Dieser Text erklärt so kurz wie möglich und so ausführlich wie notwendig, was das Rahmenabkommen mit der EU ist. Hier findest du zudem einen Kommentar zum Thema.
Warum ist dieses Thema wichtig?
Die EU ist die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Daher ist das Verhältnis der beiden für etliche Bereiche der Politik und des öffentlichen Lebens grundlegend. Das Rahmenabkommen könnte dieses Verhältnis für die kommenden Jahre entscheidend gestalten.
Hintergrund
Die Schweiz und die EU – das ist die Geschichte einer zaghaften On-off-Beziehung. Eine leidenschaftliche Liebe war es zwar nie, aber keiner von beiden wollte je einen konsequenten Schlussstrich ziehen. Daher ist die Schweiz weder Mitglied der EU noch des europäischen Wirtschaftsraums EWR. Trotzdem ist sie wirtschaftlich und politisch abhängig von ihr. Sie mischt in mehreren Bereichen der EU-Politik mit: So finanziert sie etwa die Grenzschutzagentur Frontex mit, ist Teil des Schengenraums und in einer Zollunion mit der EU.
Da die Schweiz aber kein Mitglied ist und es somit keine Grundlagen für die Zusammenarbeit gibt, müssen alle diese Beziehungen in juristischer Kleinstarbeit ausgehandelt werden. Das Resultat ist ein unübersichtliches Geflecht aus Abkommen und Verträgen zwischen Schweiz und EU. Die sogenannten Bilateralen I und II bestehen in der aktuellen Form seit den späten 90er-Jahren.
Seit 2014 verhandeln die Schweiz und die EU über ein neues Vertragswerk, das einen Teil dieser Abkommen und ihre Umsetzung etwas genauer regeln soll.
Das letzte Verhandlungstreffen fand vor drei Wochen zwischen Bundesrat Guy Parmelin und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen statt – ohne nennenswerten Fortschritt. Dabei zeigte sich: Die Beziehung bleibt kompliziert.
Warum ein institutionelles Abkommen?
Die Bilateralen regeln rechtliche Fragen inhaltlich, Fragen wie: Dürfen Schweizer:innen in EU-Staaten arbeiten? Dürfen Waren zollfrei gehandelt werden?
Was aber bisher nicht einheitlich geregelt ist, sind formelle Fragen, also die Spielregeln dieser komplexen Zweierbeziehung. Zum Beispiel: Wer entscheidet darüber, ob die bilateralen Verträge rechtmässig umgesetzt werden? Was passiert, wenn sich das Recht verändert, auf dem die Abkommen beruhen? Und wer ist verantwortlich, wenn eine der beiden Parteien an der rechtmässigen Umsetzung zweifelt? Momentan beinhalten einzelne Abkommen solche Spielregeln, andere jedoch nicht.
Worum geht es?
Die EU möchte diese Fragen einheitlich regeln. Allerdings nicht in Bezug auf sämtliche Abkommen, sondern nur auf diejenigen, die folgende Themen behandeln:
- die Personenfreizügigkeit
- den Luft- und den Landverkehr
- die Landwirtschaftsprodukte
- die technischen Handelshemmnisse
Beim Rahmenabkommen geht es nicht um den Inhalt der Verträge, sondern lediglich um deren Auslegung und Handhabung. Genauer: Das institutionelle Rahmenabkommen will folgende Fragen in Bezug auf diese Themen klären:
- Sollen die Abkommen automatisch angepasst werden, wenn sich das EU-Recht verändert? Tatsächlich verändert sich das EU-Recht nämlich laufend, daher sind die jetzigen Abkommen in vieler Hinsicht veraltet.
- Wer entscheidet, ob das Recht richtig angewandt wird oder nicht? Die EU möchte, dass der Europäische Gerichtshof hier der Massstab ist, da es sich um europäisches Recht handelt.
- Wer stellt sicher, dass die Abkommen rechtmässig umgesetzt werden, wer überwacht das also?
- Was, wenn sich die Schweiz und die EU einmal uneinig darüber sind, ob ein Abkommen richtig angewandt wird?
Was sind die Streitpunkte?
Die grössten Streitpunkte betreffen das bilaterale Abkommen über die Personenfreizügigkeit. Wer darf aus der EU in die Schweiz kommen? Wer aus der Schweiz in die EU? Und welche Rechte geniessen diese Menschen?
Es geht um diese drei Punkte:
- Die flankierenden Massnahmen. Dass sie geschwächt werden, ist die grösste Angst linker Politiker:innen.
- Die EU-Unionsbürgerrichtlinien. Dass diese durchgesetzt werden, ist die Sorge bürgerlicher Politiker:innen.
- Das EU-Sozialversicherungsrecht. Dass Menschen hier Arbeitslosengeld beziehen könnten, ist eine zweite Sorge der Bürgerlichen.
Worüber wird genau gestritten?
Flankierende Massnahmen (FlaM)
Die flankierenden Massnahmen wurden zu Beginn der Freizügigkeit eingeführt, um Lohndumping zu verhindern. Sie stellen sicher, dass Menschen aus dem Ausland nicht in die Schweiz kommen und hier zu niedrigeren Löhnen arbeiten als ihre Schweizer Kolleg:innen. Daher dürfen Unternehmen aus der EU nur maximal 90 Tage pro Jahr in der Schweiz Aufträge ausführen. Zudem müssen sie Schweizer Arbeitsbedingungen erfüllen.
Die Gewerkschaften fürchten, dass das Rahmenabkommen diese Massnahmen schwächen könnte. Denn die EU ist der Auffassung, dass einzelne von der Schweiz getroffene Massnahmen das erneuerte Gesetz zur Personenfreizügigkeit der EU verletzen und deswegen angepasst werden müssen. Dazu gehört etwa die Acht-Tage-Regel: Wenn ein ausländisches Unternehmen Arbeiter:innen für einen Auftrag in die Schweiz schickt, muss sie das den Schweizer Behörden acht Tage vorher melden. Die EU möchte diesen Zeitraum auf vier Tage verkürzen.
Zudem wäre mit dem vorliegenden Rahmenabkommen künftig der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Instanz, die entscheiden könnte, welche Lohnschutzmassnahmen verhältnismässig sind und welche nicht.
Einige Urteile aus der Vergangenheit deuten darauf hin, dass die vergleichsweise starken Massnahmen der Schweiz für den EuGH als unverhältnismässig gelten könnten. Allerdings hat sich das Entsendungsrecht in der EU in der Zwischenzeit geändert und es gilt grundsätzlich „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Diese Änderung wurde vom EuGH zum Beispiel in einem Urteil zum Entsenderecht in Ungarn und Polen bestätigt. Es ist daher schwer zu sagen, wie der EuGH über den Schweizer Lohnschutz urteilen würde.
EU-Unionsbürgerrichtlinie
In der Unionsbürgerrichtlinie geht es um das Recht, aus dem eigenen EU-Staat auszureisen, in einen anderen EU-Staat einzureisen, dort Aufenthalt zu nehmen und zu arbeiten. Für die Schweiz gelten diese Linien nicht, sie hat stattdessen ein eigenes Abkommen mit der EU, dass diese Fragen regelt: das Personenfreizügigkeitsabkommen. Dieses beruht aber auf den EU-Bürgerrichtlinien.
Die EU hat ihre Unionsbürgerrichtlinie in den vergangenen Jahren angepasst. Das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz wurde hingegen nicht angepasst und hinkt daher dem geltenden Recht hinterher. Das möchte die EU im Rahmenabkommen ändern. Das Problem: Die Neuerung würden einige Änderungen im Freizügigkeitsabkommen bedeuten, die in der Schweiz umstritten sind.
Konkret geht es insbesondere um die Fragen: Dürfen EU-Bürger:innen in der Schweiz Sozialleistungen beziehen, wenn sie ihren Job in der Schweiz verlieren? Haben EU-Bürger:innen Anrecht auf Daueraufenthaltsstatus in der Schweiz, wenn sie fünf Jahre hier waren? Und dürfen EU-Bürger:innen einfach so ausgewiesen werden, wenn sie in den Augen der Schweiz eine „Gefahr“ darstellen?
Sozialversicherung für Grenzgänger:innen
Die EU ändert gerade ihr Sozialversicherungsgesetz für Grenzgänger:innen: Wer in einem Land wohnt, aber in einem anderen arbeitet, zahlt Sozialversicherungsgelder in den Arbeitsstaat ein. Wenn eine solche Person aber arbeitslos wird, soll sie neu das Arbeitslosengeld vom Arbeitsstaat erhalten, also von jenem Staat, der auch die Sozialversicherungsbeiträge dieser Person erhalten hat. Bisher war dafür der Wohnstaat zuständig.
Wenn diese Regeln auch in das Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz übernommen würden, wie es das Rahmenabkommen vorsieht, dann würde sich für die Schweiz etwas ändern. Sie müsste dann das Arbeitslosengeld bezahlen, für diejenigen Menschen, die etwa in Italien oder Deutschland wohnen, aber in der Schweiz arbeiten. Was sich nicht ändern würde: Bereits jetzt zahlen in der Schweiz angestellte Personen Sozialbeiträge in die Schweizer Kasse ein. Nur kriegen sie diese nie zurück, wenn sie arbeitslos werden.
Was genau das Rahmenabkommen für alle diese Dinge bedeute würde, ist strittig. Jurist:innen haben unterschiedliche Vermutungen. Einige sehen den Lohnschutz gefährdet, andere nicht. Volkswirtschaftliche Effekte des Abkommens wurden noch gar nicht untersucht. Vieles ist unklar. Vieles ist auch Gegenstand weiterer Verhandlungen, die auch mit einem unterzeichneten Rahmenabkommen geführt würden.
Wie geht es weiter?
Vor drei Wochen reiste Guy Parmelin nach Brüssel und besprach dort mit Ursula von der Leyen den aktuellen Entwurf für das Abkommen. Nach seiner Rückkehr liess er verlauten, dass es noch sehr viele Uneinigkeiten gäbe. Später äusserten sich EU-Vertreter:innen und spielten den Ball zurück in die Schweiz. Hier sinnieren die Parteien jetzt herum, ob und wie das Abkommen noch zu retten sei, wo Kompromisse nötig seien und wer dafür verantwortlich ist. Die SVP erklärt das Abkommen für gestorben. Viele Exponent:innen von SP und die FDP wollen es weiterhin retten, andere nicht. Beide Parteien sind jedoch darüber gespalten, wie viele Kompromisse die Schweiz bei den Verhandlungen eingehen soll – und welche. Im Moment berät der Bundesrat über das weitere Vorgehen.
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