Eine europäische Regierung nach der anderen erhöhte in den vergangenen Wochen angesichts der stagnierenden Impfquoten und den steigenden Fallzahlen den Impfdruck. In der Schweiz will der Bundesrat die Zertifikatspflicht ab Oktober auf Innenräume wie Restaurants oder Museen ausweiten. Zudem müssen Schweizer:innen ohne Symptome Tests und Selbsttests, die für Ungeimpfte der einzige Weg zu einem Zertifikat sind, ab dem 1. Oktober selber zahlen. Das Argument: Die Steuerzahler:innen sollen nicht mehr für Ungeimpfte zahlen. Schliesslich hätten sich alle Impfwilligen bis heute impfen lassen können. Zurzeit beträgt die Impfquote der Personen mit mindestens einer Impfdosis rund 57 Prozent.
Was sich zunächst plausibel anhört, bedarf jedoch einer näheren Betrachtung. Denn beim Zugang zur Impfung und der Impfbereitschaft handelt es sich nicht bloss um eine Willensfrage, sondern auch um eine soziale Frage. Neben konsequenten Impfverweigerer:innen gibt es Menschen, die aus sozioökonomischen Gründen über weniger Zugang zur Impfung und den dazugehörigen Informationen verfügen. Gerade sie tragen aber unter der neuen Strategie überproportional die Kosten und Konsequenzen.
Doch welche Versuche hat die Schweizer Politik unternommen, um die Impfbereitschaft dieser Menschen zu erhöhen? Hat sie die Hürden beim Zugang zur Impfung rechtzeitig minimiert, bevor sie den Druck auf Ungeimpfte erhöht?
Nachteile beim Zugang zur Impfung
Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat anhand eines COVID-19 Social Monitors regelmässige Befragungen in der Schweizer Bevölkerung durchgeführt. Im Juli wurde im Rahmen dieses Forschungsprojekts eine Studie zum Impffortschritt in der Schweiz publiziert. Es handelt sich um eine Momentaufnahme, Stand Anfang Juni. Die Kernfragen lauten: Wer hat sich impfen lassen und wer will noch?
Personen mit hohem Haushaltseinkommen wiesen zu jener Zeit eine etwas höhere Impfquote auf als solche mit mittlerem oder tiefem Haushaltseinkommen. Auch beim Bildungsgrad und dem Wohnort sind potenzielle Impfgräben erkennbar. Die aktuellste Erhebung des SRG-Corona-Monitors zeigt für dieselben Kategorien ähnliche Tendenzen auf.
Die Caritas hat während der Pandemie Beratungsangebote und finanzielle Überbrückungshilfen für einkommensschwache Menschen geleistet. Mediensprecher Stefan Gribi sagt gegenüber das Lamm, dass neben individuellen auch strukturelle Gründe einkommensschwachen Menschen den Zugang zur Impfung erschweren würden. „Menschen, die sehr viel arbeiten und trotzdem zu wenig verdienen, sind sehr stark mit ihrer Existenzsicherung beschäftigt“, erklärt er. Dies habe zeitliche oder organisatorische Probleme zur Folge, die dazu führen können, dass es für sie schwieriger ist, einen Impftermin in ihrem Alltag unterzubringen.
Eine Studie der Universität Bern zeigt zudem auf, dass sich Menschen mit weniger finanziellen Mitteln und in prekären Arbeitsbedingungen weniger testen lassen. Dies bestätigt Gribi: „Menschen mit tieferen Einkommen befürchten, dass sie bei einem allfälligen positiven Entscheid Arbeitseinsätze nicht mehr leisten könnten. Dadurch würden sie existenzielle Einnahmen verlieren.“
Ein weiteres Problem stelle der Zugang zu Informationen dar: „Armutsbetroffene Menschen haben oft schlechteren Zugang zu Online-Informationen, weil ihnen die notwendige Infrastruktur oder auch digitale Kompetenzen fehlen.“ Somit kann auch die bisher erforderliche Online-Registrierung für die Impfung eine Hürde sein.
Weiter zeigt die Studie der Universität Bern, dass Menschen mit tiefem sozioökonomischen Status zu jenen gehören, die dem Virus am stärksten ausgesetzt sind. Sie haben somit eine höhere Wahrscheinlichkeit, hospitalisiert zu werden oder daran zu sterben. Die Abschaffung von Gratistests würde sie zudem in zahlreichen Lebensbereichen stark treffen.
Die Gratistests haben Ungeimpften bis anhin Zugang zu Veranstaltungen oder Freizeitaktivitäten verschafft. Deren Abschaffung würde genau Ungeimpfte mit tiefen Einkommen am stärksten treffen, obwohl sie diejenigen sind, die Nachteile beim Zugang erfahren.
Zurzeit kostet ein Antigen-Schnelltest um die 50, ein PCR-Test um die 150 Franken. „Menschen mit kleinem Einkommen werden sich, sofern sie sich nicht impfen lassen, noch weniger testen lassen“, warnt Gribi. Armutsbetroffene, die sich schon jetzt nicht testen lassen, würden das auch in Zukunft nicht tun. „Die Abschaffung der Gratistests wird wohl auch die Impfbereitschaft in dieser Zielgruppe kaum erhöhen können“, schätzt er die Situation ein.
Mit dem stark limitierten Zugang zu Veranstaltungen und Aktivitäten komme zudem ein negativer Effekt auf die soziale Integration hinzu. Und das, obwohl Menschen mit tiefem Einkommen auch vor Corona diejenigen waren, die für die Teilnahme am sozialen Leben aufgrund ihres sozioökonomischen Status mit mehr Einschränkungen konfrontiert waren.
Ausbau niederschwelliger Angebote
Ein wichtiger Punkt der Impfstrategie des Bundesrates lag in der vollständigen Übernahme der Kosten der Impfung durch die Krankenkasse. „Das dürfte die Impfbereitschaft von Menschen mit wenig Geld erhöht haben“, meint Gribi. Es gibt jedoch noch weitere Anreize, mit denen man die Impfbereitschaft in dieser sozialen Gruppe steigern könnte.
Im Bundesland Thüringen in Deutschland zum Beispiel sorgte die „Bratwurst-Impfung“ für Schlagzeilen. Wer sich impfen liess, erhielt danach eine Bratwurst umsonst. Im Impfzentrum tauchten an diesem Tag beinahe doppelt so viele Menschen wie gewöhnlich auf. Der Impfanreiz basierte also auf einer Belohnung. Dass eine kostenlose Bratwurst ein Beweggrund sein könnte, sich impfen zu lassen, mag erstaunen. Doch hierbei handelt es sich um eine Belohnung, die auf die Entscheidungsmechanismen ärmerer Menschen zugeschnitten ist.
Bisher hat die Schweiz in ihrer Impfkampagne weniger auf Anreize in Form von Belohnung oder Bestrafung gesetzt, sondern eher auf Kommunikation und Information. Nun steuert die Schweiz so wie viele andere Länder in Richtung eines Anreizsystems, das folgendermassen funktioniert: Bestrafung von Ungeimpften in Form von Einschränkungen und Belohnung von Geimpften in Form von zurückerlangten Freiheiten.
Zentral für die Impfbereitschaft sei laut Gribi, dass die Möglichkeiten, sich spontan ohne Anmeldung impfen zu lassen, sowie weitere niederschwellige Angebote für Personen, die über keinen Ausweis oder Krankenversicherung verfügen, ausgebaut werden. Diesen Ansatz haben einige Kantone im Sommer, während grosse Impfzentren ihre Türen schlossen, mit Walk-in-Impfzentren aufgegriffen. Vor dem Fussballstadion in St. Gallen werden bei den Heimspielen des FC St. Gallen Spontanimpfungen angeboten. Im Aargau konnten sich Menschen vor der Migros impfen lassen, während in Zürich oder Schaffhausen Impfbusse durch die Kantone touren. Nun sollen ungeimpfte Menschen bis im Oktober noch Zeit haben, um im sozialen Leben keine Nachteile zu erfahren. Sollten die niederschwelligen Angebote funktionieren, müsste es im September zu einem Impfandrang kommen.
Ob und wie die verschiedenen Strategien und Anreize funktionieren, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Zentral für eine demokratische und solidarische Gesellschaft ist jedoch, dass vulnerable Menschen im politischen Entscheidungsprozess nicht vergessen gehen dürfen. Bevor der Impfdruck erhöht wird, muss der Bundesrat deshalb alles daran setzen, diese Menschen abzuholen.
Dies hat er bis jetzt nicht gemacht. Hingegen haben einige Kantone mit niederschwelligen Angeboten früher auf die stagnierende Impfquote reagiert. Für den Bundesrat wäre es nun also höchste Zeit, mit einer grossangelegten Kampagne, die solche Angebote bewirbt, nachzuziehen.
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