Pfle­ge­initia­tive: Faire Löhne und gute Arbeits­be­din­gungen gehen „zu weit“

Trotz des Pfle­ge­not­standes empfehlen Bundesrat und Parla­ment, die Pfle­ge­initia­tive im November abzu­lehnen. Einheit­lich gere­gelte Arbeits­be­din­gungen und faire Löhne sind ihnen zu radikal. Ein Kommentar. 
Nicht erst die Pandemie treibt die Pflegenden unaufhörlich an ihr Limit (Bild: Vladimir Fedotov / Unsplash)

Am Anfang der Pandemie applau­dierte noch das ganze Land vor lauter Dank­bar­keit für die Pfle­genden „an der Front“ aus ihren Fenstern und von ihren Balkonen. Nun aber spre­chen sich Bundesrat und Parla­ment gegen die von Pfle­ge­fach­kräften lancierte Volks­in­itia­tive „Für eine starke Pflege“ (Pfle­ge­initia­tive) aus, die am 28. November vors stimm­be­rech­tigte Volk kommt. Ihnen ginge die Volks­in­itia­tive „zu weit“ – vor allem weil diese ange­mes­sene Löhne und bessere Arbeits­struk­turen verlangt.

Statt­dessen hat das Parla­ment einen indi­rekten Gegen­vor­schlag ausge­ar­beitet, der Teile der Initia­tive aufnimmt und vor allem die Ausbil­dung unter­stützen will. Auch soll das Pfle­ge­per­sonal befä­higt werden, gewisse Leistungen direkt bei den Kran­ken­kassen abrechnen zu können, ohne den büro­kra­ti­schen Umweg einer ärzt­li­chen Unter­schrift gehen zu müssen. Das wird vonseiten der Pfle­genden als wich­tiger Schritt verbucht.

Was jedoch aussen vor gelassen wird: die gesetz­lich gere­gelte Verbes­se­rung von Arbeits­be­din­gungen und Löhnen. Diese seien zwar wichtig, für deren Umset­zung sollen laut Gegen­vor­schlag aller­dings weiterhin die Kantone, Spitäler und andere Pfle­ge­or­ga­ni­sa­tionen zuständig sein. Mehr Pfle­gende möchten die Gegner:innen der Initia­tive also schon – konse­quent bessere Entlöh­nungen und Struk­turen bereit­stellen jedoch nicht.

Viel Geld für nichts

Eine gesetz­liche Rege­lung der Löhne und Arbeits­be­din­gungen in der Pflege finden Bundesrat und Parla­ment – allen voran die darin vertre­tenen konser­va­tiven Kräfte – zu viel des Guten. Am meisten Bedarf gäbe es bei der Ausbil­dung der Pfle­ge­kräfte, argu­men­tieren die Initiativ-Gegner:innen. Das Geld von einer Milli­arde Franken inner­halb der näch­sten acht Jahre solle daher Auszu­bil­denden zugutekommen.

„Das ist sehr viel“, betont Gesund­heits­mi­ni­ster Alain Berset. Aller­dings handelt es sich bei dem Betrag nur um einen Bruch­teil des Geldes, das zum Beispiel jähr­lich ins Schweizer Militär gesteckt wird: In den letzten acht Jahren waren es rund 37,7 Milli­arden Schweizer Franken. Die mangel­haften Kampf­jets, die sich der Bundesrat für fünf Milli­arden kaufen will und deren Unter­halt auf das Fünf­fache des Kauf­preises geschätzt wird, sind noch nicht mit einberechnet. 

Ausserdem nütze es wenig, in die Ausbil­dung zu inve­stieren, wenn 40 Prozent der Pfle­genden aufgrund mise­ra­bler Arbeits­be­din­gungen wieder aus dem Beruf aussteigen, argu­men­tieren Expert:innen. Ein drittel von ihnen ist unter 35 Jahre alt und die Ausbil­dung noch nicht sehr lange her. Es sind also die Arbeits­um­stände, welche die hohe Absprungrate gene­rieren. Aktuell sind über 11’700 Pfle­ge­stellen in der Schweiz unbesetzt.

Um das zu verrin­gern, müsste der Bund die Arbeits­be­din­gungen in den Pfle­ge­ein­rich­tungen und ‑orga­ni­sa­tionen einheit­lich und verbind­lich regeln. Dazu gehören zum Beispiel Vorgaben zur Höhe der Löhne. Aber auch fami­li­en­ver­träg­liche Struk­turen müssten gestärkt werden, etwa durch Vorschriften bezüg­lich der Dienstpläne.

Der Bund möchte diese Aufgabe nicht über­nehmen, und Kantone wollen sich wiederum nicht vom Bund in ihre erfolg­losen Stra­te­gien rein­reden lassen. Statt­dessen setzen die Initiativ-Gegner:innen, zu denen auch der Kran­ken­kas­sen­ver­band Santé­su­isse und der Spital­ver­band H+ gehören, weiterhin auf die Verant­wor­tung der Arbeitgeber:innen. Ein zwei­fel­haftes Unter­fangen, denn diese haben es bis heute nicht geschafft, den Pfle­ge­not­stand zu drosseln.

Weiter argu­men­tieren die Gegner:innen, dass es schneller gehen würde, direkt ein abge­schwächtes Gesetz zu erlassen, statt eine Volks­in­itia­tive umsetzen zu müssen. Ein faden­schei­niges Argu­ment, wenn man bedenkt, dass das Parla­ment auch die Möglich­keit hätte, schnelle, aber wirkungs­starke Mass­nahmen zu ergreifen, indem es faire Arbeits­be­din­gungen und faire Löhne verbind­lich im Gegen­vor­schlag inkludiert.

Lieber nicht definitiv

Ausserdem, so Bundesrat und Parla­ment, sollte die Pflege keine „Sonder­stel­lung“ in der Verfas­sung erhalten. Die medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung ist zwar bereits in der Verfas­sung veran­kert (übri­gens erst seit 2014). Nur reicht diese Erwäh­nung eben nicht, um die Lebens­rea­li­täten der Arbeiter:innen – und somit der Patient:innen – ange­messen zu gestalten. „Ausrei­chende medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung von hoher Qualität“ heisst eben auch, dass die Pfle­genden nicht konstant am Anschlag sind und es genug Kräfte gibt, die Arbeit zu bewältigen.

Und wieso sollte der Bund Anfor­de­rungen zur Berufs­aus­übung sowie Vorschriften zur Aus- und Weiter­bil­dung bestimmen dürfen, jedoch nicht dafür sorgen, dass die Arbeits­ver­hält­nisse ange­messen sind?

Der Begriff der „Sonder­stel­lung“ illu­striert sehr gut, wie der Pfle­ge­not­stand in der Schweiz gehand­habt wird: Statt die reale Krise als solche zu behan­deln, werden wirkungs­volle Mass­nahmen als zu krass dekla­riert oder als Extra­würste bezeichnet. Fast so, als würde eine verbes­serte pfle­ge­po­li­ti­sche Situa­tion nur einer vernach­läs­sig­baren Minder­heit zugu­te­kommen. Dass solch ein Gegen­vor­schlag selbst inmitten einer welt­weiten Pandemie noch möglich ist, ist ein weiteres Armuts­zeugnis der parla­men­ta­ri­schen Politik.

In der Einschät­zung der Lage sollten wir auf die Pfle­genden hören, deren Alltag der anhal­tende Notstand ist – und nicht au jene poli­ti­sche Akteur:innen, denen ange­mes­sene Löhne und menschen­wür­dige Arbeits­be­din­gungen bereits „zu weit“ gehen.


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