht gemacht. Hingegen haben einige Kantone mit nieder­schwel­ligen Ange­boten früher auf die stagnie­rende Impf­quote reagiert. Für den Bundesrat wäre es nun also höchste Zeit, mit einer gross­an­ge­legten Kampagne, die solche Ange­bote bewirbt, nachzuziehen.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 10 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 780 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel