Und plötzlich war alles weg. Alle Fotos, Beschimpfungen, Verschwörungstheorien, Diskussionen über Penisgrössen: einfach alles. Er hat den Kontakt mit uns nach zwei Wochen abgebrochen. Längst haben wir aber seinen echten Namen, seine anderen Social-Media-Profile und seinen Wohnort ausfindig gemacht. Das Internet vergisst nie und wer sich darin bewegt, hinterlässt zwangsläufig Spuren.
Auf Reddit nennt er sich Lori171717. Seinen echten Namen möchte er uns nicht sagen, nur so viel: Er kommt aus dem Kanton Zürich und ist 17 Jahre alt. Treffen möchte er sich nicht, telefonieren auch nicht.
Er fühle sich am wohlsten, wenn er sich mit uns über die Nachrichtenfunktion von Reddit unterhalten kann. Auf Englisch. Lori171717 hat eine Form von Asperger. Dazu aber später mehr.
Nach mehr als zwei Wochen ausführlichem Kontakt bleibt der Eindruck eines sehr intelligenten jungen Mannes, der aus Neugierde in eine Onlinecommunity geraten ist – und dort seine Leidensgenossen wähnt. Scheinbar zerrissen zwischen seiner psychischen Verfassung einerseits und Männlichkeitsbildern andererseits, beteiligt er sich an den oft sexistischen, rassistischen und gewalttätigen Fantasien der vermeintlich anonymen Incel-Community. Es bleibt aber nicht beim Kommentieren und Liken. Lori171717 mischt kräftig mit.
Gekommen aus Neugierde – geblieben aus Verzweiflung
Begonnen hat alles im April 2018. Am 23. April tötet ein 25-jähriger Mann namens Alek Minassian mit einem Lieferwagen in Toronto 10 Menschen – und ruft die Incel-Rebellion aus. Es geht nicht lange, dann erscheinen die ersten Erklärungsversuche. Dann folgen längere Essays. Parallel dazu veröffentlichen aber auch Youtuber wie „cuestar“ verschiedene Videos zum Incel-Phänomen. Über eines dieser satirischen Videos wird Lori171717 auf das Phänomen aufmerksam. Aus Neugierde tritt er Reddit am 26. April – drei Tage nach dem Anschlag – bei. Reddit ist eine der grössten Onlineplattformen und gliedert sich in unendlich viele Unterforen, sogenannte Subreddits. Er wird sehr schnell sehr aktiv. Zuerst in den Unterforen r/braincels, später aber auch in r/aspergers und r/drugs.
Die Auswahl dieser Unterforen ist nicht zufällig. Lori171717 geht, wie er mir im Interview erzählte, seit drei Jahren zu einem Psychiater. Er wurde, beruhend auf eigenen Angaben und seinen Reddit-Beiträgen, mit einer Art von Asperger geboren und leidet ausserdem an Depressionen. Lori171717 postet fast täglich in die Reddit-Drogenforen und zeigt den anderen UserInnen Bilder neuer Medikamente, die er seinem Therapeuten scheinbar „abschnorren” konnte. Er fragt nach den besten Zusätzen für Mischkonsum und diskutiert über potenzielle Nebenwirkungen. Ob das alles echt ist, ob Lori171717 wirklich in seinem Kinderzimmer mit Drogen experimentiert, bleibt offen. Das Internet ist auch ein Ort um anzugeben, um jemand zu sein, der man nicht wirklich ist.
Lori171717 beteiligt sich seit Beginn seiner Reddit-Aktivität an Diskussionen zu unterschiedlichen extremistischen Ideologien und Positionen, zeigt sich angetan von allem, was aneckt und schockiert. Der Extremismus, den er für sich selber entdeckt zu haben scheint, ist der Frauenhass. Im Gespräch mit mir relativiert Lori171717 seine mysogynen Aussagen zu einem gewissen Grad wieder: Sein Problem sei, dass er nicht filtern könne. „Ich sage einfach alles so, wie ich es denke. Für eine sehr lange Zeit hatte ich deswegen keine engen Freunde. Ich denke, daher kommt auch meine Depression“, schreibt mir Lori171717. Die Incel-Community sei für ihn dafür da, seine Frustration und Wut zu kanalisieren.
Übler Rassismus wechselt sich mit latentem Sexismus ab
Während Lori171717 im persönlichen Gespräch mit mir ein Unbehagen gegenüber dem Islam ausdrückt, schreibt er im Unterforum r/braincel, dass er alle Immigranten hasse, und dass diese in seinem Land, der Schweiz, nur Frauen vergewaltigten und Steuergelder schnorrten. Es folgen mehrere Kommentare, die seinen Hass gegenüber Immigranten und Flüchtlingen unterstützen. Ein User schreibt, dass Flüchtlinge die Frauen nicht vergewaltigten: „Die wollen das doch.“ Lori171717 widerspricht nicht. Rassimus, Sexismus — in r/braincels schlagen beide in dieselbe Kerbe und verstärken sich gegenseitig. Die Grenzen sind fliessend.
Lori171717 ist nicht der Meinung, dass die Incel-Community rassistisch sei. Konfrontiert mit einer kleinen Auswahl seiner rassistischen Posts („Gibt es eine jüdische Weltverschwörung? Wenn ja, dann wäre ja Hitler ein Held gewesen“), sagt er lediglich: „Rassismus ist bei uns kein grosses Thema. Wenn du einige Umfragen anschaust, wirst du merken, dass nur etwa 60% der User hier weiss sind.“
Einfache Antworten auf komplexe Fragen: Die simple Logik der Community spiegelt sich auch in unserem Gespräch wider. Die Hautfarbe spielt bei den Incels eine grosse Rolle. Laut der eigenen Theorie müssen ethnische Minderheiten grössere gesellschaftliche Hindernisse überkommen, um sexuell aktiv zu werden. „Weisse Männer sind die Attraktivsten”, meint Lori171717. „Daher werden andere Ethnien nicht gehasst, sondern sie bekommen Mitleid.” Andere Ethnien, das sind Currycels (Inder), Ricecels (Chinesische Incels) oder etwa Blackcels, Incels dunkler Hautfarbe.
Lori171717 streitet zwar ab, dass die Incel-Community rassistisch sei, aber selbst er kann den teils latenten, meist aber sehr offenen Frauenhass in den Foren nicht in Abrede stellen. Ein grosser Teil dieses Hasses wird durch Screenshots von Twittergesprächen geschürt, in denen sich Frauen über ihre Ansprüche an Männer unterhalten. Ob diese Posts tatsächlich von Frauen stammen oder aus den Tasten eines Trolls, kann Lori171717 nicht beweisen – aber das scheint er auch nicht unbedingt zu wollen. „Ich möchte keine Frauen hassen, aber das ist schwer, wenn ich so Sachen lese und sehe!“, schreibt er. „Denn egal wie hässlich eine Frau ist, sie wird immer einen genug verzweifelten Mann finden, der mit ihr Sex haben will. Bist du aber ein Incel, dann ist es vorbei!“
Alles halb so wild?
Lori171717 gibt zu, dass er persönlich noch keine schlechten Erfahrungen mit Frauen gehabt hat. Er erzählt, dass er zu beiden Eltern ein sehr gutes Verhältnis hat, über seine Mutter im besonderen verliert er kein Wort, erst recht kein Schlechtes. Lori171717 hat KollegInnen, aber keine engen FreundInnen. In der Schule hat er von einigen seiner Klassenkameraden gehört, dass sie bereits sexuell aktiv sind – genauere Details konnten die Teenager nicht liefern. Lori171717 fühlte sich verunsichert von diesen Erzählungen, in einem Post sagt er, er habe Hass empfunden. In einem anderen Post äussert sich Lori171717 besorgt darüber, dass ihm zwei Klassenkameradinnen Homosexualität „unterstellen” würden. Andere User geben ihm daraufhin den Rat, die „Gay-Buddy”-Strategie zu fahren, sich also gezielt fälschlich zu outen, um sich Frauen körperlich zu nähern, ohne dass diese ihm unlautere Absichten unterstellen. Lori171717 weist den Vorschlag ab. Dafür, so schreibt er, fehle ihm das nötige Charisma.
Sieht man (mit Mühe) über die wüsten Beschimpfungen gegenüber Minoritäten, Frauen und Homosexuellen hinweg – dann ist Lori171717 ein ganz normaler 17-Jähriger. Er geht ins Gymnasium, interessiert sich für Drogen und Videospiele, hört gerne Rap und steht unter dem Eindruck, dass Sex das alles bestimmende Thema ist.
Über Letzteres wird aber unter jungen Männern nicht offen gesprochen, wie FachpsychologInnen erzählen. Sex ist als Thema in Gesprächen zwar omnipräsent, aber lieber wird geprahlt, als effektiv über persönliche Erfahrungen, Ängste und Unsicherheiten zu sprechen. „Ich nehme einfach an, dass alle, die in meinem Alter in einer Beziehung sind, auch Sex haben”, schreibt mir Lori171717. Als ich ihn darauf aufmerksam mache, dass SchweizerInnen laut Bundesamt für Statistik im Durchschnitt mit 17 Jahren zum ersten Mal sexuell aktiv werden, geht er nicht darauf ein. Für mich entsteht der Eindruck, dass Lori171717 die Probleme und Zweifel eines ganz gewöhnlichen Jugendlichen plagen, aber dass er zu tief von seinem Incel-Status überzeugt ist. Beschwichtigungsversuche oder Relativierungen meinerseits erreichen ihn nicht – vielmehr redet er sich ein, dass er zur Einsamkeit verdammt ist.
Am Schluss ein bisschen ratlos
Und so sitze ich jetzt hier und bin ein bisschen ratlos. Das skizzierte Porträt entspricht nicht den Erwartungen, die ich zu Beginn der Gespräche mit Lori171717 hatte. Statt eines ruchlosen Rassisten und Sexisten habe ich in den Gesprächen einen komplexen und in seiner Wortwahl durchaus auch intelligent wirkenden jungen Mann kennengelernt. Die ruhigen und freundschaftlichen Gespräche, die wir geführt haben, die schnellen Antworten und vor allem seine Zustimmung, sich überhaupt mit mir zu unterhalten, wollen nicht so recht mit seinen Posts über den Islam, Juden und Frauen zusammenpassen.
Seine Schwierigkeiten, sexuell aktiv zu werden, erklärt Lori171717 durch seine psychische Veranlagung. Aber er lässt sich auch immer wieder von anderen Incels bewerten, schreibt, dass sein Gesicht seine grösste Hypothek auf dem Sexmarkt sei. Unterhält sich in anderen Foren über die Länge seines Penis und seinen Körperbau, seine Haut, seinen Humor, den die anderen nicht verstehen würden. Gerne würde ich ihm zurufen, dass alles nur halb so schlimm sei. Dass es für alle einen Platz habe und dass er doch erst 17 Jahre alt sei. Aber dieser Ruf verhallt in der Incel-Bubble. Und warum sollte er auch ausgerechnet mir glauben, wenn ihm 29’000 selbsternannte Incels tagtäglich einreden, dass seinesgleichen zu einem Leben in Einsamkeit verdammt sind?
Ein Fazit? Schwierig.
Vielleicht bringt uns die Auseinandersetzung mit einem Individuum nicht das, was wir uns zu Beginn der Gespräche mit Lori171717 erhofft hatten: Ein klares Bild davon, was einen jungen Incel zum Frauenhass und Rassismus treibt. Die Probleme, mit denen die unfreiwillig Zölibatären zu kämpfen haben, sind im Kern gesellschaftlich bedingt. Klar, viele junge Männer bekommen in ihrem Leben einen Korb, werden später als erhofft sexuell aktiv, finden andere Formen der Selbstdefinition als über sexuelle Erfahrungen und Errungenschaften, oder vertiefen stattdessen platonische Beziehungen. Aber nur die wenigsten flüchten sich in diese dunkle Ecke des Internets. Die meisten finden einen anderen Weg, mit diesem Druck umzugehen.
Lori171717 hat diesen Weg noch nicht für sich gefunden. Er hat nach unserem Gespräch all seine Posts auf Reddit gelöscht und den Kontakt mit mir abgebrochen. Für kurze Zeit war er weg. Seit mehreren Tagen postet er wieder — rassistischer und sexistischer denn je.
Lori171717 sieht für sich keinen Ausweg, ausser einen: „Wenn ich eine Freundin finde, dann werde ich die Incels verlassen.” Das schreibt er mir. In einem Reddit-Unterforum klingt es dann aber so:„Wenn ich mit 25 noch Single bin, dann bringe ich mich um.”
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