Herr Cúc, seit einigen Wochen protestiert die Bevölkerung von Izabal im Osten Guatemalas gegen eine Nickelmine und die dazugehörige Raffinerie. Warum ist die Bevölkerung so wütend?
Walter Cúc: Das Bergbauunternehmen Solway Group mit Hauptsitz in Zug, das sich aus russischem und Schweizer Kapital zusammensetzt, betreibt neben der Stadt El Estor eine Nickelmine und einen dazugehörigen Industriekomplex. Die grösste Sorge der Bevölkerung ist die Umweltzerstörung, insbesondere die Verschmutzung des Wassers. Satellitenbilder lassen eine Vermutung über das Ausmass der Umweltschäden zu. Vormals dichte Wälder sind heute nur noch Wüsten. Die Raffinerie liegt direkt am See Izabal, dem grössten Guatemalas, dem einzigen Ort in unserem Land, an dem die Seekuh lebt. Das Problem ist aber: Die Raffinerie leitet Teile ihrer Abfälle direkt ins Seewasser. Das betrifft insbesondere die lokalen Fischer:innen, deren wirtschaftliche Grundlage bedroht ist. Deshalb kämpfen sie seit Jahren mit Protesten und per Gericht gegen das Minenunternehmen.
Welche Rechtsmittel wurden bisher gegen das Minenunternehmen angewandt?
Leider hat Guatemala eine unvollständige Umweltgesetzgebung. Deswegen hat sich der Rechtsstreit vor allem auf die Befragung der Maya-Q’eqchi‘-Bevölkerung konzentriert. Laut dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO 169) zum Schutz der indigenen Bevölkerung, das von Guatemala unterzeichnet worden ist, hätte das Unternehmen bei der Wiederaufnahme der Produktion im Jahr 2014 die indigene Bevölkerung vor Ort zum Projekt bindend befragen müssen. Diese obligatorische Befragung fand bis dato nicht statt.
Nun finden seit mehr als einem Monat Demonstrationen statt. Warum gerade jetzt?
Im Juli 2019 befand das oberste Gericht, Solway müsse die Produktion einstellen und eine neue Befragung durchführen. Allerdings hat Solway nur einen kleinen Teil der Anlage stillgelegt, da sie behaupten, der Rest würde vom Entscheid des Gerichts nicht belangt. Die Regierung hat ihrerseits nichts unternommen, um die Arbeiten zu stoppen.
Deshalb hat die Bevölkerung vor etwa einem Monat begonnen, einzelne Wege auf friedliche Weise zu blockieren und keine Fahrzeuge des Minenunternehmens mehr durchzulassen. Als Reaktion hat die Regierung das Militär in die Region geschickt und den Ausnahmezustand mitsamt einer nächtlichen Ausgangssperre ausgerufen. Derzeit kursieren Videos, auf denen Lastwagen des Unternehmens zu sehen sind, die von staatlichen Sicherheitsbeamten bewacht werden. Mit anderen Worten: Die Regierung verteidigt etwas, das nicht zu verteidigen ist, und macht sich über die Bevölkerung und geltendes Recht lustig.
Mittlerweile finden keine Demonstrationen mehr statt. Der Ausnahmezustand verbietet dies, die Region um den See Izabal ist derzeit militärisch besetzt. Die Bevölkerung wird durch die massive Militärpräsenz mit Panzern, Drohnen und Maschinengewehren eingeschüchtert.
Sie befinden sich in Guatemala-Stadt. Wie informieren Sie sich über Lage vor Ort?
Über soziale Medien, Nachrichtensender und vor allem unsere Kontakte mit Kolleg:innen, die aus der Region berichten.
Sie sprechen von friedlichen Demonstrationen. Allerdings berichtet die Regierung, dass auch Polizist:innen verwundet wurden.
Man sagt es gebe verletzte Polizist:innen und die meisten Medien übernehmen diese Aussage. Allerdings sind wir bislang auf keine Beweise gestossen, die diese Behauptung belegen. Ehrlich gesagt fragen wir uns, warum diese Behauptung aufgestellt wurde und woher sie stammt.
Wie hat sich die Bevölkerung für die Proteste organisiert?
Es handelt sich bei den Protestierenden um indigene Maya-Q’eqchi‘. Die Maya-Q’eqchi‘ haben auf lokaler Ebene eine traditionelle Form der Organisation, die aus verschiedenen indigenen Autoritäten besteht. Es gibt gewisse Personen, die Hüter:innen des Waldes oder der Flüsse sind. Zusätzlich besitzt jedes Dorf einen oder eine Vorsitzende:n und dessen Helfer:innen. Die Hauptaufgabe der Personen ist es, für das Wohl der Bevölkerung zu sorgen. Deshalb besitzen sie eine grosse Legitimität auf lokaler Ebene. Diese Struktur ist die Basis für die derzeitigen Proteste.
Walter Cúc ist Gemeinschaftsjournalist, Direktor der Föderation der Radioschulen Guatemalas (einer Vereinigung aus gemeinschaftlichen Radios), Umweltschützer und Angehöriger der indigenen Maya-Kaqchikel, einem indigenen Volk, dass vor allem im Westen von Guatemala lebt.
Seit wann gibt es Probleme mit dem Bergbauunternehmen in diesem Gebiet?
Alles begann Ende der 70er-Jahre, als die guatemaltekische Regierung ausländischen Kapitalgeber:innen die Ausbeutung und Erkundung des Estor-Gebiets am Izabal-See erlaubte. Seit diesem Augenblick war ein Teil der Bevölkerung skeptisch gegenüber dem Abbau und der Verarbeitung von Nickel eingestellt.
Dass die Skepsis angebracht war, zeigte sich, als an einem ganz normalen Tag vor drei Jahren die Anwohner:innen am See aufwachten und ihn völlig verschmutzt auffanden. Das Unternehmen hatte eine Flüssigkeit in den See geschüttet wodurch er sich komplett rot verfärbt hatte. Vermutlich ein Unfall bei der Verhüttung des Nickels. Bis heute ist unklar, um welches Produkt es sich handelte. In dem Moment aber wurde der Bevölkerung bewusst, dass der Nickelabbau ihre Lebensgrundlage bedrohte. Also organisierten sie sich, protestierten gegen die Mine und sind bis an das oberste Gericht gegangen, um die Anlage still zu legen.
Wie hat das Unternehmen auf die Forderungen der lokalen Bevölkerung und der Fischer:innen reagiert?
Von Anfang an hat das Unternehmen versucht, Umweltschützer:innen und Journalist:innen zu kriminalisieren. Es wurden mehrere Haftbefehle gegen zahlreiche führende Gewerkschaftler:innen, Indigene, die ländliche Bevölkerung und Journalist:innen erlassen. Viele von ihnen waren über Monate im Gefängnis.
Man warf ihnen vor, eine kriminelle Vereinigung gegründet, zu Gewalt und öffentlicher Unordnung aufgerufen und Mitarbeitende der Mine entführt zu haben – wo es sich aber um Proteste handelte, bei denen ein paar russische Mitarbeitende des Unternehmens nicht aus ihren Häusern gehen wollten. Es kam zusätzlich zu Morddrohungen gegen Aktivist:innen, Überwachung von Umweltschützer:innen und Diffamierungskampagnen in sozialen Netzwerken.
Wie ist es möglich, dass im Umfeld der Mine so viel Gesetzlosigkeit herrscht?
Leider sind die meisten Richter:innen in Guatemala gekauft. Das Bergbauunternehmen generiert eine Menge wirtschaftlicher Ressourcen und kauft auf diese Weise Meinungen und Rechtssprechung. Erst im August dieses Jahres fand ein russischer Besuch beim Präsidenten von Guatemala, Alejandro Giammattei Falla, statt. Neben verschiedenen kleinen Geschenken wurde ihm ein „magischer Teppich“ überreicht, in dem sich viele Dollars befanden. Alle wichtigen Nachrichtensender berichteten darüber. Man vermutet, dass man sich damit das Wohlwollen der Regierung im Zusammenhang mit dem Nickelabbau erkauft hat.
Es gibt also eine Menge Korruption und wenig Kontrolle über die Unternehmen. Anstatt auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen oder die Korruption zu bekämpfen, setzt die Regierung wiederholt das Militär ein und terrorisiert so die Bevölkerung.
Wie ist die aktuelle Situation?
Wir sind sehr besorgt über das Vorgehen der Regierung als Reaktion auf die Proteste. Das Gebiet ist vollständig militarisiert, es herrscht eine nächtliche Ausgangssperre von 18 Uhr abends bis fünf Uhr morgens und es finden Razzien bei den Organisationen statt, die die Proteste unterstützt haben. Dabei wird auch US-amerikanisches Kriegsgerät eingesetzt, dass ursprünglich zur Bekämpfung des Drogenhandels von der US-amerikanischen Regierung gespendet wurde.
Sie sind Direktor der Federación Guatemalteca de Escuelas Radiofónicas, einer Vereinigung von Gemeinschaftsradios in ganz Guatemala, die auch einen Partnerradiosender in der Stadt El Estor hat. Wie ist die Situation für Gemeinschaftsjournalist:innen?
Die Kolleg:innen von Radio El Estor mussten die Region verlassen. Es wurde zu gefährlich für sie. Mittlerweile befinden sie sich an einem anderen Ort, physisch geht es ihnen gut, psychisch allerdings nicht. Sie sind von der aktuellen Situation verängstigt. Erst am 24. Oktober stürmte die Polizei den lokalen Radiosender von El Estor.
Schon vor den aktuellen Mobilisierungen war der Gemeinschaftsradiosender in El Estor staatlicher Repression ausgesetzt. Das Radio wurde zensiert, es gab schon mehrmals Razzien in den Büros des Radios und die Journalist:innen wurden unter dem Argument des Aufrufs zur öffentlichen Unordnung verfolgt. Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäusserung und das Recht auf Pressefreiheit werden verletzt.
Wie reagieren die Menschen in Guatemala-Stadt auf die Geschehnisse in El Estor?
Die regierungstreue Presse berichtet kaum. Jedoch zeigen sich grosse Teile der Bevölkerung solidarisch mit den Maya-Q’eqchi‘. Es gibt Demonstrationen im Land, viele Stimmen der Unterstützung und Solidarität. Viele Menschen informieren über die Plünderungen der natürlichen Ressourcen, die gekauften Rechtssprüche und die Korruption durch Solway.
In der Schweizer Presse wird auch erwähnt, dass es Stimmen gibt, die das Bergwerk befürworten.
In einem Konflikt wie diesem gibt es immer zwei Standpunkte. Es gibt Proteste für die Aufrechterhaltung der Mine – in El Estor, aber auch hier in Guatemala-Stadt. Es gibt Leute, die in der Mine arbeiten und von der Firma bezahlt werden, und diese stehen grundsätzlich auf der Seite des Unternehmens. Das Unternehmen verfügt auch über viel Kapital, sodass es einer indigenen Person sagen kann: „Du kommst mit uns in die Hauptstadt und wir zahlen dir fünf Dollar pro Tag.“ In diesem Sinne wendet das Unternehmen ungewöhnliche Strategien an.
Meinen Sie, dass die Unterstützung erkauft ist?
Ja, zumindest so wird es uns von den Leuten vor Ort erzählt.
Sie sagten, das Unternehmen sei in schweizerischem und russischem Besitz. Was bedeutet das konkret?
Wir wissen nicht genau, wie die Eigentumsverhältnisse von Solway sind. Das Unternehmen hat zwar seinen Hauptsitz in Zug, hier in Guatemala sehen wir allerdings nur russische Mitarbeiter:innen. In El Estor gibt es eine Gated Community für die Arbeiter:innen und Familien, die aus Russland nach Guatemala gebracht werden. Deswegen reden in Guatemala die meisten von einem russischen Unternehmen.
Nickel wird mittlerweile als „Schlüsselrohstoff“ beim Umbau auf erneuerbare Energien betrachtet, da er für die Herstellung von Batterien bislang unersetzbar ist. Was bedeutet dieser technologische Wandel und die Wendung hin zu mehr Ökologie für die Bevölkerung in Guatemala?
[Lacht.] Hier ist es fast unmöglich, über ökologische Wirtschaft zu reden. Die Lust auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Guatemalas ist ungebremst und unkontrolliert. Es gibt kaum Kontrollen, die eine ökologisch verträglichere Tätigkeit oder ein Gleichgewicht mit der Natur garantieren könnten.Darüber hinaus hat Guatemala schon heute ein Problem mit der „grünen Energie“. Hier sind die grössten Flüsse Mittelamerikas, die viel Strom produzieren, der dann in andere Länder verteilt wird. Für den Bau der Staudämme werden die Flüsse umgeleitet, die Natur zerstört und es entstehen Konflikte mit der lokalen Bevölkerung.
Hier werden weiterhin die Ressourcen ausgeplündert auf Kosten der Umwelt und der lokalen Bevölkerung, mit oder ohne „grüne Energie“.
Was erwarten Sie von den kommenden Wochen?
Natürlich werden die Mobilisierungen weitergehen. Jedoch haben die Proteste und der jetzige Ausnahmezustand dazu geführt, dass viele Menschen nicht zur Arbeit gehen oder ihre Felder bestellen können. Derzeit ist hier Erntezeit, was bedeutet, dass viele Bauern und Bäuerinnen ihre Ernte verlieren könnten. Das kann zu einer ernstzunehmenden Armut oder gar Hungersnot auf lokaler Ebene führen.
Schliesslich haben wir auch Angst vor den Nebenwirkungen der Unterdrückung. Zurzeit ist Izabal einem Kriegsgebiet ähnlich: Hubschrauber überfliegen die Häuser, Tränengasbomben werden geworfen, Soldat:innen mit Kriegswaffen, Panzern und Maschinengewehren sind zu sehen. Das traumatisiert die Bevölkerung und tut ihnen psychisch nicht gut.
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