Der Wahlkampf startet mit einer Katastrophe. Über 150 Menschen sterben in zwei deutschen Bundesländern wegen Starkregen. Neben dem akuten Katastrophenschutz kommt auch die Frage auf: Was tun gegen die Klimakrise? Armin Laschet, Kanzlerkandidat der CDU und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat darauf keine Antwort. „Weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik“, sagt er in einem Interview, bei der auf den Zusammenhang zwischen Klimakrise und der Flutkatastrophe aufmerksam gemacht wird.
Natürlich muss bei einer Flutkatastrophe zuerst den Notleidenden geholfen werden. Aber eine Antwort, die die Klimakrise ausser Acht lässt, verhöhnt die Opfer. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die Antworten der Parteien entscheidend sind für den Wahlkampf zur deutschen Bundestagswahl am 26. September.
Am 26. September 2021 wird der deutsche Bundestag gewählt. Bei der Wahl treten 53 Parteien an, von denen vermutlich sieben in den Bundestag ziehen werden.
CDU: Christlich Demokratische Union Deutschlands, stellt zur Zeit die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nach 16 Jahren tritt sie ab. Ihr Kanzlerkandidat ist Armin Laschet, der derzeitige Ministerpräsident, also Vorsitzender des Landesparlaments, des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.
CSU: Christlich-Soziale Union Deutschlands, der bayrische Ableger der CDU. Bildet gemeinsam mit dieser eine Fraktion im Bundestag. Ihr Spitzenkandidat ist Alexander Dobrindt.
SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die älteste Partei Deutschlands, ehemals stand sie der Arbeiter:innen-Klasse nah. Nun kämpft sie mit sinkenden Umfragewerten. Ihr Kanzlerkandidat ist Olaf Scholz.
Grüne: Eigentlich Bündnis 90/Die Grünen. Der Name markiert in gewisser Weise die Einigkeit beider Deutschlands: In Westdeutschland gründete sich die Partei Die Grünen als Partei des Umweltschutzes, in Ostdeutschland stand die Partei der Bürgerbewegung nah. Ihre Kanzlerkandidatin ist Annalena Baerbock.
Die Linke: Oft auch Linkspartei genannt. Auch Die Linke entstand aus Parteien der beiden Deutschlands. Die Linkspartei war auch lange nach der Wiedervereinigung erfolgreich im Osten Deutschlands. Ihre Spitzenkandidat:innen sind Janine Wissler, die dem linken Flügel der Partei angehört, und Dietmar Bartsch, der dem sogenannten Reformerlager der Linken angehört.
FDP: Freie Demokratische Partei, die lange Zeit neben der SPD und CDU in Westdeutschland mitregierte. Die FDP ist marktliberal und scheiterte 2013 erstmals daran, in den Bundestag zu kommen. Zur kommenden Bundestagswahl stellt sie ihren Fraktionschef Christian Lindner als Spitzenkandidat auf.
AfD: Alternative für Deutschland, die wie viele rechtspopulistischen Parteien mit Hetze gegen Geflüchtete und Leugnen der menschengemachten Klimakrise Wahlkampf macht.
Es gibt drei Kandidat:innen für das Kanzler:innenamt: den bereits erwähnten Armin Laschet für die Union, Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne). Neben Baerbock und Laschet verblasst Scholz als Kanzler:innenkandidat, er ist der Egalste in der Runde. Scholz glaubt typisch SPD, er könne irgendwie allen alles recht machen und zum Schluss weiss niemand so recht, woran er:sie ist.
Armin Laschet dagegen schweigt gerne, weicht jeder Frage gekonnt aus und reagiert in Interviews gerne beleidigt. In der Zeit sagte er pampig: „An allem, was schiefläuft, bin ich schuld, und alles, was gut läuft, ist die Vorgängerregierung gewesen.“
Dass die Grünen ins Kanzleramt streben, ist ein Novum. Als sie im April verkündeten, dass sie die 40-jährige Annalena Baerbock dazu aufstellen wollen, stiegen die Umfragewerte der Partei rasant. Ende April lag die Partei in Meinungsumfragen vorn, hängte sogar die derzeitige Kanzlerin-Partei CDU ab.
Eine Grüne als Kanzlerin, ist das möglich? Kurz schien es so, als sei Deutschland im 21. Jahrhundert angekommen: eine Partei zu wählen, die für Klimaschutz eintritt, noch dazu eine Mutter von zwei Grundschulkindern, die sagte, dass sie die Care-Arbeit hauptsächlich ihrem Mann überlassen wird, würde sie Kanzlerin werden. Noch dazu eine Politikerin ohne Regierungserfahrung.
Das beeindruckte die Deutschen anscheinend, die Grünen waren auf einem Hoch. Es schien logisch: zwei Jahre Fridays For Future, Umfragen, die bestätigen, dass die Deutschen bereit wären für Massnahmen, die das Klima stärker schützen als bislang beschlossen und das Verfassungsgericht, das bestätigt, dass der Klimaschutz der Bundesregierung nicht weit genug geht. Es entschied, dass das deutsche Klimaschutzgesetz teilweise verfassungswidrig ist, weil Vorgaben fehlen, die Treibhausgas-Emissionen für die Zeit nach 2030 ausreichend zu senken. Das Gericht verpflichtete die deutsche Bundesregierung dazu, nachzubessern, um die grundrechtlich gesicherte Freiheit zu wahren. Dazu eine Kanzlerkandidatin, die qua Partei für Klimaschutz steht wie keine andere. Was ein Match.
Dann aber schlug die Stimmung um, eine Kleinigkeit nach der anderen kam ans Licht: Baerbock meldete Nebeneinkünfte nach, änderte ihren Lebenslauf und veröffentlichte ein Buch, in dem sie plagiiert haben soll. Der Plagiatsjäger veröffentlichte seine Vorwürfe scheibchenweise in der Bild, die Grünen sahen sich diffamiert, von „Trumpismus im Wahlkampf“ sprachen einige. Souverän und besonders strategisch waren diese Reaktionen nicht. Und zack: Die Werte der Grünen sanken bis auf zuletzt 19 Prozent herab, Baerbock stand im Rampenlicht des Wahlkampfs, sie und die Grünen wurden immer defensiver.
Es würde nicht mehr über Inhalte gesprochen werden, beklagten sich viele Grüne. Dabei stellt sich die Frage: Ist das Klimaschutzprogramm der Grünen so radikal?
Die Grünen schreiben in ihrem Wahlprogramm, dass sie ihre „Kraft darauf lenken, Massnahmen auf den Weg zu bringen, die uns auf den 1,5‑Grad-Pfad führen“. Sie wollen ab 2030 keine Verbrennungsmotoren mehr zulassen und heben detailliert hervor, was sie klimaneutral gestalten wollen (Sportveranstaltungen, Bundesverwaltungen, Energieversorgung). Die Grünen schreiben, dass sie weg von Kohle, Öl und fossilem Gas als Energielieferant und hin zu Sonnen- und Windenergie wollen. Angetrieben werden soll das von einem Klimaschutzprogramm.
Die Grünen haben also konkrete Vorschläge, wie der Klimaschutz gestaltet werden soll. Doch reicht das? Schaut man sich das Parteiprogramm der Linken an, merkt man schnell: Hier hat man ebenfalls verstanden, dass soziale Gerechtigkeit nicht hergestellt werden kann in einer Welt, die wegen der Klimakrise lebensfeindlich wird.
Die Linken wollen laut Wahlprogramm den Verbrennungsmotor ebenfalls bis 2030 verbieten, aber schon vorher klimaneutral werden: bis 2035 und nicht erst, wie die Grünen vorschlagen, 2040. Wie die Grünen wollen auch die Linken bis 2030 einen Kohleausstieg, dabei erwähnt die Linkspartei explizit, dass das Steinkohlekraftwerk Datteln 4 sofort abgestellt werden muss. Eine solche Forderung sucht man im Wahlprogramm der Grünen vergebens. Ausserdem fordert Die Linke den Straftatbestand des „Ökozids“, also die strafrechtliche Verfolgung von Umweltzerstörung.
Und auch von weiteren linken Parteien wird Druck auf die Grünen ausgeübt: So haben Klima-Aktivist:innen die Klimaliste gegründet, die die Einhaltung des Pariser Einkommens zur obersten Priorität erhebt.
Ein Blick ins Wahlprogramm der Parteien zeigt also: Eine Angriffsfläche auf inhaltlicher Ebene wäre auch durchaus bei den Grünen gegeben. Warum fordern sie nicht ähnlich wie die Linkspartei, dass Datteln 4 sofort abgestellt wird? Wieso fordern die Grünen, dass Deutschland erst 2040 klimaneutral werden soll? Wenn sich das Wahlprogramm schon vorher wie ein Kompromiss-Katalog liest – was bedeutet das für die Koalitionsverhandlungen? Kann so das 1,5‑Grad-Ziel eingehalten werden? Alles Dinge, über die sich diskutieren liesse. Wer im Vorhinein schon Kompromisse schliesst, der muss bei Koalitionsverhandlungen noch weiter von den eigenen Zielen abrücken.
Doch die Klimaprogramme von SPD, Union und FDP liefern dazu keine befriedigende Antwort. Es nützt deshalb den anderen Parteien, vor allem der Union, wenn auf Baerbock und die Grünen eingedroschen wird – seien die Vorwürfe noch so klein.
Während diskutiert wird, ob Baerbock tatsächlich plagiiert hat, haftet der Union ein Maskenskandal nach dem anderen an: Mitglieder der Union verteilten staatliche Aufträge ohne Ausschreibung an Maskenlieferant:innen, darunter war auch ein Autozulieferer. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) soll zudem vorgeschlagen haben, minderwertige FFP2-Masken an obdachlose und behinderte Menschen zu verteilen.
Dass auch Laschets Lebenslauf nicht korrekt war, schien kaum zu interessieren. Es ist ein Wahlkampf, der prima ablenkt von den Klimaschutzprogrammen der Parteien, und auch davon, wie wenig radikal sich die Grünen positionieren, um regierungsfähig zu sein.
Auch hängt viel von den Medien ab, die den Wahlkampf mitbeeinflussen. Es gibt aus dem Ausland finanzierte Kampagnen, die den deutschen Wahlkampf beeinflussen, indem sie besonders feministische und klimabewusste Parteien mittels Diffamierung und Desinformation angreifen. Dazu gibt es in Deutschland viele konservative Medien, die gegen die Grünen anschreiben.
Doch seitens rechter und bürgerlicher Position wird oft behauptet, deutsche Journalist:innen seien zu links oder Grünen-nah. Das führt dazu, dass vermeintlich linke und Grünen-nahe Medien betont meinungsverschieden mit der „Causa Baerbock“ umgehen. Die Medienlandschaft ist dadurch in gewisser Weise unausgeglichen.
Die Flutkatastrophe zwingt die Parteien nun zu einer klaren Positionierung: Welche Massnahmen müssen ergriffen werden, um solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern? Welche Gesetze müssen beschlossen werden, damit sich die Pariser Klimaziele einhalten lassen? Die Grünen haben jahrelange Expertise sammeln können, um diese Fragen adäquat zu beantworten. Sie müssen sich nur trauen, dieses Wissen im Wahlkampf anzuwenden. Ohne Kompromisse. Sonst werden sie von der Linkspartei in ihrem Kerngebiet übertrumpft.