Die Corona-Krise reisst nicht ab, das war zu erwarten. Darum gebe ich auch diesen Monat meinen Kolumnenplatz an jemanden ab, der direkt an der Front arbeitet. Letzten Monat hat Ivona Brdjanovic in ihrem Essay „Während ihr klatscht“ über Scheinheiligkeit und Ungerechtigkeiten geschrieben. Diesen Monat gibt’s die Geschichte von Sofia*: Sie ist 28 und eine liebe Bekannte von mir. Sofia hat mir in einer Sprachnachricht von ihrem Alltag als diplomierte Pflegefachfrau erzählt.
„Ich habe vor fünf Jahren das Studium an der ZHAW in Winterthur abgeschlossen und arbeite seit viereinhalb Jahren als diplomierte Pflegefachfrau. Zuerst in Zürich auf einer onkologischen Abteilung für Erwachsene und seit etwa dreieinhalb Jahren in einer Krebsklinik für Kinder. Im April habe ich auf einer erweiterten Corona-Intensivstation in unserem Spital gearbeitet. Dort habe ich sehr viel Neues gelernt, einen Zugang zur Welt der Intensivmedizin erhalten und in einem interdisziplinären Team gearbeitet – also mit Leuten aus der Intensivmedizin, aus der Anästhesiepflege und Pflegefachpersonal aus anderen Abteilungen. Das hat mir viel Spass gemacht und die Zusammenarbeit lief sehr gut, auch wenn sie noch immer eine alltägliche Herausforderung ist.
Auf der Intensivstation selber habe ich vor allem in der sogenannten ’sauberen Zone‘ gearbeitet, also nicht direkt mit COVID-Patient*innen. Wir haben Medikamente und Material vorbereitet. Dadurch müssen die Pfleger*innen, die direkten Kontakt mit den COVID-Patient*innen haben, nicht jedes Mal den Schutzanzug abziehen, wenn sie neues Material benötigen. So wird versucht, die Kontamination in den Spitälern so klein wie möglich zu halten.
In unseren Institutionen wurde sehr früh viel Personal aufgestockt: Der Aufwachraum wurde in eine Intensivstation umgewandelt, und für die Bewältigung des drohenden Patient*innenansturms wurde Personal von anderen Stationen rekrutiert. Das fand ich sehr positiv, schliesslich hatte ich die Szenen aus Italien und dem Tessin noch im Hinterkopf: überrannte Notfallstationen, Patient*innen, denen das Pflegepersonal nicht mehr gerecht werden konnte und die ihnen unter den Händen wegstarben. Das war bei uns zum Glück wirklich nicht der Fall und dafür bin ich dankbar.
Ich musste nicht auf die Corona-Intensivstation wechseln, ich hätte auch ablehnen können. Meine Chefs waren diesbezüglich sehr zuvorkommend. Für mich war dieser Einsatz aber selbstverständlich. Nicht einmal für das Spital als Institution, sondern für die Bevölkerung und die Patient*innen. Für sie möchte ich – gerade in einer Krise – da sein. Gerade jetzt möchte ich dafür sorgen können, dass das System erhalten bleibt und funktioniert. Uns wurde immer wieder gesagt, dass das Care-Team, das im Spital auch sonst allen für psychologische Unterstützung zur Verfügung steht, für uns da ist. Meine Chefs und die Stationsleiterin haben sich per WhatsApp bei mir für meine Arbeit bedankt und gesagt, dass ich mich jederzeit bei ihnen melden darf. Auch die Leitung auf der Intensivstation hat uns immer wieder gesagt, dass wir uns melden sollen, wenn wir etwas brauchen. Ich habe mich sehr gut unterstützt und aufgehoben gefühlt. Es hiess nicht: ‚Ja, du gehst jetzt halt dorthin und musst endlose Tage durcharbeiten.‘
Etwas schwierig fand ich das Thema Schutzmassnahmen. Im Spital selber wurde das unterschiedlich gehandhabt: Wer muss welche Art von Masken anziehen? Wann muss man eine Schürze tragen? Klar, bei uns auf der Intensivstation immer. Aber in anderen Bereichen galten andere Sicherheitsmassnahmen, das wurde nicht immer klar kommuniziert. Das Reinigungspersonal wiederum fühlte sich gar nicht geschützt. Und dann siehst du diese Videos auf Facebook aus dem Triemlispital in Zürich, wo alle einen kompletten Schutzanzug tragen müssen – das sorgte für Verwirrungen, auch betriebsintern. Aber ich denke, das ist auch nicht ganz einfach, weil man den Keim des Virus aus wissenschaftlicher Sicht schlichtweg noch nicht so gut kennt. Da sind noch viele Fragen offen: Wird er wirklich durch die Luft übertragen? Auf welchen Oberflächen bleibt er wie lange und wie ansteckend ist er dort? Trotzdem hätte man die Kommunikation einheitlicher gestalten müssen, auch um dem Personal ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Schon nur aus Dankbarkeit und Wertschätzung dafür, dass sie ihre Arbeit machen und sich tagtäglich diesem Risiko aussetzen.
Ich habe eine Weiterbildung in Palliative Care und arbeite seit dem Ende meines Studiums mit Menschen, die Krebs haben und teilweise auch daran sterben werden. Dadurch wurde ich sehr früh mit dem Thema Tod und Sterben konfrontiert und habe sehr schnell gemerkt, dass es mir ein Anliegen ist, Leute zu pflegen, die eine begrenzte Lebenserwartung haben. Dadurch habe ich in den letzten Jahren eine Strategie entwickelt, wie ich selber damit umgehe. Auch auf der Intensivstation, auf der ich gearbeitet habe, sind Leute an COVID-19 gestorben. Zum Glück nicht viele, wir hätten 12 freie Betten gehabt für COVID-19-Patient*innen und hatten im April jeweils vier bis fünf besetzt. Dass viele Menschen panisch auf COVID-19 reagieren und teilweise den Bezug zur Rationalität verlieren, liegt sicher auch an der ganz menschlichen Angst vor dem Tod.
Dafür habe ich Verständnis: Der Tod kann einem Angst machen. Trotzdem widerspiegelt diese Krise, wie die Themen Tod und Sterben in unserer Gesellschaft behandelt werden – nämlich praktisch gar nicht. Wir sprechen nicht darüber. Ich würde mir wünschen, auch in meiner Tätigkeit in der Palliative Care, dass wir uns als Gesellschaft gegenüber dem Umgang mit dem Sterben mehr öffnen. Jedes Leben, jede*r Einzelne*r von uns, wird irgendwann zu Ende gehen. Ich weiss, dass meine Freund*innen sehr traurig wären, wenn ich sterbe. Ich weiss, dass ich sehr traurig sein werde, wenn mein Mami stirbt. Aber genau darum versuche ich, mein Leben und auch meine Arbeit so zu gestalten, dass die Freude im Vordergrund steht. Dass die Lebensqualität der Patient*innen im Vordergrund steht. Vielleicht fällt es einem so am Ende des Lebens auch einfacher, loszulassen. Zu sagen: Es ist okay so, wie es ist.
Das Leben ist erst dann fertig, wenn man klinisch tot ist, alles Vorherige ist ein Sterbeprozess und gehört immer noch zum Leben dazu. Ich stelle mir das gerne so vor: Du wirst geboren und dann beginnt ‚dein Kreis‘. Der schliesst sich irgendwann. Bei manchen, etwa bei Kindern mit Krebs, ist der Kreis kleiner. Bei einer 98-Jährigen, die am Ende friedlich einschläft, ist er grösser. Dieses Bild hilft mir immer wieder sehr, gerade bei meiner Arbeit. Wir hatten 79-jährige Menschen auf der Intensivstation, die für ihr Alter superfit waren, die vielleicht eine Vorerkrankung hatten, aber durch die nicht stark beeinträchtigt waren. Dann erkrankten sie an COVID-19 und starben. Wenn man sagt: ‚Diese Leute wären sowieso gestorben‘, finde ich das furchtbar. Vielleicht stimmt es, aber COVID-19 hat ihnen ein paar Jahre genommen, und das ist schlimm. Vielleicht hätte die Person noch zehn Jahre leben können. Aber dieses Virus ist jetzt unser Schicksal und wir müssen damit umgehen können.
Das Klatschen vom Balkon oder dass jetzt überall geschrieben wird, wie systemrelevant unser Job ist, ist schon nett. Aber es ist einfach so: Das Ansehen der Pflegeberufe ist wirklich nicht hoch. Ich höre oft: ‚Ah, musst du den ganzen Tag Ärsche abputzen?‘ Ähm, nein. Ich muss den ganzen Tag Beziehungen mit Kindern aufbauen, die Eltern informieren, Infusionen legen, Blutentnahmen machen, Medikamente und Chemotherapien verabreichen, Visiten machen, Austritte organisieren und so weiter. Dafür wünsche ich mir mehr Dankbarkeit – immer, nicht nur während der Coronakrise.“
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