„Menschen­händler sind rich­tige psycho­lo­gi­sche Spürhunde“

Die repres­siven Migra­ti­ons­ge­setze in Europa seien mitschuld am Menschen­handel, sagt Doro Winkler von der Fach­stelle für Frau­en­handel und Frau­en­mi­gra­tion. Im Inter­view erzählt sie ausserdem, wie Frauen in die Hände von Menschen­händler gelangen und welche Lücken es im Schweizer Opfer­schutz gibt. 

Das Lamm: Letztes Jahr haben Sie bei der FIZ 255 Menschen­han­dels­fälle beraten. Über die Hälfte davon waren „Opfer von Frau­en­handel im Sexge­werbe“. Wie geraten Frauen in die Hände von Menschenhändlern?

Doro Winkler: Das vorherr­schende Bild in der Gesell­schaft ist, dass beim Menschen­handel die Frauen entführt, in einen Koffer­raum gesperrt und dann in einem Bordell hier in der Schweiz ange­kettet werden. Das entspricht nicht der Realität, sondern einem schlechten Krimi. Die Frauen migrieren meist „frei­willig“, aufgrund einer Krisen­si­tua­tion. Sie werden von Vermitt­lern angeworben.

Wer sind diese Vermittler bzw. Menschenhändler?

Das sind oft Bekannte der Frauen. Opfer von Frau­en­handel werden mit falschen Verspre­chen in die Schweiz gelockt. In ihrem Herkunfts­land sind sie meistens in einer ökono­mi­schen oder sozialen Krisen­si­tua­tion: Ihnen fehlt beispiels­weise das Geld, um ihre Miete oder die Schule ihrer Kinder zu zahlen. Dann kommt jemand aus ihrem Umfeld, ein Nachbar oder ein Ex-Partner, der ihre Situa­tion kennt. Er verspricht der Frau, ihr einen Job in der Schweiz zu besorgen, zum Beispiel in einem Restau­rant oder in einer Bar. Die Frau willigt ein, weil sie ihm vertraut.

Wieso gerade ein Job in der Schweiz?

Das kann natür­lich auch ein anderes euro­päi­sches Land sein. Aber gerade wenn die Frauen hören, es gäbe einen Job in der Schweiz, denken sie an Menschen­rechte und Wohl­stand. Das ruft bei den Frauen grosses Vertrauen hervor. Das Bild der Schweiz hilft eigent­lich den Menschenhändlern.

Was passiert, wenn die Frauen in der Schweiz ange­kommen sind?

Dann müssen sie ihre Schulden abar­beiten. Diese bestehen nicht nur aus den realen Kosten der Migra­tion, sondern es werden ihnen zusätz­liche erfun­dene Kosten aufer­legt. Den verspro­chenen Job gibt es aber nicht. Statt­dessen finden sich die Frauen in einer Zwangs­lage wieder und werden zu Arbeiten gegen ihren Willen gezwungen – in der Prosti­tu­tion, aber auch in anderen Branchen.

Doro Winkler arbeitet seit über zwanzig Jahren bei der FIZ. Neben Bildungs­ar­beit und poli­ti­scher Arbeit hat sie in diversen Kantonen an Runden Tischen gegen Menschen­handel mitge­wirkt. Sie war eben­falls am Aufbau des Schutz­pro­gramms für Opfer von Frau­en­handel betei­ligt, das heute über mehrere Schutz­häuser verfügt und Opfer von Frau­en­handel unter­stützt und lang­fri­stig berät. Heute leitet Winkler bei der FIZ das Fund­rai­sing und über­nimmt die Öffentlichkeitsarbeit.

Wieso rennen die Frauen nicht davon?

Die Frauen werden von den Menschen­händ­lern massiv unter Druck gesetzt, mit verschie­den­sten Mitteln. Es ist doppelt fatal, wenn die Menschen­händler aus ihrem Umfeld sind, weil sie dann die Familie der Frau kennen. Sie drohen, ihren Kindern etwas anzutun oder im Dorf herum­zu­er­zählen, dass sie eine „Hure“ sei, wenn sie davon­rennt. Sie wenden direkte Gewalt an und oft sagen sie der Frau auch, dass es nichts bringe, zur Polizei zu gehen, weil sie illegal hier sei und dann ins Gefängnis käme.

Die Menschen­händler mani­pu­lieren die Frauen also regelrecht.

Ja. Menschen­händler sind rich­tige psycho­lo­gi­sche Spür­hunde. Wenn eine Frau von ihrem Vater geschlagen wird, weiss der Menschen­händler, dass es gut ankommt, wenn er sie tröstet. Es gibt sogar Fälle, wo ein Menschen­händler die Frau umgarnt und ihr Aufmerk­sam­keit schenkt, bis sie sich schliess­lich sogar in ihn verliebt. Eine bekannte und perfide Anwerbungsmethode.

Wie gelangen die Opfer von Frau­en­handel schliess­lich an die FIZ?

Ein grosser Teil der Frauen wird durch NGOs an uns verwiesen. Das sind Stellen, die aufsu­chende Arbeit machen und so mit poten­zi­ellen Opfern in Kontakt kommen. Viele kommen auch über die Polizei. Vor allem in den Kantonen, in denen es auf Menschen­handel spezia­li­sierte Abtei­lungen gibt. Mit ihnen läuft die Zusam­men­ar­beit sehr gut. Doch leider wissen nicht alle poli­zei­liche Behörden, was Menschen­handel ist und wie er sich äussert.

Was meinen Sie damit?

Es gibt immer noch Behörden in gewissen Kantonen oder Städten, die zum Beispiel in einem Bordell eine Kontrolle machen und danach steht in der Zeitung: „Sieben ille­gale Rumä­ninnen verhaftet und ausge­schafft.“ Das könnten Opfer von Menschen­handel gewesen sein, aber das hat niemand gemerkt oder abge­klärt. Es wurden nur die Aufent­halts­titel kontrolliert.

Wenn die Polizei es aber merkt, verweist sie an die FIZ. Wie läuft das dann ab?

Das ist ganz unter­schied­lich. Manchmal bringt die Polizei die Frau direkt zu uns, manchmal gibt es zuerst einen tele­fo­ni­schen Kontakt. Es kann auch eine Weile dauern, bis die Frauen sich trauen, zu uns zu kommen. Sie möchten zuerst wissen: Wer ist die FIZ, was sind meine Optionen, was sind meine Rechte? Dann braucht es eine Stabi­li­sie­rung. Sie kommen in einer unserer Schutz­woh­nungen zur Ruhe, und es wird eine Aufenthalts­bewilligung bean­tragt. In der ersten Phase heisst diese „Erho­lungs- und Bedenkzeit“.

Wo stösst die FIZ an ihre Grenzen?

Es ist eine Heraus­for­de­rung für uns, wenn die Frauen sucht­mit­tel­ab­hängig gemacht worden sind. Das sehen wir immer wieder. Die Frauen bekommen Kokain, weil sie damit besser arbeiten und die Situa­tion besser aushalten. Wenn sie aus der Situa­tion heraus­kommen, sind sie abhängig. Wir unter­stützen auch immer wieder Frauen, denen es psychisch nicht gut geht. Das ist absolut nach­voll­ziehbar, aber schwierig für uns. Da arbeiten wir eng mit anderen Fach­leuten und Orga­ni­sa­tionen zusammen.

Sie haben vorhin die „Erho­lungs- und Bedenk­zeit“ ange­spro­chen. Diese dauert 30 Tage. Was passiert in dieser Zeit?

In dieser Zeit versu­chen wir zu klären, ob die Frau tatsäch­lich ein Opfer von Frau­en­handel ist. Wenn sich das bestä­tigt, müssen die Frauen sich entscheiden, ob sie gegen ihre Täter aussagen möchten oder nicht. Wir begleiten sie bei diesem schwie­rigen Entscheid: Wir bespre­chen Risiken und Folgen und klären die Frauen auch darüber auf, wie viel Kraft ein Straf­ver­fahren von ihnen verlangt. Falls die 30 Tage dafür nicht ausrei­chen, können wir eine Verlän­ge­rung beantragen.

Laut Ihrem Jahres­be­richt sind 70 bis 80 Prozent der Betrof­fenen bereit, gegen ihre Täter auszu­sagen. Wieso ist diese Zahl so hoch?

Den Frauen ist es sehr wichtig, dass ihre Täter verur­teilt werden. Es ist wie eine Aner­ken­nung der Unge­rech­tig­keit, die ihnen angetan wurde. Die Frauen wagen diesen Schritt aber auch nur, weil sie sich verstanden und geschützt fühlen. Sie nehmen den Prozess aber auf sich, obwohl sie nicht wissen, ob sie lang­fri­stig in der Schweiz bleiben dürfen. Es gibt Frauen, die nach dem Verfahren zurück in ihr Herkunfts­land müssen. Wenn das unzu­mutbar ist, bean­tragen wir eine Härtefallbewilligung.

Wird diese in der Regel erteilt?

Gewisse Frauen bekommen die Härte­fall­be­wil­li­gung, andere nicht. Es ist eine Lücke, dass die Schweiz den Opfern keinen lang­fri­stigen Schutz garantiert.

Was passiert mit Frauen, die sich gegen eine Aussage entscheiden?

Diese müssen grund­sätz­lich zurück in ihr Herkunfts­land, in Ausnah­me­fällen kann eine Härte­fall­be­wil­li­gung erteilt werden. Viele Frauen möchten zurück. Hier in der Schweiz haben sie nur Furcht­bares erlebt. Dann kommt es auf die Situa­tion in ihrem Herkunfts­land an: Ist die Täter­schaft noch dort, ist die Frau dort sicher, hat sie ein Einkommen? Wir begleiten die Frauen auch bei diesem Prozess.

Die Frauen, die in ihr Herkunfts­land zurück­kehren, erhalten vom Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM) eine mone­täre „Rück­kehr­hilfe“. Funk­tio­niert diese?

Für die Frauen, die zurück­kehren möchten, finde ich es hilf­reich als eine Start­hilfe. Aber natür­lich ist die Rück­kehr­hilfe auch ein Ausdruck der restrik­tiven schwei­ze­ri­schen Migra­ti­ons­po­litik. Meiner Meinung nach sollten die Frauen immer die Wahl haben, ob sie in der Schweiz bleiben oder zurück­kehren möchten.

Was begün­stigt Menschenhandel?

Ein grund­sätz­li­ches Problem sind die sehr repres­siven Migra­ti­ons­ge­setze, die Europa kennt. Das macht es für Menschen sehr schwierig, selbst­be­stimmt zu migrieren. Sie sind also ange­wiesen auf jemanden, der ihnen bei der Migra­tion hilft. So geraten die Menschen schneller in eine Abhän­gig­keit. Das ist ganz klar ein begün­sti­gender Faktor.

Wo besteht Handlungsbedarf?

Ein wich­tiger Bereich sind Opfer von Frau­en­handel, die als Geflüch­tete in die Schweiz kommen. Diese Frauen kommen zum Beispiel ursprüng­lich aus einem afri­ka­ni­schen Land, wurden nach Italien oder Frank­reich gebracht, dort ausge­beutet und dann flüchten sie in die Schweiz. Das Problem ist, dass sie im Rahmen des Dublin-Verfah­rens zurück nach Italien müssen. Und die Schweiz wendet dieses Dublin-Verfahren ziem­lich streng an.

Kann die FIZ da trotzdem irgendwie helfen?

Wir unter­stützen Rekurse gegen diese Entscheide und setzen uns für die Frauen ein, damit sie in der Schweiz bleiben können. Ein weiteres Problem ist, dass die Opfer­hilfe nicht zahlt, wenn es keinen Tatort in der Schweiz gibt. Das ist eine riesige Lücke. Wir versu­chen, diese auf poli­ti­schem Weg anzugehen.

Da spielt auch die euro­päi­sche Politik mit rein. Was kann die Schweiz konkret verbessern?

Es braucht in allen Kantonen auf Menschen­handel spezia­li­sierte Einheiten in den Straf­ver­fol­gungs­be­hörden. Momentan hat das Opfer Glück oder Pech, je nachdem, wo es ausge­beutet wurde, ob es erkannt wird und spezia­li­sierte Unter­stüt­zung erhält. Auch sollte das Aufent­halts­recht nicht an die Bedin­gung geknüpft sein, dass die Frauen gegen ihre Täter aussagen. Wenn die Schweiz schon nicht hat verhin­dern können, dass die Frauen ausge­beutet werden, sollte sie ihnen wenig­stens lang­fri­stigen Schutz garantieren.

Madame Phila hat anhand einer aufge­schrie­benen Erzäh­lung der FIZ die Geschichte eines Opfers von Frau­en­handel illustriert:


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 26 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1612 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Revolte statt Rosen

Der 8. März wird vielerorts als „Hommage an das weibliche Geschlecht“ verstanden. Dabei wird die politische Dimension des Tages komplett ignoriert. Eine Chronologie von über hundert Jahren proletarischem, feministischem Kampf.