Chli schnorre

Der tradi­tio­nelle Stamm­tisch stirbt aus – und wird anderswo neu gelebt. Entsteht am gemein­samen Tisch gesell­schaft­li­cher Konsens oder kann das weg? Das Lamm hat drei Stamm­ti­sche in der Zentral­schweiz besucht. 
Mate statt Bier, junge Frauen statt alte Männer: Der Black Stammtisch in der Nähe vom Bahnhof Luzern setzt auf neue Traditionen. (Foto: Kira Kynd)

An einem Tisch in einem Raum mit tiefer Decke, in dem es nach geschmol­zenem Käse riecht, verlaufen zwei Gräben. Der eine trennt die Wein­trinker von den Bier­trin­kern. Der andere trennt die Kirchen­gänger von den Kirchen­ver­schmä­hern. „Das hier ist einer der intel­lek­tu­el­leren Stamm­ti­sche“, sagt die Kell­nerin und stellt ein Glas Rotwein auf den Tisch. Fünf Männer über sechzig lachen, werden rot und schauen auf ihr Glas. Es ist ein Donnerstag im April, kurz nach 18 Uhr, und wie jeden Donnerstag ist heute Männer­stamm im Gasthof Rössli in Ruswil. Ein Banker, ein Schreiner, ein Vete­rinär und ein Theo­loge sind heute unter anderem gekommen, alle in Rente. „Ich stehe am Morgen auf und habe Feier­abend!“, ruft einer von ihnen über den Tisch. Am Neben­tisch ruft jemand herüber: „Und ich stehe morgens auf und denke an den Feierabend!“

Stamm­ti­sche wie diesen gibt es in der Schweiz immer weniger. Weil Land­gast­höfe vieler­orts zuma­chen, gilt er als vom Aussterben bedrohtes Kultur­erbe. Viel­leicht auch, weil er keinen guten Ruf hat. Er sei eine Bastion des Männer­bundes, ein Safe Space für Sexi­sten, Rassi­sten und Anti­se­miten, so ein weit­ver­brei­tetes Klischee. Doch ein neuer Trend läuft dem zuwider: Das Konzept Stamm­tisch wird umge­deutet und mit neuem Leben gefüllt – auch in der Zentralschweiz.

Dieser Text erschien zuerst in einer gemein­samen Ausgabe von das Lamm und dem Kultur­ma­gazin 041.

Denn der Stamm­tisch hat Poten­zial. Ein gemein­samer Tisch kann Menschen aus unter­schied­li­chen Teilen der Gesell­schaft zusam­men­bringen. Dort kann gestritten und sich versöhnt, der viel­be­schwo­renen Spal­tung etwas entge­gen­ge­setzt werden. In einer Zeit, in der Debatten meistens in sozialen Medien geführt werden, scheint das attraktiv. Doch wie viel Konsens ist erlaubt, bevor ein Stamm­tisch zu einer Filter­blase voller Gleich­ge­sinnter wird? Und wie viel Dissens erträgt er, bevor das Gespräch erstickt? Mit diesen Fragen im Gepäck besu­chen wir drei Stamm­ti­sche in und um Luzern, länd­liche und städ­ti­sche, junge und traditionelle.

Rössli oder Bären?

Beni, der Theo­loge der Runde, komme nur, wenn er predigen wolle, spöt­teln die Männer am Tisch in Ruswil. Beni kann darüber nur erhaben lächeln. Prie­ster wollte er nie werden, „dafür habe ich die Frauen zu gern“, raunt er und grinst. Aber seine katho­li­sche Reli­gion ist ihm wichtig. Am anderen Ende des Tischs sitzen Walter und Walter. „Ich geh nur in die Kirche, wenn ich muss“, sagt einer der Walters. Zuletzt war er vor einer Woche dort, hat sich aber so über die Predigt geär­gert, dass er früher gegangen ist. „Wir sollten beten, damit es den Leuten in der Ukraine besser geht, fand der Prie­ster – so ein Quatsch!“, ruft Walter aus.

Im tradi­ti­ons­rei­chen Gasthof passt die Deko­ra­tion zum Namen. (Foto: Kira Kynd)

Ob er Atheist sei? „Ich bin Agno­stiker“, sagt er. „Ja, es ist wichtig, dass Leute zwei­feln“, sagt Beni in Rich­tung Tisch­ende. Walter: „Wenn man nicht verzwei­felt.“ – „So weit bist du aber noch nicht?“ – „Wenn ich dich anschaue, manchmal schon.“ Tisch­klopfen, lautes Lachen. Walter lehnt sich zufrieden zurück. Beni lächelt wieder erhaben, flüstert: „Die beiden da lachen jetzt, aber eigent­lich sind sie fromm“, und zeigt auf zwei Männer auf der Bank gegen­über. Die fünf kennen sich schon seit der Primarschule.

An einem der Tische in diesem Raum wurde einst die Katho­lisch-Konser­va­tive Partei gegründet, die später zur CVP wurde und heute Die Mitte heisst. Damals, als der grösste Graben in Ruswil zwischen den Konser­va­tiven und den Libe­ralen verlief, trafen sich die Libe­ralen im Bären, die Konser­va­tiven hier im Rössli und die Büezer*innen drüben im Löwen. Bis heute ist das hier der Stamm­tisch der werte­ori­en­tierten Konser­va­tiven. Es gibt zwar Gräben, aber beson­ders tief sind sie nicht.

Die Herren, die sich im „Rössli“ treffen, kennen sich schon ihr Leben lang. (Foto: Kira Kynd)

Beni passe aber überall rein, sagt er. „Ich kann in den Löwen rüber­gehen und mich mit den Büezern an den Tisch setzen, wo mal einer blöd schnurrt, ich kann mich aber auch hier hinsetzen und über einen Film spre­chen, der gerade im Kino läuft.“ Manchmal komme auch einer von der SVP, erzählt die Kell­nerin. Der werde dann von den anderen gefoppt. Frauen wären am Männer­stamm auch will­kommen, aber die Frauen haben ihren eigenen Stamm, jeden Sams­tag­morgen. Poli­tiker kommen nur, wenn gerade Wahl­kampf ist, sagt Walter. Warum ist der Stamm­tisch hier so beliebt? Man könne halt gut „chli schnurre“, sagt Beni.

Als ein junges Paar den Gasthof verlässt, fragt nach ein paar Sekunden einer in die Runde hinein: „Wie lange geben wir den beiden?“ Die Männer verziehen das Gesicht, jemand findet, die beiden würden gar nicht zusam­men­passen. „Wir sind hier wie die beiden Alten in der Muppet Show. Wir schauen auf alles hinab“, sagt einer der Walters. Um halb acht verab­schiedet Beni sich, seine Frau hat Älpler­ma­gronen gekocht. Vom Tisch ruft ihm jemand hinterher: „Gib Acht zu den guten Seelen, Beni!“ Vier Männer lachen und klopfen auf den Tisch.

Woher kommst du wirklich?

An einem anderen Stamm­tisch, ganz in der Nähe vom Bahnhof Luzern, sitzt Walesca Frank am Ende eines sehr langen Tischs und sagt: „Ich habe diesen Stamm­tisch bewusst Black Stamm­tisch genannt, nicht BIPoc-Stamm­tisch oder PoC-Stamm­tisch.“ Frank fragt in die Runde: „Wie bezeichnet ihr euch selbst?“ Ein paar Sekunden ist es still. Schliess­lich sagt jemand: „Ich habe keine Ahnung. Meistens sage ich einfach: Ich bin Latina. Dann ist das Thema vom Tisch.“

Egal, welche Labels sie für sich ange­messen finden: Die 13 Frauen, die sich an diesem Sonn­tag­nach­mittag in der Neuen Apotheke einge­funden haben, fühlten sich vom Aufruf zum Black Stamm­tisch ange­spro­chen. Auf Insta­gram postete Frank im vergan­genen Dezember: „Wir treffen uns, um über alles zu reden. Wir nehmen ausein­ander, was es bedeutet, schwarz zu sein in diesem Land. Wenn du Lust hast, komm!“ Seither kommen jeden Monat neue Menschen dazu.

Angie erzählt: „Wenn ich sage: ‚Ich komme aus Zürich‘, dann fragen viele: ‚Okay, aber woher kommst du wirk­lich?‘ Wenn ich sage: ‚Meine Eltern kommen aus Kenia‘, dann höre ich: ‚Oh, toll! Ich war mal in Namibia!‘ “ Die Leute suchten kultu­relle Anknüp­fungs­punkte, erklärt sich das eine der anderen Frauen, „aber warum nicht den offen­sicht­lich­sten Anknüp­fungs­punkt nehmen, dass wir nämlich beide Schwei­ze­rinnen sind? Warum schaust du die Seite von mir an, die anders ist, anstatt unsere Gemein­sam­keiten? Das verletzt mich.“

Hier wird sich nicht nur unter­halten – die Teilnehmer*innen veran­stalten auch gemeinsam ein kleines Foto­shoo­ting. (Foto: Kira Kynd)

Wenn man den Frauen so zuhört, zieht sich dieses Gefühl durch, nicht ganz dazu­zu­ge­hören. Das fängt an bei Biolo­gie­bü­chern in der Schule, in denen der mensch­liche Körper immer ein weisser Körper ist. „Aha, ihr Schwarzen tragt eure Babys auch im Bauch? Inter­es­sant“, kommen­tiert jemand ironisch. Und es reicht bis hin zur Popkultur, als Yania sagt: „Die Nagel­looks, die heute ‚in‘ sind, haben schwarze Frauen in den Ghettos der USA schon seit Jahr­zehnten gemacht. Aber erst seit Kim Karda­shian sie trägt, finden es alle cool.“

Der Black Stamm­tisch schafft Anknüp­fungs­punkte für Menschen, die ähnliche Erfah­rungen machen, schafft eine Möglich­keit zum Abgleich. Aber nicht nur: In Zukunft soll er offen für Menschen sein, die keinen Rassismus erleben, aber zuhören wollen. Mit der Hoff­nung, so Verständnis zu schaffen, viel­leicht sogar Gräben zwischen den Erfah­rungen zu über­winden. Dass das auch nach hinten losgehen kann, erfuhr die Gruppe schon beim ersten Treffen. Damals kam eine Frau von der Strasse herein, im Schau­fen­ster hing ein Hinweis auf die Veran­stal­tung. Sie war erstaunt, wie gut alle Schwei­zer­deutsch sprä­chen, und redete von afri­ka­ni­schen Männern, die angeb­lich ihre vielen Kinder nicht ernähren könnten. „Wie damit umgehen?“, fragt Frank. Nur Fragen sind erlaubt, keine Behaup­tungen, schlägt jemand vor. Und sie müssen zuerst notiert und dann ausge­wählt werden. Zu gross dürfen die Gräben nicht werden, sonst ist es kein sicherer Ort für Austausch mehr, finden alle.

Das Treffen habe auch etwas Thera­peu­ti­sches, findet Frank irgend­wann. Angie stimmt zu: „Ich liebe meine weissen Freund*innen, sie sehen in mir den Menschen, der ich bin. Aber gewisse Themen kann ich mit ihnen nicht bespre­chen, weil sie es nicht erleben und nicht auf dieselbe Weise verstehen.“ Am Ende zählt Frank auf: „Also, was wollen wir alles ändern? Schul­bü­cher – und den ganzen Rest.“

Keine Freaks

Wack­lige Holz­ti­sche stehen anein­an­der­ge­reiht an der Seepro­me­nade in Luzern. Nach und nach kommen Leute an, schüt­teln Hände, stellen sich vor, setzen sich hin, schauen sich ein paar Minuten wortlos an, so lange, bis dieser und der Neben­tisch voll sind. Für die meisten ist es zunächst ein kleines Wagnis, sich an diesen Stamm­tisch zu setzen. In der Mitte der Tisch­reihe steht ein Fähn­chen mit einem Durch­messer von wenigen Zenti­me­tern. Darauf ein Herz und ein Unend­lich­keits­zei­chen – das Symbol der Poly­amorie. Niemand hier will den eigenen Namen in einem Magazin sehen, ein Foto schon gar nicht. Denn hier treffen sich einmal im Monat Menschen, die Bezie­hungen in „konsen­su­eller Non-Mono­gamie“ führen.

Die Teilnehmer*innen des Poly­amorie-Stamm­ti­sches in Luzern bleiben lieber anonym. (Foto: Kira Kynd)

Zum Beispiel Barbara*. Seit 26 Jahren hat sie zwei Partner: einen Ehemann, mit dem sie zwei Kinder gross­ge­zogen hat, und einen Freund. Ihr Ehemann hat wiederum eine Freundin. Barbara und ihr Mann kamen als Teen­ager zusammen, aber auf ewig in Zwei­sam­keit schien ihnen etwas lang. „Wir waren der Meinung, dass es am besten für uns klappt, wenn wir auch andere Personen lieben dürfen.“ Den Begriff Poly­amorie kannten sie damals nicht.

So geht es vielen der Anwe­senden, die alle über vierzig sind, viele über fünfzig und einige noch ein ganzes Stück älter: Das poly­amore Leben kam zuerst, der passende Begriff erst später. „Mir war immer klar, dass man mehrere Personen gleich­zeitig lieben kann“, sagt etwa Urs*, „den Begriff Poly­amorie kenne ich erst seit Kurzem.“ Am Wochen­ende geht Urs manchmal mit seiner Frau und ihrem Partner wandern. Der ist gleich­zeitig Urs’ bester Freund. Weder Barbara noch Urs können mit Freund*innen oder Familie über ihre Bezie­hungen reden. „Einige von ihnen haben sich distan­ziert, als sie davon erfuhren“, sagt Barbara. Und Markus tarnt seine Dates, indem er mit dem Geschäfts­auto hinfährt: „Neugie­rige Nachbar*innen denken dann, ich sei als Berater da“, sagt er und lacht. Hier schaut sie niemand schräg an, weil sie mehrere Bezie­hungen führen.

Peter* setzte sich schon vor dreissig Jahren mit der Viel­liebe ausein­ander – im Internet. „In den Neun­zi­gern gab es Foren für alles. Wir tauschten uns im geschützten Rahmen aus“, erzählt er. „Heute ist das Internet voller Kommerz und jeder Post für immer auffindbar.“ Keine guten Bedin­gungen, um sich über Intimes zu unter­halten. Also grün­dete Peter Anfang der 2000er den Poly­stamm­tisch Luzern – eine Rück­kehr in die Privat­sphäre des Analogen und zugleich ein Weg, Sicht­bar­keit zu schaffen: „Wir wollten, dass Poly­amorie etwas ganz Normales wird.“ Doch bis heute führen die Menschen hier einen Teil ihres Lebens im Geheimen. Barbara sagt: „Wir treffen uns auch, weil wir uns gegen­seitig bestärken in unserer Lebens­form. Wir versi­chern uns, dass wir keine Freaks sind.“ Der Konsens als gegen­sei­tige Bestätigung.

Die drei Stamm­ti­sche vereint, dass es nicht darum geht, Gräben aufzu­reissen, sondern darum, Gemein­sam­keiten zu finden. Darin, wie man liebt, worüber man lacht oder was man erlebt. Gegen­sätze haben kaum Platz, andern­falls verliert der Stamm­tisch seine Inti­mität. Und trotzdem entsteht ein Konsens, etwa wenn Schwarze Frauen aus ihren indi­vi­du­ellen Erfah­rungen eine gemein­same formu­lieren. Oder wenn poly­amore Paare ihre Bezie­hungs­form norma­li­sieren, zum gemein­samen Konsens erheben, indem sie darüber spre­chen. Und auch dann, wenn ein gläu­biger Theo­loge sich mit einem Agno­stiker an einen Tisch setzt und der Schen­kel­klopfer wich­tiger ist als die Religion.


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