Secondos sind Teil der Schweiz, ob ihr wollt oder nicht!

Nicht alle, die in der Schweiz geboren wurden, haben hier ein Stimm­recht. Das ist eine Ohrfeige – beson­ders für junge Menschen, findet unsere Kolumnistin. 
Für viele Personen ist der Schweizer Pass wie der heilige Gral: Wer ihn hat, will ihn nicht teilen – und für andere bleibt er unerreichbar. (Illustration: Anna Egli)

Meinen neun­zehnten Geburtstag verbrachte ich damit, die Höhe unserer Dorf­kirche und die Wasser­quellen der Brunnen in unserem Dorf auswendig zu lernen. Zwei Tage später – so kurz vor Weih­nachten, dass die Geschenke schon fast unter dem Baum lagen – fand nämlich das Einbür­ge­rungs­ge­spräch meiner Familie statt. 

Kurz nach meinem siebten Geburtstag waren meine Familie und ich von São Paulo, einer brasi­lia­ni­schen Mega-Stadt, in das Dorf in der Schweiz gezogen, in dem wir bis heute leben. Ich habe die gesamte obli­ga­to­ri­sche Schul­zeit in der Schweiz verbracht und bin hier gross geworden. Dennoch sass ich kürz­lich im Gemein­de­haus und musste eine Gruppe fremder Menschen davon über­zeugen, dass ich des Schweizer Passes würdig bin.

Die Einbür­ge­rungs­po­litik in der Schweiz ist euro­pa­weit einer der restrik­tiv­sten. Ein Viertel der Schweizer Bevöl­ke­rung hat keinen Schweizer Pass und keine poli­ti­sche Stimme.

Das Wort, welches man während des Einbür­ge­rungs­pro­zesses in der Schweiz wohl am meisten hört, ist „Inte­gra­tion“. Das Bürger­recht für Ausländer*innen setzt viel voraus. Vor allem aber muss man eine „erfolg­reiche Inte­gra­tion“ in einem Gespräch bei der Gemeinde beweisen können. Das Absurde dabei: Auch die Kinder von Ausländer*innen, die hier geboren und aufge­wachsen sind, müssen Belege dafür liefern, dass sie hierher gehören. Von einer erleich­terten Einbür­ge­rung können sie bis heute nicht profi­tieren. Die Idee, dass junge Menschen, die bereits ihr ganzes Leben in der Schweiz verbracht haben, einer Gruppe von fremden Menschen ihre Inte­gra­tion beweisen müssen, ist veraltet und der heutigen Realität fern.

Klima­hy­ste­risch und radikal oder unver­ant­wort­lich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumge­nör­gelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Reprä­sen­ta­tion in der Öffent­lich­keit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netz­werken eine Platt­form. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.

Helena Quarck ist 18 Jahre alt und Schü­lerin. Sie ist als Sieben­jäh­rige aus Brasi­lien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäf­ti­gung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redak­torin des Jugend­ma­ga­zins Quint.

Die Einbür­ge­rungs­po­litik in der Schweiz ist euro­pa­weit eine der restrik­tiv­sten. Ein Viertel der Schweizer Bevöl­ke­rung hat keinen Schweizer Pass und keine poli­ti­sche Stimme. Auch bean­tragt nur ein Bruch­teil der Ausländer*innen, die die Krite­rien für eine Einbür­ge­rung erfüllen, das Bürger­recht. Gründe für ihre Zöger­lich­keit gibt es viele. Darunter etwa die langen Warte­zeiten, der büro­kra­ti­sche Aufwand und nicht zuletzt die Kosten, die je nach Kanton zwischen 800 und 3’600 Schweizer Franken liegen. Für viele Fami­lien ist dieser Betrag eine Hürde.

Es wohnen also immer mehr Menschen ohne Schweizer Pass in diesem Land und ihre Einbür­ge­rung bleibt restriktiv. Wir müssen uns daher fragen: Können wir noch von einer starken Demo­kratie spre­chen, wenn ein Viertel der Bevöl­ke­rung, die von poli­ti­schen Entscheiden betroffen ist, keine poli­ti­sche Mitsprache hat?

Seit einer Volks­in­itia­tive von 2017 wird die Einbür­ge­rung der „Terzos“, also der dritten Gene­ra­tion der Einge­wan­derten, erleich­tert. Sie wurde damals deut­lich ange­nommen – die Mehr­heit der Stimm­be­rech­tigten hat also erkannt, wie unsinnig es ist, diese Menschen, deren Eltern teil­weise bereits in der Schweiz geboren waren, durch den lang­wie­rigen Einbür­ge­rungs­pro­zess zu schicken.

Gegen­über den Secondos und Secondas zeigte sich die Schweizer Bevöl­ke­rung nicht im selben Mass bereit, den Prozess zu refor­mieren. Es gab bereits drei Versuche, eine erleich­terte Einbür­ge­rung für die zweite Gene­ra­tion einzu­führen. Alle schei­terten an der Urne. 2021 versuchten es Lisa Mazzone, Stän­de­rätin der Grünen, und Paul Rech­steiner, Stän­derat der SP, mit zwei Vorstössen erneut. 

Wir sind in lokalen Vereinen tätig, sitzen in unseren Schulen, arbeiten und bezahlen hier Steuern – und das schon ihr ganzes Leben lang. 

Rech­steiner forderte sogar einen System­wechsel zum „ius soli“. Das würde bedeuten, dass Kinder, die in der Schweiz geboren werden, auto­ma­tisch das Schweizer Bürger­recht erhalten. Mazzone forderte eine „mildere“ Vari­ante: keine auto­ma­ti­sche, sondern eine erleich­terte Einbür­ge­rung für Secondos und Secondas. Im Inter­view mit der WOZ meinte Paul Rech­steiner: „Es wäre ein Rück­fall in finstere Zeiten, wenn der Bundesrat nicht minde­stens Lisa Mazzones Vorschlag aufnimmt.“ Der Bundesrat lehnte beide Vorstösse ab. Die WOZ titelte: „Eine Ohrfeige für die jüngere Generation“.

Solche „Ohrfeigen“ kassiert die junge Gene­ra­tion von Ausländer*innen in der Politik leider oft. Zum Beispiel von der Schwei­ze­ri­schen Volks­partei (SVP), die mit rassi­sti­schen Narra­tiven gegen die erleich­terte Einbür­ge­rung kämpft. 2017, kurz vor der Volks­ab­stim­mung zur erwähnten „Terzo“-Initiative, warnte die SVP vor „fatalen“ Konse­quenzen. Etwa vor einge­bür­gerten Kindern, die keiner weib­li­chen Lehr­person die Hand schüt­teln würden. Dass die SVP die Feind­schaft gegen­über Ausländer*innen fördert und als poli­ti­sche Waffe benutzt, ist nichts Neues. Es hat mich dennoch über­rascht, dass die Partei mit diesem absurden Narrativ auch auf Kinder im Primar­schul­alter zielt.

Anfang Jahres veröf­fent­lichte SVP-Natio­nalrat Andreas Glarner einen Tweet mit einer verstö­renden Aussage: Menschen, die in der Schweiz geboren sind, seien genauso wenig Schweizer*innen, wie eine Maus, die im Pfer­de­stall geboren wurde, ein Pferd sei.

Herr Glarner greift hier nicht nur auf einen äusserst abwer­tenden Tier­ver­gleich zurück, sondern beweist noch einmal, wie tief die SVP in den Topf der rassi­sti­schen Polemik greifen muss, um gegen eine erleich­terte Einbür­ge­rung für Secondos und Secondas zu hetzen. Argu­mente haben sie nämlich keine. Dass dieser Tweet von einem Natio­nalrat der wähler­stärk­sten Partei der Schweiz kommt, ist erschreckend. Gerade weil es die SVP wegen ihrer rassi­sti­schen Posi­tion schafft, ihre grosse Wähler*innenbasis zu behalten.

Die erleich­terte Einbür­ge­rung für die zweite Gene­ra­tion von Ausländer*innen ist längst über­fällig, nicht zuletzt um die Glaub­wür­dig­keit unserer Demo­kratie aufrechtzuerhalten.

Die Zuge­hö­rig­keit zur Gesell­schaft wurde Ausländer*innen der zweiten Gene­ra­tion in Form von drei abge­lehnten Initia­tiven abge­spro­chen. Gleich­zeitig verbreitet die stärkste Partei der Schweiz ein rassi­sti­sches Narrativ wie dieses von Andreas Glarner, welche ihre Ausgren­zung weiter fördert.

Verdienen Secondos und Secondas nicht mehr Aner­ken­nung als das? Secondos und Secondas sind hier. Wir sind in lokalen Vereinen tätig, sitzen in unseren Schulen, arbeiten und bezahlen hier Steuern – und das schon unser ganzes Leben lang. Zu behaupten, diese Menschen müssten ihre Zuge­hö­rig­keit zu einer Gesell­schaft unter Beweis stellen, in der sie seit ihrer Geburt leben, ist sinnlos, denn diese Kinder sind seit ihrem ersten Atemzug Teil davon. 

Der restrik­tive und will­kür­liche Einbür­ge­rungs­pro­zess hindert viele daran, ihr Bürger­recht zu bean­tragen und eine poli­ti­sche Stimme zu haben. Die erleich­terte Einbür­ge­rung für die zweite Gene­ra­tion von Ausländer*innen ist längst über­fällig, nicht zuletzt um die Glaub­wür­dig­keit unserer Demo­kratie aufrechtzuerhalten.


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