Stram­peln bis zum Unfall

Velokurier:in ist ein Beruf im Umbruch. War es früher eher ein kleiner Nebenjob, gibt es heute mehr und mehr Fahrer:innen, die auf die Einnahmen drin­gend ange­wiesen sind. Trotzdem bleibt die Situa­tion der Arbei­tenden oft prekär. Ein welt­weiter Streik ist gerade geschei­tert. Eine Repor­tage aus drei Städten. 
Nicht nur Strampeln: Velokuriere müssen oft auch lange auf den nächsten Auftrag warten, wie hier im reichen Viertel Providencia von Santiago de Chile. (Foto: Marco Lagos)

Was haben Zürich, Berlin und Sant­iago de Chile gemeinsam? In allen drei Städten erlebt der Job als Velokurier:in gerade ein starkes Wachstum. Doch ein lang ange­kün­digter inter­na­tio­naler Streik für den 8. Oktober fiel sang- und klanglos ins Wasser.

Während in Berlin und Zürich kaum ein:e Fahrer:in vom Streik mitbe­kommen hatte, flackerten die Streik­pa­rolen von Riders Unidos Ya in Sant­iago de Chile durchs Internet. Doch passiert ist auch hier nichts. „Wir hatten zwar beschlossen, am 8. Oktober symbo­lisch zu streiken“, erzählt Juan Pedro Püschel, „haben es aber nicht hinge­kriegt. Derzeit haben wir nicht die Kraft, einen Streik zu orga­ni­sieren und wollen nicht noch mehr Konflikt mit unserem Arbeitgeber.“

Der etwa 40-jährige Mann steht zusammen mit seinem etwa 30-jährigen Genossen Daniel Larra in einer leben­digen Einkaufs­pas­sage in einem wohl­ha­benden Zentrums­viertel von Sant­iago de Chile. Zusammen sind sie im Vorstand der neuen Gewerk­schaft Riders Unidos Ya, bestehend aus Fahrer:innen des Liefer­dien­stes PedidosYa.

Die Gruppe hat sich erst im April im Zuge einer Protest­ak­tion gebildet. Mehrere Fahrer:innen hatten sich spontan orga­ni­siert, um gegen das neue Bezahl­sy­stem zu prote­stieren. Dieses kam einer Lohn­re­duk­tion von 40 % gleich. Die Antwort folgte prompt: „Pedi­dosYa ortete per GPS unsere Handys und bestrafte all jene, die an der Protest­ak­tion teil­ge­nommen hatten“, erzählt Püschel. Reduk­tion der Aufträge und Entlas­sungen waren die Folge. Seitdem kämpfen sie gegen dieses System der Ausbeu­tung – mit dem Ziel, auf Dauer in der Firma ange­stellt zu werden und ein gutes Verhältnis zum Arbeit­geber zu haben.

Juan Pedro Püschel und Daniel Larra mit ihren eigens für die Gewerk­schaft ange­fer­tigten Pull­overn. (Foto: Marco Lagos)

Orts­wechsel, Zürich. Hier gibt es erst gar keine Orga­ni­sa­tionen wie Riders Unidos Ya. Schon deshalb fiel der Streik am 8. Oktober aus. Patrick, selbst Fahrer und einer der wenigen, die sich gewerk­schaft­lich orga­ni­sieren, vermutet, dass es an der hohen Zahl der Nebenjobber:innen liegt: „Die Fahrer:innen wollen schnell ein biss­chen Geld verdienen und mit dem Rest nichts zu tun haben“, sagt er.

Trotzdem haben sich in jüng­ster Zeit auch in Zürich Arbeiter:innen zusam­men­getan. Auslöser waren auch hier die Mass­nahmen zu Beginn der Corona-Pandemie. Beim Liefer­dienst notime wurde aus hygie­ni­schen Gründen auf elek­tro­ni­sche Zahlung umge­stellt. Über sechs Wochen hinweg konnten keine Trink­gelder kassiert werden. Die Ausfälle wurden nicht ersetzt.

„Mit der fehlenden Kompen­sa­tion für das Trink­geld hat es ange­fangen“, erin­nert sich Noël, ein ehema­liger notime-Fahrer. „Wir haben zuerst eine WhatsApp-Gruppe gegründet.“ Auf die Anfrage per WhatsApp meldeten sich etwa 20 bis 25 von schweiz­weit bis zu 270 Fahrer:innen.

„Wir haben einen offenen Brief an die Kolleg:innen und die Firmen­lei­tung geschrieben und darin nochmal die Probleme benannt“, erzählt Noel. Die wich­tig­sten Punkte: fehlende Kompen­sa­tion bei den Trink­gel­dern, schlechte Kommu­ni­ka­tion durch das Manage­ment und mangel­hafte Ausrü­stung der Fahrer:innen mit Equip­ment wie Regen­jacken, Porte­mon­naies oder Ersatz­akkus für das Smartphone.

Probleme mit der Ausrü­stung und fehlender Ersatz bei Mate­ri­al­schäden sind es auch, womit die Kolleg:innen in Berlin häufig zu kämpfen haben. Hier müssen die Fahrer:innen wegen der nied­ri­geren Gehälter manchmal bis zu zehn Stunden am Tag auf dem Velo stram­peln. Das setzt Mensch und Mate­rial hoher Bela­stung aus.

In Zürich immer noch auf dem Vormarsch: Uber Eats. (Foto: Anna Moser)

Daniel Roddy, Musiker und Kurier beim Food Deli­very Service, kann davon ein Lied singen: „Es kommt oft vor, dass an meinem Fahrrad etwas kaputt geht oder die Thai-Suppe im Ruck­sack ausläuft. Dann müssen wir immer erst nach Hause und der rest­liche Arbeitstag ist im Eimer.“ Ein Verlust, der kaum zu kompen­sieren ist, denn trotz 35-Stunden-Woche kommt Daniel mit seinem Job nur gerade so über die Runden.

In Berlin gibt es seit Jahren gewerk­schaft­liche Arbeit im Liefer­dienst­be­reich. Die Gewerk­schaft Nahrung-Genuss-Gast­stätten, welche beim Deut­schen Gewerk­schafts­bund DGB ange­glie­dert ist, und die anar­cho­syn­di­ka­li­sti­sche Freie Arbeiter:innen Union unter­stützen gemeinsam ein Basis­ko­mitee. Doch gewon­nene Kämpfe und Mitglie­der­zu­wachs bleiben aus.

Dies zeigt die Geschichte von Daniel. Er trifft sich regel­mässig mit 20 weiteren Arbeiter:innen von Lieferando. „Hier haben wir die Möglich­keit, uns gemeinsam an das Unter­nehmen zu wenden und unsere Beschwerden vorzu­bringen“, erzählt Daniel. „Wenn man alleine geht, sagen die, man könne sich einfach einen neuen Arbeits­platz suchen.“

Es ist schwierig, neue Mitglieder zu werben. Wo denn, wenn man den ganzen Tag alleine durch die Stadt fährt? „Wir verteilen hin und wieder Flyer oder versu­chen andere Fahrer:innen vor den Restau­rants anzusprechen.“

Daniel selber kam auch nur durch Zufall in die Gewerk­schaft. Vor ein paar Monaten musste er umziehen und landete in der WG mit einem anderen Kurier. Der Mitbe­wohner war in einer Gewerk­schaft aktiv und lud Daniel ein, mitzu­ma­chen. Anders hätte es nicht geklappt. Es gibt zu wenige Treff­punkte, an denen sich die Fahrer:innen gegen­seitig kennen­lernen könnten.

Der Erfolg lässt auf sich warten. Das Unter­nehmen reagiert derzeit nicht auf ihre Forde­rungen. Gewon­nene Arbeits­kämpfe? – Fehlanzeige.

Auf eigene Gefahr

Welt­weit sehen sich Velokurier:innen ähnli­chen Problemen gegen­über. Sie vereint insbe­son­dere die Schein­selbst­stän­dig­keit, in der sie gefangen sind. Beson­ders für die Arbeiter:innen in Sant­iago hat dies fatale Folgen. „Wir haben keine Kranken‑, Unfall- oder Renten­ver­si­che­rung“, meint Püschel. „Bei einem Unfall sind wir ganz auf uns allein gestellt.“ Das Unter­nehmen kommt weder für den Schaden noch für die Zeit der Arbeits­un­fä­hig­keit auf. In der Schweiz und in Deutsch­land sind nach langen, zähen Arbeits­kämpfen mitt­ler­weile die meisten Kurier:innen korrekt ange­stellt. Nur Uber Eats verwei­gert seinen Ange­stellten bis heute anstän­digen Versicherungsschutz.

Auch in Deutsch­land kommt es regel­mässig zu schweren Unfällen. Daniel erzählt: „Als vor einigen Wochen ein Velo­ku­rier in Köln starb, trafen wir uns in Berlin mit mehreren Fahrer:innen vor dem Büro­ge­bäude von Lieferando und legten Kerzen nieder.“ Der Vorfall hat den Gewerk­schafter ins Grübeln gebracht. „Bisher ist mir zum Glück nichts passiert, doch ich entkomme immer wieder nur knapp einem Unfall.“

Eine rosige Zukunft?

Unter­dessen wurde das Trink­geld­pro­blem in Zürich zwar tech­nisch gelöst. Kompen­sa­tion für die Einnah­me­aus­fälle gab es aber keine. Doch der Brief erregte Aufmerk­sam­keit. Schweiz­weit meldeten sich Velokurier:innen. In Zürich kommen sie nun regel­mässig zusammen, um sich über Probleme und Mass­nahmen auszu­tau­schen. Es entstand das Freie-Fahrer*innen-Treffen in Zürich.

Über den Sommer trafen sich die Fahrer:innen einmal im Monat am Oberen Letten. Bei Bier wurden Probleme bespro­chen und Erfah­rungen ausge­tauscht – wert­volle persön­liche Kontakte, zu denen es im Arbeits­alltag der Velokurier:innen viel zu selten kommt. Patrick kann sich vorstellen, dass in solchen spon­tanen Zusam­men­künften immerhin eine Chance für neues gewerk­schaft­li­ches Handeln liegt.

Nicht nur Velos: Die Gewerk­schafter liefern auch mit Motor­rä­dern aus. (Foto: Marco Lagos)

Eine Chance, die unbe­dingt genutzt werden muss. Denn: „Was wir hier erleben“, ist sich Püschel aus Chile sicher, „ist leider die Arbeit der Zukunft.“ Genau deshalb geht es darum, heute für anstän­dige Arbeits­be­din­gungen zu sorgen. Püschel und Larra waren bereits im Parla­ment, wo ein Geset­zes­pro­jekt zur Regu­la­ri­sie­rung dieser Arbeits­ver­hält­nisse disku­tiert wird. In Concep­ción, einer Hafen­stadt im Süden Chiles, urteilte derweil ein Gericht, dass Pedi­dosYa seine Arbeiter:innen fest anstellen muss. Es gibt Hoff­nung, doch der Weg ist lang.

Daniel aus Berlin ist bereit, diesen Weg zu gehen. Denn der Job als Velo­ku­rier, findet er, könnte durchaus sehr schön sein. Er träumt von besseren Löhnen und einer realen Unter­stüt­zung durch das Unter­nehmen: „Stell dir vor, es gäbe in allen Stadt­teilen Werk­stätten des Unter­neh­mens. Wenn ich einen Platten habe oder etwas kaputt geht, könnte ich einfach da hingehen, wo ich dann mein Fahrrad repa­riert bekomme oder einen Ersatz für den Tag erhalte.“


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