Sachbuch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif
Auf der Grundlage dieser Artikelserie ist ein Sachbuch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunktverlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Nulltarif – Das Schweizer Emissionshandelssystem und wer davon profitiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buchfiliale deines Vertrauens erhältlich.
In Kürze
- Von der Dauerflatrate im EHS wollen auch kleinere Unternehmen profitieren. Die Anzahl Firmen, die im Schweizer EHS abrechnen, hat sich folglich seit 2021 fast verdoppelt.
- Vonseiten der EU sind Anpassungen im EHS geplant. Eine davon ist der CO2-Grenzausgleich in Form einer Zollabgabe.
- Vollständig eingeführt wird dieser CO2-Zoll voraussichtlich jedoch erst 2034.
Eine Flatrate auf Monsteremissionen – das war das Emissionshandelssystem (EHS) in der letzten Handelsperiode. Für die schlimmsten Klimasünder*innen gab es Emissionsrechte zum Nulltarif, einige Konzerne konnten sich dank der Teilnahme am EHS sogar bereichern, während KMUs und alle Bürger*innen für jede Emissionstonne, die sie aus fossilen Brennstoffen verursachten, zwischen 36 und 96 Franken CO2-Abgabe bezahlen mussten. Alles in allem gingen dem Staat in der vergangenen EHS-Handelsperiode dadurch laut Schätzungen von das Lamm rund drei Milliarden Franken CO2-Abgaben durch die Lappen.
Firmen, die ihre Klimakosten unter dem Emissionshandelssystem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Stattdessen müssen sie für jede ausgestossene Tonne CO2 ein entsprechendes Zertifikat erwerben. Diese Zertifikate sind nichts anderes als Emissionsrechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zertifikaten und diese Menge, der sogenannte Cap, wird schrittweise gesenkt. Diese Verknappung soll den Preis der Zertifikate erhöhen.
Die Firmen können die Zertifikate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuflich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratiszertifikaten an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhindern, dass sie ihre Emissionen ins Ausland verlagern.
Zeitlich ist das EHS in mehrjährigen Handelsperioden mit mehr oder weniger gleichbleibenden Regeln organisiert. Die letzte Handelsperiode lief von 2013 bis 2020.
Wichtig: Die Zertifikate im Emissionshandelssystem sind nicht an Projekte gekoppelt, die der Atmosphäre Klimagase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompensationen für Flugreisen kennt. Bei diesen freiwilligen Kompensationszahlungen spricht man zwar oft auch von “Zertifikaten”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.
Wer darf beim EHS mitmachen?
Grundsätzlich sind im EHS Firmen aus den Branchen mit den höchsten Treibhausgasemissionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitmachen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verordnung stehen. Auf dieser Liste sind beispielsweise die Metall- oder die Zementindustrie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Missverständnissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.
Zusätzlich gibt es Branchen, die freiwillig beim EHS mitmachen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verordnung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holzindustrie. Kurzum: Im EHS versammeln sich die Grosskonzerne aus der Energieproduktion und der Schwerindustrie.
Der überwiegende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teilnehmen. Diese zahlen stattdessen für jede Tonne Klimagase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.
Im EHS registriert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschiedenen Industrieanlagen der Firmen – also ein Zementwerk, ein Stahlwerk oder ein Heizwerk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Standorten im EHS vertreten sein.
Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratiszertifikate erhält?
Die Anzahl Gratiszertifikate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einerseits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratiszertifikate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen beziehungsweise deren Produktionsanlagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emittieren immer noch Unmengen an Klimagasen.
Anderseits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den sogenannten Carbon-Leakage-Status beanspruchen, mehr Gratiszertifikate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klimagasemissionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klimaschutzmassnahmen in ein anderes Land verlagert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren.
In der Handelsperiode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zertifikate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zertifikate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträchtliche Menge EHS-Zertifikate beiseitelegen können. Diese Reservebildung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.
Wie kommen die EHS-Firmen zu den restlichen Zertifikaten?
Einerseits führt das BAFU regelmässig Versteigerungen durch. Andererseits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt interessierte Akteur*innen untereinander mit den Emissionsrechten. Dieser Handel läuft über mehrere Energiebörsen – zum Beispiel über die European Energy Exchange (EEX) mit Sitz in Leipzig.


Verknüpft mit dem europäischen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?
Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem europäischen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grundsätzlich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine nationale Klimagesetzgebung eingebettet sind, bedeutet die Teilnahme am EHS für eine europäische Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brennstoffe eine CO2-Lenkungsabgabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.
Diese Lenkungsabgabe wird grösstenteils an die Schweizer Bevölkerung zurückverteilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rückverteilung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätzlichen Einnahmen aus der nationalen CO2-Abgabe erhalten europäische EHS-Firmen nicht.
Dass das wenig mit Verursacherprinzip oder Gerechtigkeit zu tun hat, liegt auf der Hand. Zudem braucht die Industrie stattdessen dringend klare finanzielle Signale, um von der fossilen Energieversorgung wegzukommen. Deshalb plant die EU Reformen.
Da die wirklich einschneidenden Anpassungen aber noch länger auf sich warten lassen, erstaunt es kaum, dass der Start der neuen Handelsperiode etwa gleich aussieht wie das Ende der vergangenen: Der Staat verteilt den klimaschädlichsten Konzernen weiterhin Zertifikate zum Nulltarif – und das in grossen Mengen.
Sowohl die gratis zugeteilte Menge an Emissionszertifikaten wie auch die im EHS registrierten Klimagasemissionen waren zum Start der neuen Handelsperiode 2021 etwa gleich hoch wie 2020. Wie die Zahlen für 2022 aussehen, ist noch nicht bekannt. Zwar seien die Gratiszuteilungen auf das Jahr 2022 gekürzt worden, lässt uns das Bundesamt für Umwelt (BAFU) auf Anfrage wissen, aber die definitiven Zuteilungen stehen bei einigen Firmen noch aus. Um wie viel die Gratiszuteilungen tatsächlich gesunken sind, lässt sich deshalb noch nicht abschätzen.
Ab 2021: mehr Unternehmen im EHS
Was sich aber mit dem Start der neuen Handelsperiode ganz sicher verändert hat, ist die Anzahl Firmen, die ihre Klimakosten unter dem EHS abrechnen wollen. Waren es Ende 2020 noch rund 50 Industrieanlagen, sind auf den Start der neuen Handelsperiode 94 Anlagen im EHS gemeldet. Neu mit dabei sind auch bekannte Konzerne wie die Emmi Schweiz AG, SWISS KRONO AG oder das Kernkraftwerk Gösgen.
Wir haben bei der Emmi Schweiz AG, der SWISS KRONO AG und dem Kernkraftwerk Gösgen nachgefragt, wieso sie auf die neue Handelsperiode hin ins EHS gewechselt haben. Die Molkerei Emmi verweist auf die damals unsichere Gesetzeslage rund um die Abstimmung über das neue CO2-Gesetz, die sie zum Wechsel bewogen hat.
Das Kernkraftwerk Gösgen schreibt, dass sie in den vergangenen Jahren die normale CO2-Lenkungsabgabe auf fossile Brennstoffe zahlten. Aber: „Wirtschaftliche Überlegungen haben das Kernkraftwerk Gösgen (KKG) dazu bewogen, nun am Emissionshandelssystem (EHS) teilzunehmen.“ Einmal mehr zeigt sich: Die Emissionen über das EHS abrechnen zu können, ist ein Privileg.
Die in der Massenverarbeitung von Holzwerkstoffen tätige SWISS KRONO AG lässt uns wissen, dass sie mit dem EHS-Beitritt des Schweizer Werks „analog zu den Werken im EU-Raum agieren“ wolle. Denn SWISS KRONO betreibt weitere Werke im EU-Raum und „allfällige Zertifikate möchte man aus Gruppensicht händeln“, heisst es weiter.
Es könnte aber noch einen anderen Grund für den Wechsel von SWISS KRONO ins EHS geben. Denn während einige Branchen 2021 von der Carbon Leakage-Liste der EU gestrichen wurden, kamen ein paar neue hinzu. Firmen aus den Branchen auf dieser Liste profitieren im EHS von extra grosszügigen Zuteilungen von Gratiszertifikaten. Einer dieser neuen Industriezweige ist die „Herstellung von Furnieren und Holzwerkstoffen“. Swiss Krono dürfte vom BAFU also nun mehr Gratiszertifikate erhalten.
Auch die Kleinen wollen profitieren
Neben einigen grossen und bekannten Namen fällt aber vor allem eines auf: 2021 kamen viele kleinere Emittent*innen neu ins EHS. Denn auch für sie ist das ein lohnender Schritt. Ein Beispiel: Die in der Produktion und Verarbeitung von Baustoffen tätige AlpiAsfalt AG emittierte 2021 197 Tonnen CO2. Auch wenn das immer noch den Emissionen von über zehn durchschnittlichen Schweizer*innen entspricht, ist es nur ein Bruchteil dessen, was die wirklich grossen Klimaverschmutzer*innen im EHS in die Luft pusten.
Waren es Ende 2020 noch rund 50 Industrieanlagen, sind auf den Start der neuen Handelsperiode 94 Anlagen im EHS gemeldet.
Über die CO2-Abgabe hätte das Unternehmen 2021 für seine Klimagasemissionen 23’000 Franken bezahlen müssen. Durch die Teilnahme am EHS konnte sich AlpiAsfalt diese Kosten sparen. Zudem erhielt AlpiAsfalt Gratiszertifikate für 273 Tonnen Klimagase zugeteilt – also mehr, als sie für ihre eigenen Emissionen brauchten. Würde AlpiAsfalt die überschüssigen 76 Zertifikate verkaufen, könnte das Unternehmen bei einem Zertifikatspreis von 80 Franken (Stand 25. Januar 2023) rund 6’000 Franken Gewinn machen.
Kurzum: Anstatt mit einem Minus von 23’000 Franken schliesst AlpiAsfalt 2021 seine Klimabilanz mit einem potenziellen Plus von 6’000 Franken ab. Verglichen mit den Einsparungen und den potenziellen Gewinnen von Holcim, Lonza und BASF ist das natürlich eine kleine Nummer – trotzdem macht auch AlpiAsfalt jetzt dort Geld, wo andere bezahlen müssen.
Das System ist am Ende
Dass das Systems EHS in seiner jetzigen Ausgestaltung an Grenzen stösst, belegt das BAFU gleich selbst mit Zahlen. Denn die Gesamtmenge an Gratiszertifikaten, die das BAFU gemäss den aktuellen Regeln unter den EHS-Firmen verteilen müsste, ist seit Jahren fast gleich hoch wie die Menge an Zertifikaten, die das BAFU maximal abgeben darf.
Fakt ist: Die Anzahl Zertifikate, die tatsächlich gegen Geld vom BAFU an die EHS-Firmen gingen, hielt und hält sich weiterhin in Grenzen.
Die Gesamtmenge an Gratiszertifikaten, die das BAFU gemäss den aktuellen Regeln unter den EHS-Firmen verteilen müsste, ist seit Jahren fast gleich hoch wie die Menge an Zertifikaten, die das BAFU maximal abgeben darf.
Und genau das ist der Grund, weshalb auch der im Jahr 2022 neu eingeführte Marktstabilitätsmechanismus kaum wirkt. Durch diesen Mechanismus wird sich in Zukunft die Versteigerungsmasse halbieren, falls zu viele Emissionsrechte auf dem Markt verfügbar sind.
Auch die EU kennt einen Mechanismus, der die Versteigerungsmenge kürzen soll. Die europäische Marktstabilitätsreserve ist aber nicht eins zu eins identisch mit dem schweizerischen Marktsstabilitätsmechanismus. Da das europäische und das Schweizer EHS seit 2020 miteinander verknüpft sind, erstaunt dies. Deshalb haben wir beim BAFU nachgefragt. Dieser Unterschied zwischen den zwei Systemen ist möglich, weil sie auf zwei eigenständigen Rechtsgrundlagen basieren, schreibt das BAFU. Das Abkommen, das die beiden EHS verknüpft, stelle lediglich sicher, dass „wesentliche Kriterien“ eingehalten werden, die etwa die Gleichstellung der Teilnehmer*innen und die Sicherheit der Systeme gewährleistet. Die Kriterien müssen jedoch nicht in beiden Systemen exakt gleich umgesetzt werden.
Klingt gut. Doch in der Praxis ist der Effekt bescheiden. 2022 gab das BAFU anstelle von 460’000 Zertifikaten 230’000 Emissionsrechte für den Verkauf frei – während über 4 Millionen gratis zugeteilt wurden. Kurz: Wenn wegen der grosszügigen Zuteilung von Gratiszertifikaten nur noch ein sehr kleiner Teil zum Versteigern bleibt, dann hat die Halbierung der Versteigerungsmasse nur einen beschränkten Einfluss.
Wenn bei einem Bezahlsystem rund 95 Prozent der Ware kostenlos über den Tresen wandern muss, sollte man mal grundsätzlich über den Sinn dieses Bezahlsystems nachdenken.
Wann beendet die EU die kostenlose Verschmutzungsparty?
Zukünftig wird es vonseiten der EU deshalb weitere Anpassungen brauchen im EHS. Und die sind auch bereits geplant.
Einerseits will die EU den Cap, also die Gesamtmenge an jährlich zur Verfügung stehenden Zertifikaten, schneller gegen null wandern lassen, andererseits soll es zusätzliche einmalige Löschungen von Zertifikaten geben, um die zu grosszügige Verteilung der Vergangenheit etwas auszubügeln.
Solange es jedoch zum Schutz der inländischen Industrie weiterhin massenhaft Subventionen in Form von Gratiszertifikaten gibt, werden auch diese Anpassungen nicht zu den erforderlichen Preissignalen führen, die eine tiefgreifende Dekarbonisierung einleiten könnten. Deshalb sollen auch die Gratiszertifikate fallen.
Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der deutschen Grünen und Verhandlungsführer für die grüne Partei im EU-Parlament, schreibt auf seiner Webseite: „Die kostenlose Verschmutzungsparty hat ein Ende [...]. Bis 2030 werden die kostenlosen Emissionszertifikate fast halbiert und bis 2034 komplett gestrichen.“ Der Name des Partykillers: CO2-Grenzausgleich.
Gamechanger CO2-Grenzausgleich?
Der CO2-Grenzausgleich soll die Gratiszertifikate ablösen. Denn in Sachen Klimaschutz ist die europäische und die Schweizer Klimagesetzgebung bis zu einem gewissen Grad in der Geiselhaft der globalisierten Grossindustrie. Würde man die Schraube bei der CO2-Bepreisung anziehen und den Grosskonzernen weniger Zertifikate umsonst geben, müsste man befürchten, dass sich die emissionsintensive Produktion ins Ausland verlagert – Stichwort Carbon Leakage. Damit wäre dem Klimaschutz schlussendlich auch nicht gedient.
In Sachen Klimaschutz ist die europäische und die Schweizer Klimagesetzgebung bis zu einem gewissen Grad in der Geiselhaft der globalisierten Grossindustrie.
Der CO2-Grenzausgleich soll die europäische Klimagesetzgebung nun aus diesem Dilemma befreien. Die Hoffnung: Die Abwanderung der Emissionen verhindern und gleichzeitig die Klimaverschmutzung adäquat bepreisen. Neu würde die EU für den Import von CO2-intensiven Produkten eine Ausgleichszahlung erheben. Die Höhe dieser Ausgleichszahlung entspricht den Kosten, die über das EHS fällig geworden wären, wenn die Produktion innerhalb der EU stattgefunden hätte. Der CO2-Grenzausgleich ist also eine Art Klimazoll.
Auch wenn sie ziemlich revolutionär klingt – neu ist die Idee eines Grenzausgleichs nicht. Die sozialdemokratische Partei der Schweiz lancierte bereits 1995 unter dem Namen Energie-Umwelt-Initiative eine Volksinitiative, die eine ähnlich konstruierte Abgabe auf Energie einführen wollte. Die SP zog die Initiative damals zugunsten eines direkten Gegenvorschlags zurück. Dieser scheiterte an der Urne.
Grundsätzlich würde ein solcher CO2-Grenzausgleich denselben Effekt erzielen wie die Gratiszertifikate. Auch er würde zwischen der inner- und aussereuropäischen Industrie für gleich lange Spiesse sorgen – einfach unter anderem Vorzeichen. Während die Gratiszertifikate die Produktionskosten der heimischen Industrie reduzieren, würde ein CO2-Grenzausgleich die importierten Produkte verteuern.
Die Folge: Die EU und auch die Schweiz könnten den Industriekonzernen endlich die von ihnen verursachten CO2-Emissionen in Rechnung stellen, ohne befürchten zu müssen, dass die Treibhausgase zusammen mit der Wertschöpfung und den Arbeitsplätzen ins Ausland abwandern.
Die Expert*innen sind sich einig
Für den Wirtschaftswissenschaftler Michael Pahle ist der CO2-Grenzausgleich alternativlos. Pahle arbeitet am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zum Emissionshandelssystem. „Wenn ich Vorträge darüber mache, dann sage ich immer: Keiner will es, aber man kommt nicht dran vorbei. Denn die freien Zuteilungen müssen zwangsläufig weg, wenn der Cap immer enger wird.“ So Pahle in einem Zoom-Interview mit das Lamm.
Eine Frage bleibt jedoch bis heute ungeklärt: Wären diese Klimazölle überhaupt mit den Richtlinien der Welthandelsorganisation (WHO) konform? „Ob der CO2-Grenzausgleich zu internationalen Handelskonflikten führen wird oder nicht, wird sich erst noch zeigen müssen“, so Pahle. Auf jeden Fall bestünde unter den Expert*innen Einigkeit darüber, dass die Einführung des CO2-Grenzausgleichs eng von der internationalen Klimadiplomatie begleitet werden müsse. „Im besten Fall ist der CO2-Grenzausgleich dann ein Türöffner, um verstärkt auf internationaler Ebene zusammenzuarbeiten – wenn auch ein eher brachialer“, meint Pahle dazu.
Sonja Peterson, Klimaökonomin und Expertin für umweltpolitische Instrumente am Kiel Institut für Weltwirtschaft, betont die praktischen Probleme in Bezug auf die Einführung eines CO2-Grenzausgleichs. „Wie geht man mit Zwischenprodukten um? Für welche Branchen soll der CO2-Grenzausgleich eingeführt werden?“, fragt sie via Zoom. Trotz dieser Unsicherheiten sei es aber eine gute Idee, den CO2-Grenzausgleich einem Praxistest zu unterwerfen und die Gratiszertifikate als Prävention gegen Carbon Leakage auslaufen zu lassen.
Das sieht auch die Energieökonomin Johanna Bocklet so. Der CO2-Grenzausgleich sei die sinnvollere Variante, um für Konzerne innerhalb und ausserhalb von Europa gleiche Wettbewerbsbedingungen zu erreichen.
Mit dem CO2-Grenzausgleich sollen neu auch Konzerne für ihre Klimaverschmutzung zur Kasse gebeten werden, die ausserhalb der EU produzieren. Und zwar immer dann, wenn sie ihre Produkte in die EU importieren. Um beispielsweise ein reiches und hoch industrialisiertes Land wie die USA auf diesem Weg zu mehr Klimaschutz zu bewegen, scheint das ein faires Instrument zu sein. Für andere Länder hat der CO2-Grenzausgleich aber einen bitteren Beigeschmack. Denn auch kleinere und ärmere Länder wie zum Beispiel Mosambik, die unter dem Strich nichts zur heutigen Klimakrise beigetragen haben, müssten diese CO2-Ausgleichszahlungen leisten, wenn sie emissionsintensive Produkte in die EU importieren.
„Denn mit dem CO2-Grenzausgleich hätten wir neu auch eine Lenkungswirkung auf das europäische Ausland“, sagt Bocklet via Zoom. Die Länder ausserhalb der EU, die auf ihre Emissionen bereits einen CO2-Preis erheben, könnten diesen bei Importen in die EU nämlich dem europäischen CO2-Grenzausgleich anrechnen. Dementsprechend würde es sich für sie eher lohnen, die Klimagase bereits im Inland zu besteuern. „Zudem könnten die Staaten das Geld, dass die Unternehmen dann neu für die Zertifikate bezahlen müssten, sinnvoll für die Dekarbonisierung einsetzen“, ergänzt Bocklet.
Das wird noch lange auf sich warten lassen
Klingt gut. Doch bis der CO2-Grenzausgleich die Gratiszertifikate vollständig ablösen wird, werden noch viele CO2-Tonnen die Atmosphäre verschmutzen. Denn: Während die Gratiszuteilungen ab 2026 langsam runtergefahren werden, wird der CO2-Grenzausgleich langsam hochgezogen. Erst nach dieser Übergangsphase wird die Verschmutzungsparty zum Nulltarif für die emissionsintensivsten Konzerne womöglich tatsächlich zu einem Ende kommen.
Das kritisiert auch die NGO Carbon Market Watch. „Aus Angst vor dem Schreckgespenst der angeblichen zukünftigen Deindustrialisierung Europas haben die politischen Entscheidungsträger ihren fehlgeleiteten Ansatz fortgesetzt, die Schwerindustrie vom Haken zu lassen“, schreibt die NGO. Auch mit dem reformierten EU-Emissionshandelssystem würden umweltverschmutzende Industrien weiterhin mit Zuschüssen überhäuft, während die Haushalte und Steuerzahler*innen die Rechnung bezahlen müssten, so Carbon Market Watch weiter. Unter der Oberfläche sei das EHS ein zutiefst ungerechtes und letztlich unwirksames System.
Das EHS wurde für zwei Sektoren entwickelt: für die Schwerindustrie und die Energiebranche. Abgesehen von den neuen Reservekraftwerken wird in der Schweiz jedoch praktisch kein Strom aus fossilen Energieträgern gewonnen. Deshalb ist in der Schweiz mehr oder weniger nur die Industrie im EHS vertreten. Anders ist das zum Beispiel in Deutschland, wo nach wie vor viel Strom mit Kohle produziert wird. Diese fossilen Energiekonzerne nehmen in Deutschland auch am EHS teil. Da der Energiebereich jedoch nicht von Carbon Leakage betroffen ist, wurden die extragrosszügigen Gratiszuteilungen an diese Branche schon vor Längerem abgeschafft. Dadurch erhielt das Emittieren von CO2 in diesem Bereich tatsächlich einen Preis, der hoch genug war, um Reduktionsmassnahmen im Energiesektor anzustossen.
Das EHS konnte zwar die Emissionen im Energiesektor senken, aber nicht die Industrieemissionen. Einer der Hauptgründe für dieses Scheitern waren die Milliarden kostenloser Verschmutzungsrechte, die den emissionsintensiven Industrien im Rahmen des EHS zugeteilt wurden. Und das wird noch ein Weilchen so bleiben. Denn der CO2-Grenzausgleich wird erst 2034 vollständig in Kraft treten.
Wie werden die in der EU geplanten Reformen die Schweiz betreffen? Dazu möchte das in der Schweiz zuständige Bundesamt für Umwelt (BAFU) zum aktuellen Zeitpunkt keine Aussagen machen. Man analysiere die Lage laufend und plane, dem Bundesrat Mitte 2023 einen passenden Bericht vorzulegen.
Eine andere Schweizer Behörde, die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK), analysierte die Lenkungswirkung des EHS bereits 2017. Sie kam zum Schluss, dass das Schweizer EHS von 2013 bis 2020 für die teilnehmenden Firmen praktisch keine direkten Anreize schaffte, um den CO2-Ausstoss zu reduzieren.
Die Prüfbeamt*innen der EFK führten damals bei den EHS-Firmen auch eine Umfrage durch. Die Frage: Gehen Sie davon aus, dass Sie in Zukunft weniger Gratiszuteilungen erhalten werden? Die EFK fasste die erhaltenen Antworten so zusammen: „Betreffend der Zuteilung der kostenlosen Emissionsrechte für die Verpflichtungsperiode 2021–2030 erwarten die meisten Firmen Kontinuität.“ Sie werden wohl Recht behalten.
Milliarden an verpufften CO2-Abgaben, verschenkte Emissionsrechte: Dem EHS ist es weder mit dem Verursacherprinzip noch mit der Gerechtigkeit so wirklich ernst. Gehört dieses Klimaschutzinstrument deshalb abgeschafft? Im letzten Teil der Serie EHS: Eine Flatrate auf Monsteremissionen geht unsere Autorin dieser Frage nach.
Übersichtsartikel
Emissionshandelssystem: Eine Flatrate auf Monsteremissionen
Der Bund erliess den grössten Umweltverschmutzern von 2013 bis 2020 drei Milliarden Franken an CO2-Abgaben und schenkte ihnen gleichzeitig Emissionsrechte im Wert von schätzungsweise 361 Millionen Franken. Das zeigen bislang unveröffentlichte Berechnungen vom Onlinemagazin das Lamm.
Artikel 1
Weniger CO2 dank Emissionshandel? Eine Bilanz der letzten Jahre
Die Konzerne mit den meisten Klimagasemissionen rechnen ihre CO2-Kosten im Emissionshandelssystem ab. Das sollte die Klimaverschmutzung bremsen. Gewirkt hat es kaum.
ArtikeL 2
Selbstsabotage beim Klimaschutz. Der Grund: die Wettbewerbsfähigkeit
Damit Klimaverschmutzung für die Verursacher*innen etwas kostet, führte man in der Schweiz 2008 den Zertifikatshandel ein. Weil das für emissionsintensive Firmen ziemlich teuer werden kann, verschenkt der Staat kostenlose Zertifikate. Unsere Recherche zeigt auf, wer die meisten Gratiszertifikate erhalten hat.
Artikel 3
Klimaumverteilung: Von den KMUs zu den Grosskonzernen
Nur ein paar wenige Firmen dürfen ihre CO2-Emissionen im Emissionshandelssystem abrechnen. Damit ist es für sie nicht nur günstiger, Emissionen zu verursachen. Sie profitieren auch ganz direkt von den CO2-Abgaben der KMU.
Artikel 4
Klimamilliarden für Holcim, Lonza, BASF und Co.
Erstmals zeigen Berechnungen von das Lamm: Der Staat erliess Grosskonzernen CO2-Abgaben in Milliardenhöhe. Wer hat wie stark davon profitiert? Wir bringen Licht in das letzte Jahrzehnt Emissionshandelsdunst.
Artikel 5
Ein Spezialdeal für die Klimakiller. Warum eigentlich?
Von 2013 bis 2020 subventionierte der Staat die emissionsintensivsten Firmen des Landes mit rund 3 Milliarden Franken. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, diskutierte man bereits vor 30 Jahren.
Artikel 6
Wann fällt die Dauerflatrate?
Die EU plant Reformen. Diese könnten das EHS raus aus der Geiselhaft der globalisierten Industrie und rein in eine tatsächliche Dekarbonisierung führen. Der Wermutstropfen: So bald wird sich kaum etwas ändern.
Artikel 7
Braucht es das EHS?
Wer heute Klimagase verursacht, der zahlt. Nur zahlen bis jetzt nicht alle gleich viel, wenn sie das Klima zerstören. Das ist nicht nur unfair, sondern bremst auch die notwendigen CO2-Reduktionen aus. Gehört das EHS deshalb abgeschafft? Eine Einordnung.
Die Recherchen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recherchepreis für Wissenschafts- und Medizinjournalismus der Stiftung Experimentelle Biomedizin unterstützt. Der Recherchepreis wird in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Recherche vergeben.
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