Sachbuch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif
Auf der Grundlage dieser Artikelserie ist ein Sachbuch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunktverlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Nulltarif – Das Schweizer Emissionshandelssystem und wer davon profitiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buchfiliale deines Vertrauens erhältlich.
In Kürze
- Um als Schweizer Wirtschaftsstandort attraktiv zu bleiben, verschenkt das Bundesamt für Umwelt (BAFU) Zertifikate an emissionsintensive Firmen – so soll die Abwanderungsgefahr dieser Konzerne reduziert werden.
- Diese Vorgehensweise scheint das eigentlich wirksame Instrument zur Reduktion des CO2-Ausstosses zu sabotieren.
- Je nach Branche ist es unklar, ob es für die betroffenen Firmen überhaupt möglich wäre, ins Ausland abzuwandern.
Wenn Firmen ihre Klimakosten über das Emissionshandelssystem (EHS) abrechnen dürfen, sind sie von der CO2-Abgabe befreit. Dafür müssen sie für jede Tonne CO2, die sie in die Luft pusten, ein Zertifikat abgeben. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) treibt diese Emissionsberechtigungen ein. Doch woher bekommen die Firmen die Zertifikate? Entweder sie kaufen sie ein – oder sie kriegen sie geschenkt – absurderweise von derselben Institution, die sie dann auch wieder einzieht: dem Bundesamt für Umwelt.
Dabei waren die geschenkten Zertifikate in der Vergangenheit eher die Norm als die Ausnahme: Von den insgesamt 39 Millionen Zertifikaten, die alle EHS-Firmen in der letzten Handelsperiode von 2013 bis 2020 abgeben mussten, verteilte das BAFU ganze 38 Millionen gratis.
Das heisst jedoch nicht, dass insgesamt nur eine Million Emissionszertifikate gekauft wurde. Denn das BAFU verteilte die Zertifikate nicht gleichmässig. Es gibt Firmen, die mehr Emissionsrechte gratis erhalten haben, als sie abgeben mussten. Diese haben nun Zertifikate auf Vorrat. Andere Firmen mussten jedoch einen erheblichen Teil ihrer Emissionsrechte käuflich erwerben. Die Recherchen von das Lamm zeigen: Die Bilanz sieht von Firma zu Firma unterschiedlich aus.
Was man aber mit Gewissheit sagen kann, ist, dass die Teilnahme am Emissionshandelssystem für alle Firmen günstiger war, als dies die CO2-Abgabe auf dieselbe Menge ausgestossener Schadstoffe gewesen wäre. Und der Hauptgrund dafür sind die Gratiszertifikate.
Von den 56 Industrieanlagen, die von 2013 bis 2020 im Emissionshandelssystem eingebunden waren, erhielten 23 Anlagen mehr Emissionsrechte geschenkt, als sie abgeben mussten. Sie beendeten die zweite Handelsperiode dementsprechend mit einem Überschuss an Zertifikaten. Wir haben bei einigen dieser Firmen nachgefragt und wollten wissen, was sie mit den überschüssigen Zertifikaten vorhaben.
Auf viel Auskunftswillen stiessen wir mit unserer Frage leider nicht. Vom Betonriesen Holcim, der die zweite Handelsperiode mit einem Überschuss von 1.9 Millionen Zertifikaten beendete, erhielten wir gar keine Antwort. Auch vom Aluminiumverarbeiter Constellium Valais, der die zweite Handelsperiode mit einem Überschuss von 50’000 Zertifikaten abschloss, kam trotz mehrfacher Nachfrage keine Rückmeldung.
Andere Firmen antworteten ausweichend. Die Dottikon Exclusive Synthesis liess uns wissen, dass sämtliche bereits publizierte Daten in ihren Geschäftsberichten zu finden sind (siehe Infobox). Auch vom Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche erhielten wir keine wirkliche Antwort auf die Frage, was es mit den Zertifikaten machen will. Das Pharmaunternehmen schrieb lediglich: „Das Ziel von Roche ist, die Umweltbelastung durch Massnahmen effektiv zu reduzieren und den Energiebedarf drastisch zu senken“. Die gesetzlichen Vorgaben seien sogar übertroffen worden, weshalb weniger Emissionsrechte als zugeteilt entwertet werden mussten, so der Pharmariese weiter. Nur: Im EHS gibt es gar keine gesetzlich festgeschriebenen Reduktionsvorgaben. Auf was sich das Unternehmen also bezieht, bleibt dahingestellt.
Immer wieder erstaunte uns das Desinteresse, mit dem unsere Anfragen zum EHS von den betroffenen Firmen nicht oder nicht richtig beantwortet wurden. Zum Beispiel wollten wir von der Pharmaproduzentin Dottikon Exclusive Synthesis wissen, was man mit den überschüssigen Zertifikaten aus der Handelsperiode von 2013 bis 2020 zu machen gedenke. Wird man sie zur Seite legen? Will man sie verkaufen? Wir warteten. Dann die Antwort: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Sämtliche bereits publizierten Informationen finden Sie in unseren Geschäftsberichten, darüber hinaus können wir Ihnen leider keine weitere Auskunft geben.“ Nachdem wir in den genannten Geschäftsberichten immer noch keine Antwort auf unsere Frage gefunden hatten, wandten wir uns erneut an die Pharmaproduzentin – erneut mit wenig Erfolg. „Die DOTTIKON EXCLUSIVE SYNTHESIS AG hat zu diesem Thema keine weiterführenden Informationen publiziert. Grundsätzlich finden Sie sämtliche bereits publizierten Informationen in unseren Geschäftsberichten, darüber hinaus resp. zu weiteren Themen können wir Ihnen leider keine weitere Auskunft geben“, bekamen wir als Antwort. Transparenz geht anders.
Einige Antworten fielen dagegen deutlicher aus. Zum Beispiel die des Schlachtabfallverwerters GZM Extraktionswerk: „Im Zeitraum wo wir im EHS waren, haben wir unsere zugeteilten Zertifikate nicht vollends ausgeschöpft und ja, es ist korrekt, dass wir aus dieser Zeit noch überschüssige Zertifikate vorliegen haben. Die ungenutzten Zertifikate wurden nicht verkauft.“
Auch von der Kalkfabrik Netstal erreichte uns die Antwort, dass überschüssige Zertifikate nicht verkauft, sondern zurückgelegt worden seien – für den Fall, dass die Fabrik eine Zeit lang mehr produziere als vorgesehen. Die Verpackungsherstellerin Model AG will die überschüssigen Zertifikate mehrheitlich in der jetzt laufenden dritten Handelsperiode einsetzen.
Dass man überschüssige Zertifikate verkauft hat, teilte uns lediglich eine Firma mit: Die Perlen Papierfabrik: „Da Perlen Papier aufgrund von gezielten Nachhaltigkeitsmassnahmen rund 75 Prozent weniger CO2 ausstösst als der Durchschnitt der europäischen Papierindustrie, verfügten wir in der Vergangenheit über einen Überschuss von zugeteilten CO2-Zertifikaten, welche verkauft werden können. Insgesamt wurden im Geschäftsjahr 2021 330‘000 CO2-Zertifikate verkauft“, schreibt Perlen auf Anfrage. Das brachte der Papierfabrik 18.1 Millionen Franken ein.
Firmen, die ihre Klimakosten unter dem Emissionshandelssystem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Stattdessen müssen sie für jede ausgestossene Tonne CO2 ein entsprechendes Zertifikat erwerben. Diese Zertifikate sind nichts anderes als Emissionsrechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zertifikaten und diese Menge, der sogenannte Cap, wird schrittweise gesenkt. Diese Verknappung soll den Preis der Zertifikate erhöhen.
Die Firmen können die Zertifikate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuflich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratiszertifikaten an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhindern, dass sie ihre Emissionen ins Ausland verlagern.
Zeitlich ist das EHS in mehrjährigen Handelsperioden mit mehr oder weniger gleichbleibenden Regeln organisiert. Die letzte Handelsperiode lief von 2013 bis 2020.
Wichtig: Die Zertifikate im Emissionshandelssystem sind nicht an Projekte gekoppelt, die der Atmosphäre Klimagase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompensationen für Flugreisen kennt. Bei diesen freiwilligen Kompensationszahlungen spricht man zwar oft auch von “Zertifikaten”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.
Wer darf beim EHS mitmachen?
Grundsätzlich sind im EHS Firmen aus den Branchen mit den höchsten Treibhausgasemissionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitmachen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verordnung stehen. Auf dieser Liste sind beispielsweise die Metall- oder die Zementindustrie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Missverständnissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.
Zusätzlich gibt es Branchen, die freiwillig beim EHS mitmachen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verordnung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holzindustrie. Kurzum: Im EHS versammeln sich die Grosskonzerne aus der Energieproduktion und der Schwerindustrie.
Der überwiegende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teilnehmen. Diese zahlen stattdessen für jede Tonne Klimagase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.
Im EHS registriert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschiedenen Industrieanlagen der Firmen – also ein Zementwerk, ein Stahlwerk oder ein Heizwerk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Standorten im EHS vertreten sein.
Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratiszertifikate erhält?
Die Anzahl Gratiszertifikate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einerseits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratiszertifikate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen beziehungsweise deren Produktionsanlagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emittieren immer noch Unmengen an Klimagasen.
Anderseits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den sogenannten Carbon-Leakage-Status beanspruchen, mehr Gratiszertifikate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klimagasemissionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klimaschutzmassnahmen in ein anderes Land verlagert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren.
In der Handelsperiode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zertifikate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zertifikate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträchtliche Menge EHS-Zertifikate beiseitelegen können. Diese Reservebildung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.
Wie kommen die EHS-Firmen zu den restlichen Zertifikaten?
Einerseits führt das BAFU regelmässig Versteigerungen durch. Andererseits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt interessierte Akteur*innen untereinander mit den Emissionsrechten. Dieser Handel läuft über mehrere Energiebörsen – zum Beispiel über die European Energy Exchange (EEX) mit Sitz in Leipzig.
Verknüpft mit dem europäischen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?
Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem europäischen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grundsätzlich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine nationale Klimagesetzgebung eingebettet sind, bedeutet die Teilnahme am EHS für eine europäische Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brennstoffe eine CO2-Lenkungsabgabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.
Diese Lenkungsabgabe wird grösstenteils an die Schweizer Bevölkerung zurückverteilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rückverteilung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätzlichen Einnahmen aus der nationalen CO2-Abgabe erhalten europäische EHS-Firmen nicht.
Wenn Firmen wie Perlen Papier ihre Emissionen tatsächlich stark reduziert haben, mag es einer gewissen Logik folgen, dass sie einen finanziellen Vorteil aus dem EHS ziehen. Aber wenn Firmen ihre Emissionen nicht wirklich gesenkt haben, ist diese Bevorteilung irritierend.
Ein Beispiel: Die Kalkfabrik Netstal reduzierte ihre Emissionen in der vergangenen Handelsperiode lediglich um 6 Prozent von 64’000 auf 61’000 Tonnen. Trotzdem hat die Kalkfabrik über die ganze Handelsperiode rund 144’000 Zertifikate mehr gratis zugeteilt bekommen, als sie tatsächlich bräuchte. Würde die Kalkfabrik diese ungebrauchten Zertifikate zum aktuellen Marktpreis (Stand 25. Januar 2023) verkaufen, würden dabei laut Berechnungen von das Lamm schätzungsweise 11.5 Millionen Franken Gewinn herausspringen.
Aber zurück zur EHS-Musterschülerin Perlen: Auch wenn die Papierfabrik ihren Brennstoffverbrauch massiv reduzieren konnte, muss man zwei Dinge im Hinterkopf behalten. Erstens: Ein beachtlicher Teil der Emissionen wurde bei Perlen wohl eher verschoben als reduziert (siehe hier). Zweitens: Im System der CO2-Abgabe wären ganz andere Klimakosten auf Perlen zugekommen. Denn dort hätte die Papierfabrik trotz massiver Reduktionen die Klimarechnung nicht mit einem Plus, sondern mit einem Minus abgeschlossen.
Mit Gratiszertifikate gegen Carbon Leakage
Kurzum: Verschenkt wurde viel. Dieser Meinung ist auch die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK). Sie untersuchte 2017 die Lenkungswirkung des EHS und kommt in ihrem Abschlussbericht zu folgendem Schluss: „Selbst wenn ab 2017 keine zusätzlichen Emissionsrechte mehr versteigert würden, reicht die bereits verteilte Menge aus, um den Bedarf [...] bis 2020 zu decken.“
Es gibt zwei Wege, wie die EHS-Firmen zu ihren Emissionsberechtigungen kommen: Entweder sie ersteigern die Zertifikate oder sie kriegen sie vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) geschenkt. Jedes Jahr berechnet das BAFU, welche EHS-Firmen gemäss den geltenden Regeln jeweils wie viele Gratiszertifikate erhalten sollen. Nur: Zählt man diese Gratiszertifikate zusammen, gibt es ein Problem, denn die Gesamtmenge an Gratiszuteilungen war von 2013 bis 2020 jedes Jahr höher als die Mengen an Zertifikaten, die maximal vom Staat an die Firmen herausgegeben werden durften. Damit der Staat nicht alles verschenken muss und doch noch ein paar Zertifikate für die Versteigerung übrig blieben, mussten die Gratiszuteilungen deshalb jedes Jahr mit einem sogenannten sektorübergreifenden Korrekturfaktor nach unten angepasst werden. Das EHS kommt in der Schweiz offensichtlich an die Grenzen seiner Funktionalität.
Bleibt die Frage, wieso die Firmen trotzdem so reich beschenkt wurden. Die Antwort: Der Schutz der inländischen Industrie. Mit den Gratiszertifikaten will der Bund verhindern, dass sich die für die Klimagasemissionen verantwortliche Produktion aufgrund hoher CO2-Kosten in ein anderes Land verlagert.
Es gibt zwei Gründe, weshalb das passieren könnte. Erstens: Das Unternehmen verlagert die Produktion ins Ausland, um die CO2-Kosten in der Schweiz zu umgehen. Zweitens: Weil das in der Schweiz hergestellte Produkt aufgrund der CO2-Kosten teurer wird, verlagert sich die Nachfrage in Länder, wo das Produkt ohne oder mit einem tieferen CO2-Preis hergestellt werden kann. Beide Effekte zusammen bezeichnet man als „Carbon Leakage“.
Um Carbon Leakage zu verhindern, erhalten emissionsintensive Firmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, einen noch vorteilhafteren Deal, als sie ihn mit der Teilnahme am EHS bereits schon haben. Denn die Firmen, die Carbon-Leakage-gefährdet sind, bekommen gegenüber solchen ohne Gefährdungsstatus ein Vielfaches an Gratiszertifikaten zugeteilt.
Einerseits will man damit den Abzug von Arbeitgeber*innen und Steuerzahler*innen verhindern. Andererseits soll sichergestellt werden, dass sich die Kimagasemissionen nicht in Länder verschieben, in denen eventuell noch laschere Klimaschutzregeln gelten. Doch: Diese Grosszügigkeit im Umgang mit Gratiszertifikaten schmälerte die Wirksamkeit des EHS erheblich.
2013 hatten von den 56 EHS-Teilnehmer nur 12 keinen Carbon Leakage-Status. Von den 51 Schweizer Anlagen, die 2020 noch im EHS waren, hatten laut einer auf das Öffentlichkeitsgesetz gestützten Anfrage von das Lamm beim Bundesamt für Umwelt 39 Anlagen ganz oder teilweise den Carbon-Leakage-Status, also 76 Prozent.
Obwohl EHS-Firmen auch im europäischen Handelssystem Gratiszertifikate erhalten, ist der Anteil von Firmen mit Carbon-Leakage-Status nicht in allen Ländern so hoch wie in der Schweiz. Auf Anfrage teilt uns das deutsche Umweltbundesamt mit, dass bei unseren nördlichen Nachbarn 2021 lediglich 57 Prozent der EHS-Firmen aufgrund von Carbon-Leakage zusätzliche kostenlose Zuteilungen erhalten haben. In Deutschland fallen also deutlich weniger Firmen in die Kategorie Carbon-Leakage-gefährdet als in der Schweiz.
Bei den Schweizer Industrieanlagen ohne Carbon-Leakage-Status handelt es sich mehrheitlich um solche, die der öffentlichen Hand gehören. Die Recherchen von das Lamm zeigen: So gut wie alle privatwirtschaftlichen Anlagen im Schweizer EHS profitieren von einer extra grosszügigen Zuteilung an Gratiszertifikaten.
Würden die Konzerne tatsächlich abwandern?
Einige dieser Unternehmen haben wir auf ihren Carbon-Leakage-Status angesprochen. Wir wollten wissen, ob sie ihre Produktion tatsächlich ins Ausland verschieben könnten, falls sie in der Schweiz mehr für ihre Klimagasemissionen bezahlen müssten.
Roche lässt uns wissen, dass sie bestrebt sind, in „Ländern mit hohen Standards zu produzieren.“ Die Perlen Papierfabrik schreibt, dass sie seit 1873 an diesem Standort, also in Perlen, produziert und die Zuteilung von CO2-Zertifikaten keinen Einfluss auf die strategische Ausrichtung hat. „Eine Verlagerung ins Ausland ist kein Thema. Die Papierproduktion ist standortabhängig und kann nicht einfach verlagert werden.“ Auch beim Betonriesen Holcim winkt man ab: „Zement ist ein lokales Geschäft – unsere Produktion ist dort, wo die Rohstoffe sind.“
Einzig vom Chemiekonzern Lonza in Visp klingt es ein wenig anders. Im Nachhaltigkeitsbericht 2021 des Unternehmens ist zu lesen, dass die Kohlenstoffpreise noch kein entscheidender Faktor sind bei der Entscheidung, wo die Aktivitäten angesiedelt werden. Man erwarte aber einen Anstieg der Kosten und berücksichtige diesen auch im jährlichen Risikomanagement.
Anstatt unsere Fragen zu beantworten, verwies uns der Chemiekonzern Lonza nach längerer Wartezeit auf den firmeneigenen Nachhaltigkeitsbericht 2021. Die Seite 60 würde alle unsere Fragen beantworten. Doch anstelle von Antworten fanden wir dort vor allem Greenwashing. Obwohl keine andere Anlage so viele Klimagase ausstösst wie das Lonza-Werk in Visp, schreibt der Konzern in seinem Nachhaltigkeitsbericht „We do not consider our business to be carbon intensive“. (Auf Deutsch: „Wir betrachten unser Geschäft nicht als CO2-intensiv“).
Wie hoch ist das Risiko von Carbon Leakage?
Trotzdem sind sich die Expert*innen einig: Das Risiko von Carbon Leakage gibt es tatsächlich. Strittiger ist hingegen die Frage, wie viel CO2 tatsächlich abwandern könnte und wie hoch die Gegenmassnahmen sein müssen, um dies zu verhindern.
Sonja Peterson ist Klimaökonomin und Expertin für umweltpolitische Instrumente am Kiel Institut für Weltwirtschaft. Wir erreichen sie per Zoom-Call. „Ja, es ist wissenschaftlicher Konsens, dass es Carbon Leakage geben kann. Aktuelle Simulationen zeigen, dass es ohne Präventionsmassnahmen, wie zum Beispiel der Zuteilung von Gratiszertifikaten, typischer Weise zu einem Abfluss von 10 bis 15 Prozent der Emissionen kommt.“ Aber: „Die Höhe des Carbon Leakage ist schwer zu bestimmen, weil das von vielen Faktoren abhängt, die gar nicht alle simuliert werden können.“
Für empirische Studien fehlt hingegen ein Vergleichszenario. Um tatsächlich herauszufinden, ob das EHS ohne Gratiszuteilungen zur Abwanderung von Konzernen oder Emissionen geführt hätte, müsste man die heutige Situation mit einem EHS ohne Gratiszertifikate vergleichen können – was unmöglich ist.
Tatsächlich messbar ist Carbon Leakage aus dem Europäischen EHS nicht. Der Schutz der Wettbewerbsfähigkeit mithilfe von Gratiszuteilungen hat also offensichtlich gewirkt. Ob man diesen Effekt auch mit halb so vielen Gratiszuteilungen erreicht hätte, ist jedoch unklar.
Das sieht auch Johanna Bocklet so: „Mit den Gratiszuteilungen konnte Carbon Leackage vermutlich verhindert werden“, sagt Bocklet via Zoom. „Unklar ist, ob man teilweise zu grosszügig war mit den Gratiszuteilungen.“ Bocklet ist Energieökonomin und schrieb 2021 ihre Doktorarbeit über das EHS. Darin kommt sie zum Schluss, dass die Gratiszuteilungen möglicherweise weiter reduziert werden könnten, ohne das Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen zu erhöhen.
Laut Bocklet bräuchte es vor allem bei der Eisen- und Stahlproduktion, der Zement- und Kalkherstellung sowie der Zellstoff- und Papierindustrie weitere wissenschaftliche Analysen. Abgesehen von der Eisen- und Stahlproduktion sind das alles Sektoren, die in der Schweizer gut vertreten sind.
Besonderes Augenmerk sollte man bei der Einschätzung des Carbon-Leakage Risikos gemäss Bocklet darauf legen, wie mobil ein Industriesektor ist. Sprich: Wie einfach sich die Produkte transportieren oder die Produktionsstandorte verschieben lassen. Denn für die Verteilung des Carbon-Leakage-Status an die verschiedenen Industriesektoren sind momentan zwei Faktoren ausschlaggebend. Einerseits die Handelsintensität, das heisst, wie stark ein Sektor dem internationalen Handel ausgesetzt ist. Andererseits die Emissionsintensität, also wie hoch die Emissionen sind.
Dies führt dazu, dass es Sektoren mit einer mässigen bis geringen Handelsintensität auf die Liste der Carbon-Leakage-gefährdeten Sektoren schaffen – einfach weil sie sehr viel Treibhausgase ausstossen. Und dies, obwohl der Sektor gar nicht so mobil ist und die Gefahr von Carbon-Leakage dementsprechend gar nicht so gross.
Bocklet macht ein Beispiel: „Zement hat vergleichsweise hohe Transportkosten. Es ist teuer, das Endprodukt von weit her an den Verbrauchsort zu transportieren. Trotzdem bekommen die Zementkonzerne Gratiszuteilungen.“ Der Baustoffriese Holcim hat in der vergangenen Handelsperiode 1.9 Millionen Gratiszertifikate erhalten – mehr als jeder andere Schweizer EHS-Konzern.
Der Grund: Die Produktion von Beton und Zement verursacht sehr viele Treibhausgase. „Aber“, so Bocklet weiter, „wegen der hohen Transportkosten könnte man durchaus darüber diskutieren, ob der Businness-Case der Zementkonzerne mit einer Produktion ausserhalb der EU überhaupt funktionieren würde.“ Sprich: Ob sie überhaupt auswandern könnten – hohe Klimakosten hin oder her.
Steigende Zertifikatspreise bedeuten nicht zwingend Verschärfungen
Die grosszügig ausgeteilten Gratiszertifikate haben noch einen ganz anderen Effekt: So ist die Schlussfolgerung, dass bei zunehmendem Zertifikatspreis das EHS automatisch für alle EHS-Firmen verschärft wird, zu ungenau.
Einerseits, weil viele Konzerne nur einen Bruchteil der Emissionsrechte tatsächlich kaufen müssen und andererseits, weil einige Konzerne ungenutzte Zertifikate ansparen konnten und somit von steigenden Zertifikatspreisen profitieren, anstatt darunter zu leiden. Denn auch der Wert der Zertifikate in der Reserve steigt.
Die Katze beisst sich also in den eigenen Schwanz: Die Politik konzipierte ein System, das für CO2 einen Preis einführen sollte, um emissionsintensive Konzerne dazu zu bewegen, das Klima weniger zu belasten. Doch weil das Instrument tatsächlich funktionieren würde, schenkt die Politik den Firmen mit den höchsten Emissionen Gratiszertifikate, um die Kosten für eben diese Unternehmen tief zu halten.
Dank grosszügigen Zuteilungen von Gratiszertifikaten kamen Carbon-Leakage-gefährdete EHS-Konzerne sowohl in der Schweiz wie auch in der EU in der letzten Handelsperiode gut weg. Für die Schweizer EHS-Firmen gibt es aber noch einen weiteren Bonus. Denn: In der Schweiz profitieren die EHS-Firmen zusätzlich von der Rückverteilung der CO2-Abgabe – die sie selber gar nicht bezahlen. Mehr dazu im nächsten Artikel.
übersichtsartikel
Weniger CO2 dank Emissionshandel? Eine Bilanz der letzten Jahre
Der Bund erliess den grössten Umweltverschmutzern von 2013 bis 2020 drei Milliarden Franken an CO2-Abgaben und schenkte ihnen gleichzeitig Emissionsrechte im Wert von schätzungsweise 361 Millionen Franken. Das zeigen bislang unveröffentlichte Berechnungen vom Onlinemagazin das Lamm.
Artikel 1
Weniger CO2 dank Emissionshandel? Eine Bilanz der letzten Jahre
Die Konzerne mit den meisten Klimagasemissionen rechnen ihre CO2-Kosten im Emissionshandelssystem ab. Das sollte die Klimaverschmutzung bremsen. Gewirkt hat es kaum.
ArtikeL 2
Selbstsabotage beim Klimaschutz. Der Grund: die Wettbewerbsfähigkeit
Damit Klimaverschmutzung für die Verursacher*innen etwas kostet, führte man in der Schweiz 2008 den Zertifikatshandel ein. Weil das für emissionsintensive Firmen ziemlich teuer werden kann, verschenkt der Staat kostenlose Zertifikate. Unsere Recherche zeigt auf, wer die meisten Gratiszertifikate erhalten hat.
Artikel 3
Klimaumverteilung: Von den KMUs zu den Grosskonzernen
Nur ein paar wenige Firmen dürfen ihre CO2-Emissionen im Emissionshandelssystem abrechnen. Damit ist es für sie nicht nur günstiger, Emissionen zu verursachen. Sie profitieren auch ganz direkt von den CO2-Abgaben der KMU.
Artikel 4
Klimamilliarden für Holcim, Lonza, BASF und Co.
Erstmals zeigen Berechnungen von das Lamm: Der Staat erliess Grosskonzernen CO2-Abgaben in Milliardenhöhe. Wer hat wie stark davon profitiert? Wir bringen Licht in das letzte Jahrzehnt Emissionshandelsdunst.
Artikel 5
Ein Spezialdeal für die Klimakiller. Warum eigentlich?
Von 2013 bis 2020 subventionierte der Staat die emissionsintensivsten Firmen des Landes mit rund 3 Milliarden Franken. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, diskutierte man bereits vor 30 Jahren.
Artikel 6
Wann fällt die Dauerflatrate?
Die EU plant Reformen. Diese könnten das EHS raus aus der Geiselhaft der globalisierten Industrie und rein in eine tatsächliche Dekarbonisierung führen. Der Wermutstropfen: So bald wird sich kaum etwas ändern.
Artikel 7
Braucht es das EHS?
Wer heute Klimagase verursacht, der zahlt. Nur zahlen bis jetzt nicht alle gleich viel, wenn sie das Klima zerstören. Das ist nicht nur unfair, sondern bremst auch die notwendigen CO2-Reduktionen aus. Gehört das EHS deshalb abgeschafft? Eine Einordnung.
Die Recherchen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus der Stiftung Experimentelle Biomedizin unterstützt. Der Recherchepreis wird in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Recherche vergeben.
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