Über­wa­chungs­ka­meras: Was soll das eigentlich?

Die Anzahl Über­wa­chungs­ka­meras in der Stadt Zürich nimmt laufend zu. Aber während auf der einen Seite die Bürger*innen immer gläserner werden, bleibt die andere Seite der Kame­ra­linse erschrecken intrans­pa­rent. Ein Überblick. 
An den geschwungenen Dächern des neu gestalteten Centrals wuselt es geradezu. (Foto: Claude Hurni)

Zürich, Central: Sie sind überall. An den geschwun­genen Dächern des neu gestal­teten Verkehrs­kno­ten­punkts wuselt es gera­dezu von ihnen. Über 20 Über­wa­chungs­ka­meras filmen jeden Zenti­meter des ÖV-Knoten­punkts. Und das Central ist keine Ausnahme: Die Anzahl Über­wa­chungs­ka­meras in der Stadt Zürich hat in den letzten Jahren massiv zuge­nommen. Weitest­ge­hend ausge­blieben ist hingegen öffent­li­cher Protest dagegen. Man hat sich damit abge­funden, dass sie zum Stadt­bild gehören. Und dass man eben gefilmt wird, wohin man auch geht: an den Halte­stellen, rund um Schul­häuser, in den Strassen. Wie viele Kameras es genau sind, das weiss niemand. Aber dazu später mehr.

„Die Video­über­wa­chung dient der Sicher­heit unserer Fahr­gäste und Mitar­bei­tenden, sowie dem Schutz unserer Infra­struktur“, sagt der Rechts­dienst des Zürcher Verkehrs­ver­bunds (ZVV) auf Anfrage. Der ZVV betont aber, dass mit den erho­benen Daten verant­wor­tungs­voll umge­gangen werde. Nur ausge­wählte Mitarbeiter*innen hätten Zugang. Und natür­lich im Scha­den­fall auch die straf­ver­fol­genden Behörden von Bund und Kanton – also etwa die Kantons­po­lizei. Auf Anfrage auch der Nach­rich­ten­dienst. Der Verkehrs­ver­bund kann sogar ein Daten­schutz­gü­te­siegel vorweisen: GoodPriv@cy.

Was bringt’s?

„Video­über­wa­chung hat insbe­son­dere eine präven­tive Wirkung und erhöht das Sicher­heits­emp­finden der meisten Reisenden“, erklärt der Pres­se­spre­cher der SBB, Reto Schärli, dem Lamm, ange­spro­chen auf die schät­zungs­weise 200 Kameras im Zürcher Haupt­bahnhof. Diese präven­tive Wirkung sei wissen­schaft­lich belegt, sagt Johannes Ullrich, Professor für Sozi­al­psy­cho­logie an der Univer­sität Zürich. In Situa­tionen, in denen wir uns beob­achtet fühlen, seien wir proso­zialer und wichen weniger von sozialen Normen ab. Er erläu­tert die Wirkung anhand eines Expe­ri­ments: „Sie nehmen ein Augen­paar, ein ganz normales, geba­steltes Augen­paar, und Sie hängen das in einem WC auf. Es ist erwiesen, dass sich danach mehr Personen die Hände waschen werden als ohne.“

Die erhöhte Norm­kon­for­mität, die mit Über­wa­chung einher­geht, betont auch Chri­stoph Müller. Er ist Sozio­loge, war aktiv bei den Big Brother Awards, ist Grün­dungs­mit­glied des Vereins grundrechte.ch und hat mehrere wissen­schaft­liche Artikel zum Thema publi­ziert. Die präven­tive Wirkung von Kameras rela­ti­viert er aber deut­lich: Über­wa­chung bewirke vor allem eine Verla­ge­rung. Etwa von gut über­wachten an weniger über­wachte Orte. Oder von sicht­baren Delikten, wie etwa Raub­über­fällen, auf Delikte, die kaum über­wacht werden können, wie zum Beispiel Taschen­dieb­stähle. „Eine Kamera kann zwar abschreckend wirken, sie kann das Gefühl der subjek­tiven Sicher­heit erhöhen und sie kann manchmal ein Mittel zur Aufklä­rung von Straf­taten sein“, sagt Chri­stoph Müller. „Aber letzt­lich schützt eine Kamera vor rein gar nichts.“

Hinter der zuneh­menden Video­über­wa­chung würden viel­mehr poli­ti­sche Gründe stecken, sagt der Sozio­loge. Es gehe bei der Video­über­wa­chung um Macht und um Kontrolle; darum, wer was über wen weiss. „Über­wa­chung führt zu einer konfor­meren und gleich­för­mi­geren Gesell­schaft, die immer weniger Abwei­chungen zulässt.“

Diese normie­rende Wirkung betrifft alle. Über­wa­chung hat einen Einfluss darauf, wie sich Personen verhalten – egal, ob sie ‚etwas zu verbergen haben‘ oder nicht. Gläserne Bürger*innen sind konfor­mere Bürger*innen, das bestä­tigt auch der Psycho­loge Johannes Ullrich.

In Zürich werden die Bürger*innen scheinbar unauf­haltsam trans­pa­renter. Von der Über­wa­chung – ihrer Geset­zes­lage und ihren Urheber*innen – kann das nicht behauptet werden: Während auf der einen Seite der Kame­ra­linse Personen dazu genö­tigt werden, immer mehr von sich preis­zu­geben, bleibt die andere Seite erschreckend dunkel.

Die gesetz­liche Grund­lage: ein Flickenteppich

Zunächst liegt das daran, dass die gesetz­liche Grund­lage der Über­wa­chung kaum über­schaubar ist. Ein kurzer, ober­fläch­li­cher Überblick:

Die Grund­lage bildet das Bundes­ge­setz über den Daten­schutz (DSG). „Das Bundes­ge­setz über den Daten­schutz ist anwendbar auf Organe des Bundes sowie Private“, erklärt der Daten­schutz­be­auf­tragte des Kantons Zürich, Bruno Baeriswyl. Wenn Privat­per­sonen oder Unter­nehmen Über­wa­chungs­ka­meras einsetzen wollen, gilt also das DSG. Der Eidge­nös­si­sche Daten­schutz­be­auf­tragte (EDÖB) beauf­sich­tigt die Einhal­tung des DSG. „Kanto­nale Daten­schutz­ge­setze — im Kanton Zürich das Infor­ma­tions- und Daten­schutz­ge­setz (IDG) – gelten für Gemeinden und kanto­nale Stellen“, sagt Baeriswyl. Der kanto­nale Daten­schutz­be­auf­tragte ist hier die Aufsichts­in­stanz. Es sei denn, die Gemeinden haben eigene Daten­schutz­be­auf­tragte. Das trifft auf die Städte Zürich und Winter­thur zu.

Und das ist nur ein Teil des Flicken­tep­pichs. Wer wie über­wa­chen darf, ist zudem fest­ge­halten in diversen Verord­nungen und weiteren Gesetzen: etwa in Poli­zei­ge­setzen, im Gesetz über den Nach­rich­ten­dienst oder in der Verord­nung über die Video­über­wa­chung im öffent­li­chen Verkehr. Einer Verord­nung, die 2010 in Kraft trat und ausschliess­lich Video­über­wa­chung von Verkehrs­be­trieben regelt. Sie dient den SBB und dem ZVV als Grund­lage ihrer Überwachung.

Ein veral­teter Flickenteppich

Die Geset­zes­lage ist aber nicht nur komplex, sie ist auch veraltet. Die Gesetze können mit dem tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt nicht mithalten. „Geset­zes­re­vi­sionen sind in einem demo­kra­ti­schen Prozess nun mal lang­wie­riger als der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt“, sagt Silvia Böhlen, Spre­cherin des Eidge­nös­si­schen Daten­schutz­be­auf­tragten. Konkret: Das DSG, das zurzeit revi­diert wird, stammt von 1992. Dem Jahr, als zum ersten Mal in der Geschichte eine Text­nach­richt an ein Mobil­te­lefon gesendet wurde. Seither hat sich die Gesell­schaft radikal verän­dert. Es wurden Möglich­keiten der Über­wa­chung geschaffen, die früher kaum vorstellbar waren. Das Daten­schutz­ge­setz gilt noch immer. Zurzeit wird es einer Total­re­vi­sion unter­zogen. Der Abschluss der Bera­tungen des Entwurfs zur Total­re­vi­sion von 2017 durch die eidge­nös­si­schen Räte ist jedoch noch offen.

Dass das Gesetz die tech­no­lo­gi­sche Entwick­lung nicht anti­zi­pieren konnte, sei aber schon beim Verfassen des DSG klar gewesen, sagt Silvia Böhlen: „Das Gesetz ist deshalb bewusst tech­no­lo­gie­neu­tral formu­liert. Dadurch bleibt das Gesetz offen für weitere tech­no­lo­gi­sche Entwick­lungen und verhin­dert keine Inno­va­tionen.“ Damit sollte das Gesetz länger aktuell bleiben. Tatsäch­lich sagt das DSG nichts Konkretes über verschie­dene Über­wa­chungs­formen wie etwa die Video­über­wa­chung aus. Veraltet ist es trotzdem.

Beispiel Gesichts­er­ken­nung: „Der Nach­rich­ten­dienst äussert sich nicht zu seiner opera­tio­nellen Tätigkeit.“

Denn trotz bester Absicht, das Gesetz tech­no­lo­gie­neu­tral zu verfassen: Gewisse Tech­no­lo­gien liessen und lassen sich nicht ange­messen anti­zi­pieren. Ein Beispiel dafür ist die Gesichts­er­ken­nung. Es gibt keine gesetz­liche Grund­lage, die den Einsatz dieser Tech­no­logie explizit regelt. Aber: „Wenn etwa die Kantons­po­lizei Gesichts­er­ken­nung einsetzen möchte, dann bedürfte das einer gesetz­li­chen Grund­lage – weil die Tech­no­logie den Abgleich mit einer Daten­bank beinhaltet“, so Bruno Baeriswyl.

Das stimmt aber nur bedingt. Denn ob auch der Nach­rich­ten­dienst des Bundes (NDB) auf den Einsatz der Technik verzichtet, ist unklar. Für die Wahrung wich­tiger Landes­in­ter­essen, etwa zum Schutz des Werk‑, Wirt­schafts- und Finanz­platzes Schweiz, könnte er wohl gestützt auf das Bundes­ge­setz über den Nach­rich­ten­dienst auf entspre­chende Soft­ware zurück­greifen. Die Kommu­ni­ka­ti­ons­chefin des NDB, Isabelle Graber, antwortet auf die Frage von das Lamm, ob der Nach­rich­ten­dienst Gesichts­er­ken­nungs­soft­ware einsetze: „Der NDB äussert sich nicht zu seiner opera­tio­nellen Tätig­keit.“ Silvia Böhlen, die Spre­cherin des Eidge­nös­si­schen Daten­schutz­be­auf­tragten, sagt: „Wir haben keine Kenntnis davon, ob der NDB Gesichts­er­ken­nungs­soft­ware einsetzt.“

Hernâni Marques vom Chaos Computer Club Schweiz, dem hiesigen Ableger der grössten Hacker­ver­ei­ni­gung Europas, warnt zudem davor, dass auch bei anderen Behörden wie etwa der Polizei kaum über­prüfbar ist, ob sie die Vorschriften einhalten: „Um Gesichts­er­ken­nung durch­zu­führen, braucht es nur ein Programm, in das man die entspre­chenden Aufzeich­nungen speist“, sagt er. „Es ist kaum möglich, das nach­zu­ver­folgen.“ (Hier geht’s zum ganzen Inter­view) Den Bürger*innen bleibt nichts anderes übrig, als auf das Ehren­wort der Behörden zu vertrauen. Vertrauen, das Hernâni Marques nicht aufbringen will: „Späte­stens seit dem Fichen-Skandal müsste allen klar sein, dass der Staat die ihm zur Verfü­gung stehenden Mittel der Über­wa­chung nutzen wird, wenn er es als notwendig erachtet.“

Am Beispiel der Gesichts­er­ken­nung wird deut­lich, wie intrans­pa­rent die exzes­sive Über­wa­chung von den Behörden tatsäch­lich betrieben wird: Das Daten­schutz­ge­setz wird vom Gesetz über den Nach­rich­ten­dienst ausge­he­belt; auch sonst wird die Anwen­dung der Tech­no­logie nur hinsicht­lich des Abgleichs mit Daten­banken gere­gelt und nicht explizit, dafür ist sie zu neu – und kontrol­lieren lässt sich der Einsatz der Tech­no­logie sowieso nicht. Wer sich auf die Suche nach den Grenzen der Über­wa­chung begibt, stösst erschreckend schnell an Grenzen.

Poli­ti­sche Kontrolle? Ein „büro­kra­ti­scher Papiertiger“

Und diese Intrans­pa­renz scheint nicht uner­wünscht. Minde­stens in Zürich. 2016 entschied sich der Kantonsrat dagegen, ein Regi­ster der im öffent­li­chen Raum instal­lierten Kameras zu erstellen, das auf Anfrage, etwa von Kantonsrät*innen, einsehbar wäre. Das wäre bloss ein „büro­kra­ti­scher Papier­tiger“, meinte der zustän­dige Regie­rungsrat Mario Fehr in der Debatte. Der bürger­liche Kantonsrat schloss sich seiner Meinung an. Wie viele Kameras in Zürich instal­liert sind, weiss deshalb niemand, auch Daten­schützer Baeriswyl nicht. Wie die einzelnen Kameras mitein­ander vernetzt sind, weiss laut Kantonsrat Rafael Steiner auch niemand. Es müsse möglich sein, sich im Kanton Zürich von Punkt A nach Punkt B zu bewegen, ohne dass die Polizei das wisse, sagte er im Parla­ment. Alles andere sei ein Poli­zei­staat. „So weit sind wir zum Glück nicht, oder doch?“ Zur Erin­ne­rung: Als Kantonsrat müsste Rafael Steiner eigent­lich poli­ti­sche Kontrolle über den Einsatz von Kameras üben. Er tappt derweil genauso im Dunkeln wie wir.

Vertrauen in den guten Herrscher

Eine Besse­rung der Situa­tion ist nicht in Sicht. Die stetige Zunahme der Über­wa­chung scheint unauf­haltsam. Auch, weil öffent­li­cher Wider­stand kaum wahr­nehmbar ist. Über­wa­chung wird heute nicht mehr als Ausdruck von Macht wahr­ge­nommen, sondern als Notwen­dig­keit, sagt der Psycho­loge Johannes Ullrich. „Ich glaube, dass eine Norma­li­sie­rung statt­ge­funden hat.“ Man nehme es als gegeben an, dass Über­wa­chung immer da ist; man habe sich damit arran­giert, dass es halt nicht anders gehe. Gemäss dem Sozio­logen Chri­stoph Müller übe Über­wa­chung in den Augen der Öffent­lich­keit höch­stens Macht über die anderen aus, über die Bösen: „Im Sinne des guten Herrschers.“

Dieser gute Herr­scher wird derweil immer mäch­tiger. Dass er sich dabei kaum in die Karten blicken lässt, inter­es­siert indes kaum jemanden. Zu gross ist das Vertrauen. Dass sich seine Vorstel­lung des Guten nicht mit der eigenen Vorstel­lung des Guten decken könnte, das scheint für die meisten unvor­stellbar. Irgendwie verständ­lich. Denn erst wenn diese Einig­keit einmal zerbricht, wird spürbar, dass es für alles andere schon zu spät ist.


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