Wein doch, Mann!

Das Stereotyp „Jungs weinen nicht“ kennen wir alle. Ist es ein Fakt, eine Anwei­sung, ein Vorbild? Es ist vor allem toxisch, findet unsere Kolumnistin. 
Die Realität ist: Jungs sind manchmal auch traurig. (Foto: Nathan McDine / Unsplash)

Am 19. November wird jeweils der Inter­na­tio­nale Männertag gefeiert. Die offi­zi­ellen Ziele sind es, auf Männer-Gesund­heit zu fokus­sieren, die Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlechter zu fördern und männ­liche Vorbilder hervor­zu­heben. Der Tag wurde kaum beachtet, weder von Medien noch anderen Orga­ni­sa­tionen, und das hat mich ins Grübeln gebracht.

Wieso setzen wir uns so wenig mit Männ­lich­keit ausein­ander? Wieso stört es uns nicht, dass die allge­mein als erstre­bens­wert geltende Männ­lich­keit so eng gefasst ist? Wieso spre­chen wir nicht mehr über die psychi­sche Gesund­heit von Männern? Und wieso sehen wir Männer nur in der Öffent­lich­keit weinen, wenn es um Sport geht?

Weinen beschäf­tigt mich, beson­ders in Bezug auf Männ­lich­keit – weil das eigent­lich ja nicht sein darf. Für mich ist glas­klar: Weinen befreit, ist völlig normal, kann von verschie­denen Emotionen ausge­löst werden und gehört zum Alltag. Doch wie viele Männer können dasselbe sagen?

Eine kurze Umfrage bei den Männern in meinem Umfeld zeigt: Grund­sätz­lich finden sie auch, dass Weinen normal ist. Doch die innere Hemmung besteht. Wenn mal ein Kumpel weint, macht man sich zwar nicht darüber lustig, aber redet auch nicht darüber. Und sobald es raus aus ihrer bubble geht – zum Beispiel ins Militär – ist Weinen schnell mal verpönt, weib­lich, unmännlich.

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache“ abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) über­tragen. Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betroffenen‑, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.

Dass Jungs nicht weinen sollen, ist ein allge­gen­wär­tiges Stereotyp. Ich habe es schon als Kind bei meinen männ­li­chen Bezugs­per­sonen gemerkt, ich habe es von Freunden erzählt bekommen und ich beob­achte es nun bei meinen Neffen.

Einige von euch haben das schon als Kind explizit zu hören bekommen; ein „Muesch nöd brüele“, als ihr euch auf dem Spiel­platz das Knie aufge­schürft habt. Anderen wurde mit „Riss di zäme“ zu verstehen gegeben, dass eure Tränen keinen Platz haben. Es kann sogar so subtil sein, dass ihr öfter ein Seufzen als eine mitfüh­lende Umar­mung von euren Eltern bekommen habt, wenn ihr geweint habt. Oder dass ihr eure männ­li­chen Vorbilder einfach nie weinen gesehen habt.

Und schon habt ihr verin­ner­licht: Jungs weinen nicht.

Jungs und Männer haben stark zu sein, psychisch wie physisch. Schwach ist ein „rich­tiger Mann“ nie und falls doch, dann zeigt man das auf keinen Fall. Genau das wird immer öfter als „toxi­sche Männ­lich­keit“ bezeichnet. Toxisch ist sie sowohl für euer Umfeld als auch für euch selbst. Und nein, Männer sind nicht toxisch. Aber diese Anfor­de­rungen, die an euch alle gestellt werden, sind es allemal.

Die Vorstel­lung davon, was ein Mann zu sein hat, negiert eine ganze Palette von Emotionen – nein, spricht sie Männern sogar ab und weist sie „den Frauen“ zu. Trauer, Verwir­rung, Angst, aber auch Begei­ste­rung, Liebe und Opti­mismus wird uns als inhä­rent weib­lich verkauft. Dem Mann, der diese Emotionen zeigt, wird seine Männ­lich­keit abge­spro­chen. Und was könnte schlimmer sein als das?

Ich sag’s euch: Männer, die sich ihre Männ­lich­keit in diesem patri­ar­chalen System vorschreiben lassen.

Femi­nismus ist Männer­sache (Illu­stra­tion: Arbnore Toska, @arbnoretoska).

Männer profi­tieren zwar vom Patri­ar­chat, aber werden genauso davon verarscht. Emotionen gehören zu keinem Geschlecht und können nicht frei ein- und ausge­schaltet werden. Wer das trotzdem versucht, schaltet fast alle aus. Was übrig bleibt, sind Wut und Aggres­sion. Und viel Einsamkeit.

Wie schwierig muss es sein, sich selbst so zu kontrol­lieren, um dem Bild „Mann“ zu entspre­chen? Wie schmerz­haft muss es sein, so hart zu werden?

Sehr. Stati­stisch als Männer erfasste Personen begehen in der Schweiz rund dreimal öfter Suizid als stati­stisch als Frauen erfasste Personen. Männer trinken mehr und riskanter Alkohol als Frauen. Und Männer gehen seltener in Therapie als Frauen.

Das sind schreck­liche Zahlen, die uns aber nicht erstaunen sollten, wenn wir uns mit toxi­scher Männ­lich­keit ausein­an­der­setzen. Was wir als Gesell­schaft von Männern erwarten, ist weder verhält­nis­mässig noch gesund. Und mit „wir“ meine ich wirk­lich wir alle – unab­hängig vom Geschlecht –, die das nicht reflek­tiert haben.

Es ist also ein Leichtes, zu sagen: „Wein doch mal, es ist voll befreiend“. Und etwas ganz anderes, das tatsäch­lich zu tun, wenn man das noch nie scham­frei gemacht hat. Meine Tipps: Lest Bücher wie „Boys Don’t Cry“ von Jack Urwin, fragt eure Freunde, wie es ihnen wirk­lich geht (und hört dann auch zu), geht in Therapie, seid lieb zu euch selbst und denkt daran, dass auch Weinen Männer­sache ist.


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