Wieso kommen unsere Mais­kölb­chen aus Indien?

Der geschmol­zene Raclette-Käse gehört, kombi­niert mit feinen Herdöp­feln, einem guten Weiss­wein und sauren Silber­zwie­beli, zum Schweizer Winter, wie das Alphorn auf die Alp. Und auch die süss­sauer einge­legten Mais­kölb­chen dürfen auf keinem Raclette­teller fehlen. Doch wie kommen die eigent­lich auf diesen Teller? 
Ein tradiotionell schweizerisches Gericht? (Illustration: Jacek Piotrowski @jaski_art)

Dass Raclette und Sauer­ge­müse im Winter bei uns so hoch im Kurs stehen, hat nicht nur kuli­na­ri­sche, sondern histo­risch gesehen auch prak­ti­sche Gründe. In der vorin­du­stri­ellen Schweiz gab es während der kalten Jahres­zeit weder genü­gend Vieh­futter für eine inten­sive Milch­pro­duk­tion noch laufenden Nach­schub an frischem Gemüse aus den Gewächs­häu­sern Spaniens. Deshalb war es wichtig, die Kalo­rien des Sommers in den Winter hinein lagern zu können.

Eine zentrale Rolle spielte dabei das Verkäsen der Milch. Damit konnte die in der Milch gespei­cherte Energie für den Winter haltbar gemacht werden. Zwie­beln, Gurken und Co. wurden frisch gehalten, indem man sie sauer einlegte. Milch und Gemüse konnten so auch genossen werden, wenn draussen Schnee lag, die Felder längst abge­erntet und die Kühe im Stall waren.

Beim sauer einge­legten Gemüse ging es aber nicht nur darum, die Bäuche voll­zu­kriegen, sondern auch um die Gesund­heit: Über die langen Winter konnten Vitamine zur Mangel­ware werden. In einge­legtem oder fermen­tiertem Gemüse bleiben die Vitamine jedoch gröss­ten­teils erhalten. Vitamine in Form der heute so beliebten Mais­kölb­chen dürften in der Schweiz jedoch frühe­stens ab dem 17. Jahr­hun­dert aus dem Essig gefischt worden sein; die Pflanze stammt ursprüng­lich aus Südamerika.

Alte Tradi­tion made in India

Essig­ge­müse nimmt also neben Cervelat und Schab­ziger einen ganz beson­deren Platz auf der histo­risch-kuli­na­ri­schen Spei­se­karte der Schweiz ein. Umso grösser war unser Erstaunen, als wir vor einigen Monaten bei einem Einkaufs­bummel in der Migros um die Ecke das Etikett eines dieser Mais­kölb­chen­gläser genauer betrach­teten: Die gelbe Köst­lich­keit wurde nicht etwa aus dem Aargau, sondern aus Indien impor­tiert. Die Kölb­chen haben also mehr als 8’000 Kilo­meter zurück­ge­legt, bevor ich sie für das nächste Raclette in den Einkaufs­wagen legen konnte.

Und nicht nur die Mais­kölb­chen der Migros reisen weit. Auch die von Denner, Aldi und Coop wachsen auf Feldern in Indien. Nur der Mais in den Gläsern der Marke Chirat legt etwas weniger Kilo­meter zurück: Er kommt aus der Türkei.

Das erwartet man nicht: Unsere Raclette-Mais­kölb­chen kommen fast alle aus Indien. (Foto: Alex Tiefenbacher)

Wachsen die Mais­kölb­chen im indi­schen Klima besser? Gäbe es zwischen den Alpen und dem Hima­laya keine näheren Felder für unsere Raclette­bei­lage? Wir haben bei den grössten Vertei­lern nach­ge­fragt, weshalb sie ihre Mais­kölb­chen nicht von weniger weit weg in die Schweizer Läden holen. Zuerst bei der Migros. Und zwar mit dem auf dem Einkaufs­bummel entstan­denen Bild via Instagram:

Der orange Riese schreibt uns auch auf Insta­gram zurück:

Guten Morgen

Es gäbe schon Produ­zenten, welche näher an Europa dran sind. Das Problem ist aber, dass die Länder kleine Mengen produ­zieren und damit meist den Eigen­be­darf decken. Somit können sie die inter­na­tio­nale Nach­frage nicht decken.

Für die Versor­gung über eine lokalere Produk­tion essen wir also zu viele Mais­kölb­chen. Deshalb wollten wir von der Migros wissen, ob es nicht eine Option wäre, selber einen näher­lie­genden Anbau aufzu­ziehen. Die Antwort hat eine humo­ri­sti­sche Note:

Eine solche Produk­tion in der benö­tigten Menge würde sich nicht rentieren. Die Migros ist im inter­na­tio­nalen Vergleich ein kleiner Player, weshalb wir kosten­tech­nisch ganz weit weg wären von dem, was wir jetzt anbieten.

Die Nach­frage nach Mais­kölb­chen ist laut der Migros also gerade zu gross, um lokaler befrie­digt werden zu können, aber auch zu klein, um den Aufbau einer eigenen Produk­tion rentabel zu gestalten. Damit wendet die Migros das zentrale Argu­ment der ersten Antwort um 180 Grad.

Coop weicht mehr­mals aus

Auch bei Coop, Aldi und Denner haben wir per Mail nachgefragt:

Guten Tag

Ich schreibe an einem Artikel über saure Mais­kölb­chen und hätte eine Frage an Sie. Die Mais­kölb­chen kommen ja von Indien. Sie müssen also etwa 8’000 Kilo­meter weit reisen, bevor sie bei uns im Laden stehen. Würden solche Mais­kölb­chen nicht auch weniger weit weg wachsen?

Vielen Dank für eine kurze Antwort und liebe Grüsse

Dazu hat Coop Folgendes zu sagen:

Guten Tag

Gerne beant­worten wir Ihre Anfrage wie folgt:

Die betref­fenden Mais­kölb­chen sind nach Fair­trade-Stan­dards gehan­delt. Damit leistet Coop einen Beitrag für faire Preise und Arbeits­be­din­gungen für die Produ­zenten in Indien.

Mit freund­li­chen Grüssen

Coop

Fair ist zwar sicher besser als unfair. Die Frage, ob die Mais­kolben nicht weniger weit weg ange­pflanzt werden könnten, beant­wortet Coop damit aber nicht. Und auch nach weiteren Mails erhalten wir darauf keine Antwort. Ob Coop uns keine Auskunft geben will oder kann, bleibt offen. Schliess­lich rät man uns Folgendes: „Bitte wenden Sie sich hierfür an eine Fachperson.“

Was wir auch machen. Die nächste Mail geht an das Kompe­tenz­zen­trum für land­wirt­schaft­liche Forschung des Bundes, Agro­scope. „Selbst­ver­ständ­lich könnten diese Mais­kölb­chen in der Schweiz produ­ziert werden“, schreibt uns die Kommu­ni­ka­ti­ons­ab­tei­lung auf die Frage, ob man die kleinen Kolben theo­re­tisch auch bei uns anbauen könnte. Dass dies nicht geschehe, sei ledig­lich eine Frage der Produk­ti­ons­ko­sten und ‑auflagen und der Konsu­men­ten­preise. Denn bei Pesti­zid­ein­satz, Löhnen und Sozi­al­auf­lagen würden in Indien schlicht tiefere Stan­dards gelten als in der Schweiz.

Und auch vom Forschungs­in­stitut für biolo­gi­schen Landbau erhalten wir eine ähnliche Antwort. Lucius Tamm, Leiter des Depar­te­ments Nutz­pflan­zen­wis­sen­schaften, meint dazu: „Es wäre sicher möglich, die Mais­kolben bei uns zu produ­zieren, aber ich vermute, dass viel Hand­ar­beit invol­viert ist.“ Hand­ar­beit, die in der Schweiz wohl um einiges teurer wäre als in Indien. Unter anderem weil in der Schweiz jede Arbeits­kraft ein Anrecht auf ein paar Wochen Ferien, eine Unfall­ver­si­che­rung und eine Alters­vor­sorge hat.

Die Rech­nung ist also einfach: Je besser die Arbeits­be­din­gungen und je strenger die Auflagen, die den Einsatz von Pesti­ziden regeln, desto teurer wird das Mais­kölb­chen­glas. Oder wie es die Migros formu­lierte: desto weiter weg wäre man kosten­tech­nisch von dem, was man jetzt anbiete. Dass der Preis der wahre Grund ist, weshalb man die Mais­kölb­chen nicht in der Schweiz anbaut, liegt auf der Hand. Deut­lich ausspre­chen will man das aber weder bei Coop noch bei der Migros.

Auch bei Denner und Aldi geht es um den Preis

Etwas weniger Hemmungen, das eigent­lich Offen­sicht­liche zuzu­geben, scheint man bei Denner und Aldi zu haben. Gerade bei den Mais­kölb­chen der Denner-Eigen­marke sei das Preis-Leistungs-Verhältnis ein wich­tiges Krite­rium, schreibt der Discounter. Dies, weil sie zum soge­nannten „Preis-Einstiegs-Segment“ gehören würden. Zwar hätten Schweizer Produkte grund­sätz­lich Vorrang. Aber: „Gibt es keinen Anbieter, der in puncto Liefer­si­cher­heit, Qualität und Preis/Leistung die Krite­rien erfüllt, suchen wir Alter­na­tiven im Ausland.“ Zwei­fellos gebe es näher gele­gene Produ­zenten. Nur erfülle keiner die oben erwähnten Krite­rien, schreibt uns Denner.

Seit Februar ist unsere Redak­torin mit einer tief­grei­fenden Recherche beschäf­tigt. Das Thema: Sauer einge­legte Mais­kölb­chen. Denn an der Raclette-Beilage zeigt sich mehr Global­po­litik, als man meinen würde. Entstanden ist eine drei­tei­lige Serie:

Teil 1:  Eine der wich­tig­sten Raclette­bei­lagen kommt mehr­heit­lich aus Indien. Wir haben bei den Läden nach­ge­fragt, wieso das so ist.

Teil 2: In Indien kommen Pesti­zide zum Einsatz, die zwar in der Schweiz herge­stellt werden, deren Anwen­dung hier­zu­lande aber verboten ist. Landen diese Gift­stoffe auch auf den Mais­kölb­chen-Felder?

Teil 3: Es gibt sie auch in Fair­trade. Aber genügt das?

Und auch bei Aldi sei der Haupt­grund für die Liefe­ran­ten­wahl stets das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wobei auf der Seite der Leistungen auch „Aspekte wie Qualität, Nach­hal­tig­keit sowie mögliche Zerti­fi­zie­rungen“ eine Rolle spielen würden. Ein Fair­trade-Signet sucht man auf den Aldi-Gläsern aber trotzdem umsonst. Und eine lokalere Produk­tion wäre sicher nachhaltiger.

Die Umwelt­schutz­auf­lagen, die wir uns für unsere eigene Natur geben, und die sozialen Mindest­stan­dards, die wir in unseren eigenen Anstel­lungs­ver­trägen lesen wollen, scheinen den Maiskölbchenanbieter:innen und ‑käufer:innen zu teuer zu sein. Wir alle wollen sauberes Trink­wasser und eine garan­tierte Anzahl Wochen Ferien im Jahr. Dennoch sind wir offen­sicht­lich nicht bereit, für unser Essen einen Preis zu bezahlen, der anderen genau das ermög­li­chen würde. Und auch die Detail­händler produ­zieren lieber dort, wo weder Umwelt­auf­lagen noch Arbeits­schutz die Rendite stören: in Indien.

Klima­ver­träg­liche Vitamine

Die klima­ti­schen Bedin­gungen sind also nicht der Grund, weshalb die Detail­händler das ganze Jahr über Erdöl verbrau­chen, um die gelben Köst­lich­keiten aus 8’000 Kilo­me­tern Entfer­nung her zu schippern.

Schon dass Frisch­ge­müse dank des billigen Erdöls aus Spanien, Italien oder sogar Chile einge­fahren wird, ist ökolo­gi­scher Schwach­sinn. Wird jedoch gar einge­legtes Gemüse um die halbe Welt geschifft, geht dabei nicht nur der eigent­liche Sinn und Zweck des Einma­chens flöten, sondern auch noch mehr Erdöl. Denn die Kolben wandern laut Coop, Migros, Aldi und Denner bereits in Indien in den Essig.

Zusätz­lich zum Gewicht der Mais­kölb­chen muss also auch noch das Gewicht von Glas und Flüs­sig­keit trans­por­tiert werden. Doch auch wenn die Kölb­chen erst in der Schweiz einge­legt werden würden, wäre das wenig sinn­voll. Denn dann müssten die Mais­kölb­chen gekühlt trans­por­tiert werden. Was auch wieder zusätz­liche Energie verschwenden würde. Die Quint­essenz ist: Der Sinn von einge­machtem Gemüse war es, Vitamine vom Sommer in den Winter zu trans­por­tieren, nicht von Indien in die Schweiz.


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