Soli­da­rität: Ein Begriff hat Konjunktur

Alle fordern Soli­da­rität ein: der Bundesrat und die Wirt­schaft, für das Gesund­heits­per­sonal und von Staats­an­ge­stellten. Aber wie könnten die poli­ti­schen Forde­rungen dieses neu gefun­denen Mitein­an­ders aussehen, damit der Ruf nach Soli­da­rität nicht nach über­stan­dener Krise verpufft? Einige Gedanken. 
(Foto: Diana Polekhina /Unsplash)

Der Ruf nach Soli­da­rität, nach einem neuen Mitein­ander in der Corona-Krise, er hallt in diversen Formen durch die Zeitungs­seiten, durch die sozialen Medien und durchs ganze poli­ti­sche Spek­trum. In der NZZ werden sowohl unbü­ro­kra­ti­sche Staats­hilfe für die Wirt­schaft als auch Lohn­ein­bussen von Staats­an­ge­stellten gefor­dert; die Detail­händler Denner, Lidl und Co. warnen in Online­kam­pa­gnen vor Hamster­käufen; an Haus­ein­gängen hängen Flyer von Nach­bar­schafts­hilfen, die ihre Unter­stüt­zung anbieten, und auf Balkonen tummeln sich neuar­tige Polizist*innen, die ihre Empö­rung über spazie­rende Menschen vert­wit­tern und sharen. 

Alles im Namen der Solidarität. 

Jetzt, wo der alte Kampf­be­griff der Arbeiter*innenbewegung gerade Konjunktur hat, ist viel­leicht aber auch ein guter Zeit­punkt, seine poli­ti­sche Spreng­kraft zu betonen. Denn, wie Alain Berset an der letzten Pres­se­kon­fe­renz so schön sagte: “Soli­da­rität ist nicht einfach ein schönes Wort für 1.-August-Reden. Jetzt können wir zeigen, was das wirk­lich bedeutet.” 

Acht Mal Solidarität

Soli­da­rität bedeutet nicht, Leute auf der Strasse und in den Parks an den Pranger zu stellen; das ist kollek­tive Empö­rung. Wenn Arnold Schwar­zen­egger in seiner Villa, von seinem Whirl­pool aus mit Zigarre im Maul über Menschen spottet, die in öffent­li­chen Cafés sitzen, ist das ein Hohn gegen­über denje­nigen, die nur für eine Stunde der engen Wohnung entfliehen wollen, in der sie mit ihrer Familie in Selbst­qua­ran­täne fest­stecken. #stay­thefuck­home ist wichtig, aber auch nur Hashtag-Akti­vismus, wenn er nicht die komplexen ökono­mi­schen und sozialen Lebens­rea­li­täten anerkennt.

Soli­da­rität ist selbst­kri­tisch. Wie ist ein Land, das in der Präambel seiner Verfas­sung das Bestreben nach “Soli­da­rität und Offen­heit gegen­über der Welt” fest­ge­schrieben hat, an der Vorfront des inter­na­tio­nalen Steu­er­wett­be­werbs gelandet? Warum ist es noch­mals ein Stand­ort­vor­teil, wenn in anderen Ländern das Geld für ein krisen­fe­stes Gesund­heits­wesen fehlt, weil Firmen in Steu­er­oasen wie der Schweiz übersiedeln? 

Soli­da­rität hinter­fragt, warum Bauarbeiter*innen, Detail­han­del­fach­an­ge­stellte und Gesund­heits­fach­per­sonen jetzt als system­re­le­vant gelten, diese Rele­vanz sich aber nicht in erfüllten Lohn­for­de­rungen und ausge­bauten Arbeits­rechten nieder­schlägt. Zu Recht weisen Gesund­heits­fach­per­sonen gerade darauf hin, dass die neu entdeckte Wert­schät­zung für ihren Berufs­stand zwar toll sei, aber eine würdige Entloh­nung und bessere Arbeits­be­din­gungen um einiges will­kom­mener wären. 

Soli­da­rität erin­nert sich an die Klima­krise, an die Aber­tau­send Menschen, die bereits jedes Jahr an den Folgen der Klima­er­wär­mung sterben und schaut dem Bundesrat auf die Finger, damit keine Steu­er­mittel für die Rettung der darbenden Flug­branche verwendet werden. 

Soli­da­rität ist femi­ni­stisch: Sie weiss, dass gerade in Krisen­zeiten wie dieser die Arbeit auf den Schul­tern von Frauen* lastet, und hält die Forde­rungen des Frauen*streiks bereit, um nach getaner Arbeit die längst über­fäl­ligen Rechte auf Selbst­be­stim­mung, Lohn­gleich­heit und Würde einzufordern.

Soli­da­rität schaut über Grenzen hinweg und sagt in den Worten des deutsch-türki­schen Psycho­logen Jan Ilhan Kizilhan: „Für mich bedeutet Frei­heit in Zürich auch Demo­kratie in Damaskus”. Oder Sant­iago de Chile. Oder Lesbos. Dort schaut Soli­da­rität genau hin, und sieht mit Besorgnis, wie gerade tausende Menschen in unmensch­li­chen Bedin­gungen zusam­men­ge­rottet werden. Sie fordert dort wie hier, dass Flüch­tende und Inter­nierte, etwa in den Bundes­asyl­zen­tren, endlich in Wohnungen unter­ge­bracht werden, damit die Mindest­an­for­de­rung von Hygiene und Abstand einge­halten werden können. 

Soli­da­rität schützt die wenigen staat­li­chen Insti­tu­tionen, die nach ihren Grund­sätzen aufge­baut sind, und wehrt sich gegen deren Sabo­tage. Viele fordern jetzt aus guten Gründen ein tempo­räres bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen, aber auf längere Sicht ist die Entstig­ma­ti­sie­rung und der Ausbau der Sozi­al­hilfe viel ziel­füh­render. Sozial Schwache, Armuts­be­trof­fene und ältere Menschen werden an der kommenden wirt­schaft­li­chen Krise beson­ders leiden. Eine ausge­baute AHV und eine nieder­schwel­lige Sozi­al­hilfe sind die soli­da­risch­sten Insti­tu­tionen, um diese Leiden zu mindern. 

Soli­da­rität war immer da, bereits vor dem Virus: mit Rojava, mit den Flüch­tenden und Inter­nierten, mit Betrof­fenen der Klima­krise, mit Opfern von sexua­li­sierter Gewalt. Sie wurde meistens von einer dezi­diert linken Bewe­gung gelebt, in Quar­tieren, in Medien- und Kultur­pro­jekten, in NGOs und Gewerk­schaften. Dass jetzt ein entpo­li­ti­sierter Soli­da­ri­täts­be­griff in denje­nigen Medien und bei Politiker*innen um sich greift, welche diese Bewe­gungen über Jahre hinweg klein­ge­redet haben, muss aufhor­chen lassen. 

Soli­da­rität ist Handeln

Aber Soli­da­rität ist eben kein Subjekt. Sie “tut” nichts, sondern sie zeigt sich in den Hand­lungen von uns allen. Wenn Alain Berset sagt, dass wir jetzt als Gesell­schaft zeigen können, was Soli­da­rität bedeutet, hat er recht. Soli­da­rität bedeutet aber nicht, Flüch­tende in Italien sitzen zu lassen, wie es der Bundesrat gerade letzte Woche entschieden hat. Sie ist ein Gegen­stück zur radi­kalen Verein­ze­lung im poli­ti­schen Status Quo – und drückt sich in kollek­tiven poli­ti­schen Forde­rungen aus. 

Wenn sie dies aber nicht tut, verkommt auch sie zu einem blossen Mittel zum Zweck: als zeit­wei­liges Zusam­men­stehen, bis der Spuk vorbei ist. Und verliert damit jegliche Bedeutung.


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