Lese­tipp Nr.4: Grad­li­nige Ode an die Jugend

Das Lamm macht Ferien. Bis zum 30. August gönnen wir uns eine Auszeit. Aber wir sind nicht ganz weg! Hier teilen Redakteur:innen ihre Sommer­lek­türe mit euch. Vierter Tipp auf der Lese­liste: „Dicht“ von Stefanie Sargnagel. 

Liebe Leser:in: Bereust du, irgendwas an deiner Jugend? Warst du zu brav? Zu ange­passt? Hast du Dinge nicht gemacht, die du heute gerne nach­holen würdest, für die du jetzt jedoch zu alt bist?

Stefanie Sarg­na­gels Jugend im Wien der 90er-Jahre war vieles, aber bestimmt nicht lang­weilig oder wenig ereig­nis­reich. Das Buch, welches die heute 35-Jährige über diese Zeit geschrieben hat ist irgendwie jetzt schon Kult, auch wenn es vor nicht mal einem Jahr erschienen ist.

In Dicht, einem kleinen roten Büch­lein, das man gut und gerne auch in einer Nacht durch­lesen kann, erzählt Sarg­nagel eine zeit­ge­nös­si­sche, authen­ti­sche und grad­li­nige Geschichte, ohne Schnick­schnack, ohne sprach­liche Verren­kungen und ganz eindeutig ohne den Drang, sich sprach­lich zu profi­lieren oder jemandem etwas beweisen zu müssen. Ihr auto­bio­gra­fi­scher Debüt­roman handelt von der Flucht aus der Lange­weile des Alltags, dem Durst nach Erleben und dem Rausch der Jugend, von Drogen, von schweren Krank­heiten, alten und neuen Freunden, von einer multi­kul­tu­rellen Stadt und all ihren Bewohner:innen, vom Versagen und, so abge­dro­schen es klingen mag, von Freundschaft.

Statt sich dem öden Schul­alltag hinzu­geben, verbringt die Ich-Erzäh­lerin ihre Zeit auf den Strassen Wiens, wo sie unter dem Einfluss diverser Substanzen allerlei Bekannt­schaften macht: Säufer und Hippies, Kriegs­trau­ma­ti­sierte und verun­si­cherte Nazis, Arbeits­lose und schi­zo­phrene Mathe­ma­tiker. Wer Sarg­na­gels Aufzeich­nungen liest, erkennt entweder sich selbst in ihren Erzäh­lungen wieder oder bereut, nie eine so ausge­las­sene Jugend gehabt zu haben. Es sind unmit­tel­bare Bekannt­schaften, welche die Autorin in simpler Sprache skiz­ziert, ohne sie zu werten oder gegen­ein­ander auszuspielen.

Trotz aller Unbe­fan­gen­heit wirft Dicht auf subtile Art und Weise auch Fragen auf: Welche Optionen existieren neben dem linearen Bildungsweg? Welche Vorbilder gibt es für junge Menschen in einer hyper­in­di­vi­dua­li­sierten, auf Leistung und intel­lek­tu­elle Aner­ken­nung ausge­legten Gesell­schaft? Welche Räume gibt es, in denen sich junge Menschen frei bewegen können, Räume, die frei sind von Konsum­zwang oder den kontrol­lie­renden Augen Erwachsener?

Die Prot­ago­ni­stin findet einen solchen Raum in der Wohnung eines verwahr­lo­sten, queeren und schwer­kranken Vier­zig­jäh­rigen: Michi. In dem exzen­tri­schen Mann findet sie auch ein Vorbild – und nicht nur sie.

Sarg­na­gels Debüt ist eine Geschichte, die ganz ohne mora­li­sche Zwänge auskommt, ohne jedoch dabei in zwang­hafte Cool­ness oder das unsym­pa­thi­sche Runter­leiern von Räuber­ge­schichten zu verfallen. Es ist eine Geschichte, die nicht nur nach einein­halb Jahren Pandemie Lust darauf macht, auf die Strassen zu gehen, sich zu betrinken und neue Leute kennenzulernen.

Stefanie Sarg­nagel – Steffi, wie es im Buch steht – würde übri­gens bestimmt nicht sagen, dass sie für irgend­etwas zu alt ist oder zu bürger­lich, um Verpasstes nach­zu­holen – auch heute nicht.

Stefanie Sarg­nagel: Dicht: Aufzeich­nungen einer Tage­diebin, rohwohlt, 2020.

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