Was kann man gegen den Mangel an Organ­spenden tun?

Die meisten Menschen finden laut Umfragen von Swiss­trans­plant Organ­spende gut. Trotzdem haben nur die wenig­sten eine Organ­spen­de­karte. Wir haben den Ober­arzt für Inten­siv­me­dizin am Univer­si­täts­spital Basel Kai Tisljar gefragt, woran das liegt — und was man dagegen tun könnte. 
Die erste erfolgreiche Herztransplantation Mittel- und Osteuropas fand 1968 in Bratislawa statt (Foto: Podolay)

Jede Woche sterben in der Schweiz zwei Menschen, weil sie nicht recht­zeitig ein passendes Spen­der­organ erhalten. Und die Anzahl der Personen, die auf ein Organ wartet, steigt immer weiter an. Laut einer vergan­gene Woche veröf­fent­lichten Studie waren 2016 1480 Menschen auf der Warte­liste für Organe. Das sind 38 Prozent mehr als 2010. Gleich­zeitig wurden 2016 nur 503 Organ­trans­plan­ta­tionen vorgenommen.

Immerhin: 4 von 5 Schwei­ze­rInnen wären laut Swiss­trans­plant grund­sätz­lich bereit ihre Organe zu spenden. Nur die Hälfte der Spen­den­wil­ligen haben aber ihren Spen­den­wunsch auf einem Ausweis fest­ge­halten oder den Ange­hö­rigen mitge­teilt. Im euro­päi­schen Vergleich liegt die Schweiz damit im unteren Drittel. Weshalb sind wir so zurück­hal­tend, wenn es darum geht, unsere Organe zu spenden?

Wir trafen Kai Tisljar, Ober­arzt für Inten­siv­me­dizin am Univer­si­täts­spital Basel, und wollten von ihm wissen, was gegen den Organ­mangel unter­nommen werden kann und welche Rolle das Krite­rium der Selbst­ver­schul­dung bei Organ­trans­plan­ta­tionen spielt.

Das Lamm: In der Schweiz gibt es einen akuten Mangel an Organ­spenden. Die Warte­liste wird immer länger. Wieso?

Kai Tisljar: Die Gesell­schaft wird immer älter und die Medizin macht immer mehr Fort­schritte. Da die Menschen heute länger leben, werden auch mehr Trans­plan­ta­tion im Alter durch­ge­führt. Daher stehen mehr Personen auf der Warte­liste. Gleich­zeitig gibt es heute nicht mehr Spen­de­rInnen als früher. Somit wird die Warte­liste immer länger.

Wieso verpflichten wir nicht einfach alle, ihre Organe zu spenden?

Natür­lich ist es eine gute Sache, wenn jemand anderes mit den eigenen Organen weiter­leben kann. Ich persön­lich denke, es ist jedem und jeder von uns frei über­lassen, welche Entschei­dung er oder sie treffen möchte. Es ist zu akzep­tieren, wenn jemand, etwa aus reli­giösen Gründen, seine Organe nicht spenden möchte. Beide Haltungen zur Organ­spende sollten respek­tiert werden. Wir über­reden im Spital auch niemanden zur Organspende.

Aber wie könnte man denn mehr Personen dazu bringen, ihre Organe zu spenden?

Ich und auch Swiss­trans­plant propa­gieren, dass es wichtig ist, über das Thema Organ­spende zu spre­chen. Ausserdem sollte man den eigenen Entscheid doku­men­tieren oder den Ange­hö­rigen mitteilen. Wichtig finde ich eine klare Haltung mit einem „Ja“ oder einem „Nein“ zur Organ­spende. Das entla­stet sowohl die Ange­hö­rigen wie auch das Spital­per­sonal. Aus meinen Gesprä­chen mit Ange­hö­rigen weiss ich, wie ein solcher Entscheid bela­sten kann. Die Ange­hö­rigen haben eben – und meist sehr plötz­lich — einen geliebten Menschen verloren und müssen dann zusätz­lich eine wich­tige Entschei­dung über die Organ­spende treffen.

Wie gehen die Ange­hö­rigen mit dieser Entschei­dung um?

Meine Erfah­rung zeigt, dass sich Ange­hö­rige meist gegen die Organ­spende ausspre­chen, wenn kein Organ­spen­de­aus­weis vorliegt oder das Thema nie bespro­chen worden ist. Ist die Haltung der verstor­benen Person aller­dings bekannt, fällt es den Ange­hö­rigen leichter, mit der Anfrage nach der Organ­spende umzugehen.

Ist es aus Ihrer Sicht richtig, dass bei verstor­benen Personen ohne Spen­der­aus­weis die Ange­hö­rigen über die Organe und den Körper einer Person bestimmen dürfen?

Dies ist momentan die bestehende recht­liche Grund­lage. Aber die Ange­hö­rigen können nicht einfach bestimmen, sie müssen dabei den Willen der verstor­benen Person berück­sich­tigen. Ich als Arzt kann aller­dings nicht über­prüfen, ob die Ange­hö­rigen auch so handeln, wie es sich der Patient oder die Pati­entin gewünscht hat. Ich bin der Meinung, dass es von Vorteil ist, dass die Ange­hö­rigen mitbe­stimmen dürfen.

In der Schweiz gibt es im Vergleich zu anderen euro­päi­schen Ländern deut­lich weniger Spen­de­rInnen. Wieso? Sind wir einfach egoistischer?

Der Haupt­grund liegt am Gesetz: In der Schweiz gilt die Zustim­mungs­lö­sung. Das bedeutet, man selbst oder die Ange­hö­rigen müssen ihre Zustim­mung geben, um als Organ­spen­derIn in Frage zu kommen. In vielen anderen euro­päi­schen Ländern, etwa in Frank­reich, Italien, Öster­reich und Spanien, gilt die Wider­spruchs­lö­sung. Nur wer sich zu Lebzeiten gegen die Organ­spende ausspricht, gilt nicht als Organ­spen­derIn. Dies kann zu mehr Spen­de­rInnen führen.

Sollte in der Schweiz auch diese Wider­spruchs­lö­sung einge­führt werden, um gegen den Organ­mangel vorzugehen?

Aus Sicht der Organ­emp­fänger wäre dieses Modell zu begrüssen, da es mögli­cher­weise mehr Spen­der­or­gane geben würde. Da sich in der Schweiz aller­dings viele Menschen sehr schwer damit tun, über das Thema Organ­spende über­haupt zu spre­chen, könnte eine selt­same Stim­mung entstehen. Das System muss zur Gesell­schaft passen und meiner Meinung nach passt ein Wider­spruchs­sy­stem im Moment nicht zur Schweiz. Denn in einem Schweizer Spital stehen die Wünsche des Pati­enten oder der Pati­entin im Zentrum. Der Arzt bestimmt nicht über den Kopf des Pati­enten hinweg.

Sollte denn jemand, der sich gegen die Organ­spende ausspricht, selbst über­haupt Anspruch auf ein Spen­der­organ haben?

Ich sehe es als eine Möglich­keit — vor allem bei einem Mangel an Spen­de­rInnen — , dass nur Personen, die ihre Haltung zur Organ­spende kund­getan haben, selbst ein neues Organ erhalten. Aller­dings könnte in diesem Fall jemand erst einen Ausweis ausfüllen, sobald er oder sie ein neues Organ braucht. Wie würden wir im Spital mit einem solchen Fall umgehen? Ich bin froh, dass wir in der Praxis kein solches System haben. Ich kann mir aller­dings vorstellen, dass irgend­wann der Moment kommen wird, wo es einfach viel zu wenig Organ­spenden gibt und man daher fest­legt, dass nur Personen, die selbst Organ­spen­derIn sind, Anrecht auf ein neues Organ haben. Auch die Warte­liste würde danach ange­passt werden. Ethisch ist dies jedoch bedenklich.

Hat, wer ein Leben lang raucht, auch ein Recht auf eine neue Lunge? Ist der Raucher nicht einfach selber schuld?

Die Regeln legen ja zumin­dest fest, dass jemand zuerst mit dem Rauchen oder Trinken aufge­hört haben muss, damit er oder sie eine neue Lunge oder Leber bekommen kann, um zu verhin­dern, dass das neue Organ gleich wieder geschä­digt wird.

Ich persön­lich halte dieses Krite­rium der „Selbst­ver­schul­dung“ aber ohnehin für unfair, da man vieles nur bedingt selbst beein­flussen kann. Etwa nimmt die Lunge nicht bei allen Rauche­rInnen den gleich grossen Schaden.

Es gibt aller­dings Ärztinnen und Ärzte, die mit der „Selbst­ver­schul­dung“ argu­men­tieren. Ein inten­siver Alko­hol­konsum kann die Leber stark schä­digen. Einige Berufs­kol­le­gInnen, die eine solche „Selbst­ver­schul­dung“ nicht unter­stützen wollen, tun sich in solchen Fällen schwer mit der Trans­plan­ta­tion einer neuen Leber. Ich habe auch von Kolle­gInnen gehört, die selbst alle Organe spenden wollen – bis auf die Leber.

Welche Lösungen gäbe es sonst gegen den Mangel an Organspenden?

Es gibt bei Organ­trans­plan­ta­tionen ein grund­sätz­li­ches Problem: dass der Körper des Empfän­gers die Organe als fremd erkennt und sie daher abstösst. Es müssten Organe gezüchtet werden, die in der Lage sind, diese Abstos­sung zu über­winden. Zum Teil wird dies heute bereits gemacht, indem künst­liche Herz­klappen aus biolo­gi­schem Mate­rial verwendet werden. Mit der fort­schrei­tenden Medizin könnte zudem das Immun­sy­stem des Empfän­gers besser kontrol­liert werden, so dass es mit weniger Neben­wir­kungen zur einer effi­zi­en­teren Verhin­de­rung einer Organ­ab­stos­sung kommt.

In den USA wollen Wissen­schaft­li­che­rInnen mensch­liche Organe in Tieren züchten und auch die ETH Zürich forscht an künst­li­chen Herzen, die mögli­cher­weise einmal das Spen­der­herz ersetzen könnten. Könnte das eine Lösung für den Mangel an Organ­spenden sein?

Das ist denkbar. Ganze Organe von Tieren zu über­nehmen ist heute aber noch nicht möglich. Hier kommen jedoch ethi­sche Fragen ins Spiel. Dürfen Tiere als Organ­lager gezüchtet werden? Ich denke, es werden unter­schied­liche Lösungen zusam­men­spielen: tech­ni­sche Neuerfin­dungen und auch in Tieren gezüch­tete Organe. Ich kann mir vorstellen, dass in 20 Jahren speziell für eine bestimmte Person Organe gezüchtet werden können, die vom Körper auch nicht abge­stossen werden. Somit könnte sich das heutige Problem des Organ­spen­den­man­gels auflösen. Gewisse Bereiche, wie etwa Hirn­trans­plan­ta­tionen, werden jedoch unrea­li­stisch bleiben.

Spielt das Alter bei jemandem, der ein Organ erhält, eine Rolle? Bekommt eher die junge Person ein Organ zugeteilt?

Diese Frage wird in der modernen Medizin immer wieder disku­tiert. Es geht darum unsere Ressourcen optimal zu verteilen. In einer Gesell­schaft, in der die Menschen immer älter werden, wird diese Frage immer wich­tiger. Braucht jemand mit 90 Jahren noch ein neues Organ? Oftmals ist das Alter auch relativ, denn ein gezeich­neter Körper — etwa aufgrund über­mäs­sigem Alko­hol­konsum — hat ein viel höheres biolo­gi­sches Alter als der von gleich­alt­rigen Personen ohne Alko­hol­miss­brauch. So kann es in einem Fall Sinn machen ein neues Organ zuzu­spre­chen und gleich­zeitig bei einer gleich­alt­rigen Person wenig sinn­voll sein.

Ist denn der Körper im hohen Alter über­haupt noch in der Lage eine Trans­plan­ta­tion durchzustehen?

Das Alter an sich ist aus medi­zi­ni­scher Sicht auf jeden Fall kein Ausschluss­grund für ein neues Organ. In jedem Alter kann man theo­re­tisch ein neues Organ erhalten. Viele der Pati­en­tInnen, die ein Organ erhalten haben, würden sich im Nach­hinein wieder für die Trans­plan­ta­tion entscheiden. Sie ist nicht nur lebens­ver­län­gernd, sondern sorgt auch für eine verbes­serte Lebens­qua­lität — trotz der Medi­ka­mente, die man ein Leben lang einnehmen muss. Es stellt sich aller­dings die philo­so­phi­sche Frage, ob das Über­leben immer als das höchste Ziel gesetzt werden sollte.

Wie viele Leben kann man mit einer verstor­benen Person, die Organ­spen­derIn ist, retten?

Ich würde es nicht primär als „Leben retten“ bezeichnen. Aber wenn jemand leider im jungen Alter verstirbt, so kann man mit den Organen der verstor­benen Person bis zu acht und mehr Menschen helfen.

Zum Schluss verrät Kai Tisljar, dass er selbst keinen Organ­spen­de­aus­weis bei sich trägt. Es ist ihm wichtig, dass er seine Ange­hö­rigen über seinen Willen infor­miert hat und diese in den Entschei­dungs­pro­zess einbe­zogen werden. Damit die Ange­hö­rigen diese Entschei­dung mittragen können, darf das Thema Organ­spende kein Tabu bleiben und muss in der Familie disku­tiert werden.


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