Sich selbst sein eigener Bulle sein

Das Private ist poli­tisch, ja. Aber linke Debatten beschränken sich oft auf das Poli­ti­sche im eigenen Alltag. Dabei gerät die Unter­drückung da draussen aus dem Blick. 
Linke Debatten mit Sprengkraft drehen sich viel zu oft um die linke Szene selbst. (Bild: Daniel May / Unsplash)

Am letzten Tag des vergan­genen Jahres erschien in der Tages­zei­tung Taz ein Essay von mir, in dem ich mich gegen ein Böller­verbot aussprach. Ich argu­men­tierte, dass Böllern an Silve­ster eine Form des symbo­li­schen Konsums – nicht nur, aber vor allem – der unteren Klasse sei und dass ein Verbot vor allem zum Falschen führen würde: Dazu, dass Jugend­liche in Kiezen krimi­na­li­siert werden, in denen nur die Armut noch grösser als die Wut der Abge­hängten ist. Silve­ster, das ist einer der wenigen Augen­blicke, in denen sich Preka­ri­sierte ihrer Stärke bewusst werden. 

Und genau so kam es auf den Strassen. Es knallten jedoch nicht nur dort, sondern es brannten in Folge meines Kommen­tars bei einigen die Siche­rungen durch. Was denn mit den Tieren sei? Mit den Verlet­zungen? Gehe es nicht viel eher um Männer und nicht um Arme? Symbo­li­scher Konsum, haha! Was soll das sein? Die Umwelt­ver­schmut­zung, schon mal daran gedacht? Gibt es dazu Stati­stiken, dass es vor allem Arme seien? Evidenz? Auch Reiche böllern?! Ein Böller­verbot, Hallo, das gelte doch an allen 364 Tagen im Jahr auch! Schon mal an Trau­ma­ti­sierte gedacht?

„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David 
gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Verstärkt wurden die durchweg gut gemeinten Argu­mente für ein Böller­verbot von rassi­sti­scher Politik, die sich – wie immer, wenn es einer Debatte an Spreng­stoff (haha) fehlt – an vermu­teten „Täter­na­tio­na­li­täten“, an Herkunft, an ange­nom­menen Migra­ti­ons­pro­blemen abar­bei­tete, um so poli­tisch zu punkten. Da wurden von der CDU, ganz in der Tradi­tion der AfD, die Vornamen der Tatver­däch­tigen abge­fragt. Die AfD, von der CDU rechts über­holt, wusste sich nur mit noch rassi­sti­scheren Parolen von einem Problem mit „Zuwan­de­rung aus archai­schen Kulturen“ zu helfen. Ganz normale Debatten in einem ganz normalen Land.

Doch auch inner­halb der Linken war die Gewalt an Silve­ster ein Thema. Einer der Kommen­tare nach der Silve­ster­nacht, veröf­fent­licht auf einem anar­chi­sti­schen Blog, fand neben deut­li­chen Worten für die kultu­relle Entfrem­dung zwischen linken Milieus und den Menschen, die in Berlin und anderswo Böller auf Einsatz­kräfte warfen, auch weitere Motive des Rück­zugs der Linken: „Dann die Nacht der Nächte, die Lust am Exzess, der all den Linken und selbst ernannten Anar­chi­sten fremd, unheim­lich geworden ist, weil sie nur noch ihre Neurosen pflegen, indem sie versu­chen, alles zu kontrol­lieren, ihr Denken, ihre Sprache, ihre Gefühle. Sich selbst ihr eigener Bulle geworden sind.“

Dieser Text hier versucht ausdrück­lich nicht, Klassen- und soge­nannte Iden­ti­täts­po­litik gegen­ein­ander auszuspielen.

Nun ist es so, dass ich an dem Kommentar Vieles nicht teile, vor allem nicht die Eindeu­tig­keit, mit der das poli­ti­sche Denken, Spre­chen und Fühlen zurück­ge­wiesen wird. Und doch kann ich dem Kern des Gedan­kens folgen: Dass das Private so zum Poli­ti­schen hoch­ge­ju­belt wird, dass soziale Kämpfe in deutsch­spra­chigen Ländern kaum noch in die Offen­sive gehen.

Das hat zwei Gründe. Der eine ist eine legi­time Repo­li­ti­sie­rung des privaten Raumes und des Raumes der zwischen­mensch­li­chen Bezie­hungen, die von verdeckten Herr­schafts- und Geschlech­ter­ver­hält­nissen durch­drungen sind. Dieser Text hier versucht ausdrück­lich nicht, Klassen- und soge­nannte Iden­ti­täts­po­litik gegen­ein­ander auszuspielen.

Der zweite Grund liegt in einem neuen poli­ti­schen Zeit­alter begründet, das sich durch­ge­setzt hat, der Hyper­po­litik. Wir erleben eine Zeit der poli­tisch aufge­la­denen Debatten, in der sich viele Menschen wieder als poli­ti­sche Subjekte verstehen. Das ist erst mal etwas Gutes, denn es zeigt, dass sich Menschen für Politik inter­es­sieren – und für das Proble­ma­ti­sieren von Unge­rech­tig­keits­ver­hält­nissen. Anton Jäger, der den Begriff geprägt hat, zeigt jedoch die Kehr­seite dieser Poli­ti­sie­rung auf: 

„Die ‚Hyper-Politik‘ zeichnet sich jedoch auch durch ihren spezi­fi­schen Fokus auf zwischen­mensch­liche und persön­liche Gepflo­gen­heiten aus. Das drückt sich vor allem in Mora­lismus aus und in der Unfä­hig­keit, die Dimen­sionen kollek­tiver Kämpfe zu durchdenken.“

Wenn der eigene Alltag, die Psyche und das eigene Handeln so mit Bedeu­tung aufge­laden wird, dann muss im Aussen nichts mehr passieren. Genial – für die Herrschenden. 

Wir haben auf der einen Seite also eine Aufla­dung des Privaten, in der sich immer klein­tei­li­gere Debatten als poli­ti­sche Akte verstehen, einher­ge­hend mit einem Mora­lismus, der sich in Teilen umkehrt, und das, was er vorgibt zu sein – nämlich inklusiv – unterwandert. 

Zwei Beispiele: Die Diskus­sion der Klima­be­we­gung „Ende Gelände“ um Worte wie „Profit-Gier“, die in Twitter-Kommen­taren als anti­se­mi­tisch kriti­siert wurden, oder das Wort „Bastard“ in der Parole „All Cops are Bastards“, das die Bewe­gung als „rassi­stisch und sexi­stisch“ benennt.

Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen einer Psycho­lo­gi­sie­rung und Patho­lo­gi­sie­rung des Alltags. Wenn Leute etwa sagen: „Jede*r sollte Therapie machen“, dann wird poli­ti­sche Arbeit vor allem als Arbeit am eigenen Selbst verstanden. Wenn der eigene Alltag, die Psyche und das eigene Handeln so mit Bedeu­tung aufge­laden wird, dann muss im Aussen nichts mehr passieren. Genial – für die Herrschenden. 

Nun ist es nicht so, dass der Kapi­ta­lismus und die herr­schenden Zustände keine Auswir­kung auf die Psyche haben. Ich habe selbst ein Buch darüber geschrieben, wie das Aufwachsen in Armut psychi­sche Störungen provoziert. 

Es ist wichtig, dass Herr­schafts- und Unter­drückungs­struk­turen im Privaten bekämpft werden. Doch es besteht die Gefahr, in diesem Zug einen Ablass­handel zu machen. Wenn ich im WG-Plenum die ungleich verteilte Erle­di­gung des Abwaschs proble­ma­ti­siere, kann ich danach die Füsse hoch­legen, denn ich habe ja Politik gemacht. Das ist ein über­zeich­netes Beispiel, aber viel­leicht wird dadurch klar, was gemeint ist. 

Vor allem im Blick auf Klasse und Menschen, die in Armut leben, stellt sich die Frage, wem bei dieser Art von Kämpfen geholfen ist, in dem sich oftmals gut ausge­bil­dete Menschen aus privi­le­gierten Teilen der Gesell­schaft um sich selbst drehen. Die Selbst­be­schäf­ti­gung linker Bubbles ist ein reales Phänomen, das für Armuts­be­trof­fene, für allein­er­zie­hende Mütter, für migran­ti­sche Lohnarbeiter*innen und Erwerbs­lose über­haupt keinen Nutzen hat.

In einem lesens­werten Text fragt die Erwerbs­losen-Akti­vi­stin Anne Seek im ND: „Wo war die Soli­da­ri­sie­rung der linken Szene in Berlin, als die Initia­tive ‚#Ichbi­n­ar­muts­be­troffen‘ im letzten Jahr eine Kund­ge­bung vor dem Bundes­kanz­leramt durch­führte, mit eindrucks­vollen Rede­bei­trägen von Betrof­fenen? Es kamen gerade mal 200 Menschen.“

Die Selbst­be­schäf­ti­gung linker Bubbles ist ein reales Phänomen, das für Armuts­be­trof­fene, für allein­er­zie­hende Mütter, für migran­ti­sche Lohnarbeiter*innen und Erwerbs­lose über­haupt keinen Nutzen hat.

Armut als Thema ist nicht sonder­lich sexy für viele Aktivist*innen. Arme Menschen teilen vor allem die Idee, nicht mehr arm zu sein, darüber hinaus haben sie viele verschie­dene Vorstel­lungen davon, wie die Welt orga­ni­siert sein sollte. Nicht alle Ideen laufen auf eine Revo­lu­tion heraus. Für poli­ti­sche Menschen, die einer Ideo­logie folgen, birgt dieser Umstand das Risiko, Menschen zu helfen, die ihrer poli­ti­schen Vision poten­ziell ableh­nend gegenüberstehen.

Und da sind wir wieder beim Mora­lismus und der Frage, welche Bedin­gungen Arme erfüllen müssen, damit Armut bekämpft wird. In meiner Vorstel­lung einer idealen Welt müssen Menschen keine Bedin­gungen erfüllen, damit man sich für sie einsetzt. Sie müssen nicht bestimmte Bücher gelesen haben, nicht den univer­si­tären Habitus teilen. Sie können Arsch­lö­cher sein, sie können rassi­sti­sche Sprache verwenden – was ich nicht gutheisse und was kriti­siert gehört – und trotzdem haben sie ein Recht darauf, nicht in Armut zu leben. 

Es geht in diesem Text nicht um das gegen­ein­ander Ausspielen von legi­timen Formen und Orten, an denen Politik statt­findet (Wohnung vs. Strasse, Sprach­kritik vs. Klas­sen­kampf). Sondern es geht darum, poli­ti­sche und soziale Kämpfe zum Erfolg zu führen und dafür braucht es eben nicht nur das Internet, das WG-Plenum oder die Unigruppe, sondern auch die Strasse. Es braucht nicht nur das Hinter­fragen von sozialen Bezie­hungen, sondern auch die gewerk­schaft­liche Orga­ni­sie­rung. Es braucht Lohn­kampf. Es braucht Soli­da­ri­sie­rung mit Erwerbs­losen. Es braucht die Unter­stüt­zung und Verste­ti­gung sozialer Proteste.

Warum also nicht gleich anfangen und am Ersten Mai gegen die Politik der Reichen auf die Strasse gehen. Es gilt, den eigenen inneren Goliath zu bekämpfen. Es gilt – in Soli­da­rität mit allen Kämp­fenden, allen Verach­teten und Unter­drückten – dem Bullen in sich eine Absage zu erteilen.


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