„Hey, schubs es doch einfach um.“ Fünf Jugendliche haben sich um das abgestellte Moped versammelt. Einen ersten Tritt hat es schon abgekriegt. Einen zur Probe. Um mal festzustellen, wie stabil es denn so steht. Während die Jugendlichen noch diskutieren, wie es weitergehen soll, kommt plötzlich der Mopedbesitzer aus einem benachbarten Gebäude gelaufen. Einen Moment scheint es, als ob die Situation eskaliert. Aber nach einem kleinen Wortgefecht werden die Halbstarken plötzlich ziemlich kleinlaut und ziehen ihrer Wege. Auch der Mopedfahrer verschwindet wieder in seinem Büro, als wäre nichts gewesen.
Eher ein rauhes Pflaster hier im Wedding, denke ich. Aber irgendwie beeindruckt mich auch, wie schnell und locker die Situation gelöst wurde. Ich sehe den Jugendlichen nach, wie sie hinter einem Betonturm verschwinden, welcher sich auffällig zwischen den Wohnhäusern in den Strassenraum schiebt. Er ist das Wahrzeichen der ehemaligen Rotaprint-Fabrik.
Widerstand, Widerstand, Widerstand
Die Rotaprint war eine Erfolgsgeschichte der Wirtschaftswunderzeit. Die Fabrik gab es schon lange, aber nach dem Zweiten Weltkrieg lagen viele Gebäude auf dem Areal in Trümmern. Dann liess die Firma das Gelände durch den gerade einmal 27-jährigen Architekten Klaus Kirsten im Stil der 50er Jahre wieder aufbauen. Die hier produzierten Druckmaschinen wurden bald in alle Welt exportiert. Mit der Entwicklung der Fotokopierer und privaten Drucker in den 70er Jahren ging es jedoch bergab mit Rotaprint. 1989 musste die Firma Konkurs anmelden. Danach lagen die Fabrikhallen still — in einem einkommensschwachen Stadtteil, fernab von den hippen Szenebars und Galerien, die sich in anderen Teilen Berlins etablieren sollten.
Die denkmalgeschützte, jedoch sanierungsbedürftige Architektur gehörte nach dem Konkurs von Rotaprint der Stadt Berlin. Für die Stadtverwaltung war das Gebäude schliesslich nur noch eine Altlast, die man zu Geld machen wollte. Der Haushalt Berlins lag damals am Boden. Von Geldsorgen getrieben, verscherbelte die Stadt praktisch überall ihr Tafelsilber. Fast der gesamte Wohnungsbestand, Gebäude und Grundstücke im städtischen Besitz wurde an Investoren verkauft. 2002 wurde auch das Rotaprint-Areal zum Verkauf freigegeben.
Auf dem Fabrikgelände hatte sich aber in der Zwischenzeit eine bunte Mischung aus neuen NutzerInnen eingefunden. Sie bauten die alten Hallen zu Werkstätten und Künstlerateliers um und richteten hier ihre Büros ein. Die meisten NutzerInnen waren mit dem Leben des Viertels eng verbunden, konnten sich aber keine hohen Mieten leisten. Das alte Fabrikareal war deshalb der ideale Ort für sie.
Eine dieser MieterInnen der ersten Stunde war die Künstlerin Daniela Brahm. Als Teil der Künstlergruppe „Soup“ hat sie ihr Atelier in einem der zwei Türme auf dem Areal. Als sie den Turm das erste Mal sah, hat sie sich sofort in das Gebäude verliebt. Hier wollte sie ihr Atelier haben. Einfach und ohne Komfort, aber in lichtdurchfluteten Räumen, welche die spielerische Experimentierfreude des jungen Architekten ausstrahlen, der sie vor über 60 Jahren entwarf.
Der Plan der Stadt, das Areal zu verkaufen, bedrohte die Existenz Brahms und der anderen NutzerInnen des Rotaprint-Areals. Sie wussten: Entweder wir gehen oder wir kämpfen. Zusammen mit ihrem Kollegen Les Schliesser entschloss sich Daniela zu kämpfen. Viele andere MieterInnen schlossen sich ihr an. Zusammen gründeten sie eine Initiative, um mit der Stadt in Verhandlungen treten zu können.
Doch den Verantwortlichen bei der Stadtverwaltung lag nicht der Sinn nach langwierigen Verhandlungen mit MieterInnen. Im Gegenteil. Als Reaktion auf die Initiative der Rotaprint-ZwischennutzerInnen forcierte die Stadt den Verkauf noch und versuchte das Gelände um jeden Preis an den meistbietenden Investor zu verkaufen. Als die Mieterinitiative die einzige potenzielle Käuferin blieb, wurde die Fabrik mit gut, mittel und schlecht verkaufbaren Gebäuden zu einem Gesamtpaket geschnürt und einem Immobilienfonds angeboten. Vom Käufer werden bei solchen Paketen meistens die besseren Stücke entwickelt und weiterverkauft. Den verbleibenden „Schrottimmobilien“ bleibt der Verfall.
Wenn Brahm davon erzählt, merkt man ihr noch heute die Wut über das Vorgehen der Stadt an: „Ein Auge für die Bedürfnisse der EinwohnerInnen oder gar eine Vision für das Stadtviertel waren praktisch nicht vorhanden. Aber diese Wut über die falsche Stadtpolitik hat uns auch angetrieben.“
Ihr Engagement sollte sich auszahlen. Nach zwei Jahren harter Verhandlungen — unterstützt durch Pressearbeit und Druck von unten – entschloss die Stadt sich, das Areal aus dem Paket für den Investor zu lösen und für den gleichen Preis an die durch die InitiantInnen gegründete ExRotaprint GmbH zu verkaufen.
Aus den ZwischennutzerInnen werden HausbesitzerInnen
Damit waren aber noch lange nicht alle Hürden überwunden. Es galt auch, Klippen in einem ganz anderen Bereich zu umschiffen. Sie hätten das Projekt trotzdem scheitern lassen können.
Denn als die InitiantInnen über den Kauf des Grundstückes diskutierten, wurden plötzlich Begehrlichkeiten anderer Art geweckt. Einige dachten daran, die Hallen in Privatbesitz aufzuteilen — von Altersvorsorge bis zu der Möglichkeit eines späteren gewinnbringenden Verkaufs. Ein lukratives Gedankenspiel. Und ein gefährliches. Mit den steigenden Grundstückspreisen der letzten Jahre wären die EigentümerInnen schleichend selbst zu SpekulantInnen geworden.
Um dieser Falle zu entgehen, fanden die InitiantInnen eine kluge Lösung. Mit einem Erbbaurechtsvertrag haben sie die Gebäude vom Boden, auf dem sie stehen, getrennt. Die InitiantInnen selbst wurden als gemeinnützige ExRotaprint GmbH nur BesitzerInnen der Gebäude. Den Boden dagegen haben sie gar nie gekauft.
Als Besitzerinnen des Bodens sprangen zwei Stiftungen ein, welche das Grundstück übernahmen. Beide Stiftungen arbeiten an einem neuen Umgang mit Grund und Boden und erwiesen sich damit als ideale Partnerinnen. In einem 99-jährigen Erbbaurechtsvertrag vermieten sie das Grundstück an die ExRotaprint GmbH zurück und sichern damit dem Projekt eine langfristige Perspektive. Ein Verkauf ist so unmöglich und die profitferne und allgemeinnützige Zielsetzung wurde im Vertrag festgehalten. Gleichzeitig profitieren auch die Stiftungen von dem Vertrag. ExRotaprint zahlt ihnen Erbpachtzinsen, die sie in neue, ähnlich geartete Projekte investieren können.
Jetzt waren die ZwischennutzerInnen plötzlich BesitzerInnen von Häusern. Präziser: Sie waren BesitzerInnen von sanierungsbedürftigen Häusern. Die Rotaprint-Fabrik war zwar denkmalgeschützt, aber die Bausubstanz war arg vernachlässigt worden. An der Sanierung arbeiten sie noch heute: Brahm zeigt mir die imposante Fabrikarchitektur, deren Zukunft vor 15 Jahren noch so ungewiss war. Der Turm, in welchem sie ihr Atelier hat, ist zurzeit komplett von Baugerüsten umgeben.
Bernhard Hummel hat als Architekt schon einige Gebäude der alten Rotaprint-Fabrik renoviert. Er und sein Kollege Oliver Clemens sanieren zurzeit den Beton der Türme. Seinen Erklärungen mit weit ausladenden Gesten hört man an, wie sehr ihn diese Arbeit fasziniert. In den frühen 50er Jahren erstellt, sind dem rot schimmernden Beton die Kriegstrümmer beigemischt worden. Auch die rauen Bretter, mit denen der Beton damals geschalt wurde, verwendet man heute nicht mehr. Für Hummel und Clemens ist das eine echte Herausforderung. Wie können sie den ursprünglichen Charakter dieser Türme wiederherstellen, ohne über das damals benutzte Material zu verfügen? Für die Architekten ein Experimentierfeld.
Einen Bau sanieren, Hausbesitzer „spielen“ — auf die Frage, ob sie bei all ihrem Engagement für ExRotaprint selber noch viel dazu kommt, Kunst zu machen, muss Brahm lachen: „Das hier ist doch ein wunderbares Kunstwerk. Die Prozesse formen eine soziale Plastik, welche eine Form entwickelt und im Stadtraum wirkt. Wir haben den Galerieraum gegen den Realraum getauscht. ExRotaprint kann Kunst sein, muss es aber nicht.“
Die Zauberformel aus Gewerbe, Kunst und Sozialem
Es ist beeindruckend zu sehen, wie sich diese Plastik weiterentwickelt hat. Gerade unterhält sich im Hof eine Gruppe Frauen mit Kinderwagen. Ich verstehe kein Wort, bis ich aufgeklärt werde: Für viele RumänInnen und BulgarInnen, welche neu nach Berlin kommen, ist Wedding die erste Anlaufstelle, weil sie hier schon Freunde und Verwandte haben. Sie besuchen dann die Sprachschule Lernstatt e.V in der Rotaprint-Fabrik. Betrieben wird diese von von kurdischen TürkInnen, welche selbst einst als MigrantInnen nach Berlin kamen.
Neben der Lernstatt e.V. gibt es auch eine Schule für SchulschwänzerInnen, damit diese Jugendlichen doch noch einen Schulabschluss machen können. Ebenso Beratungseinrichtungen für Arbeitslose. In den Hallen im Erdgeschoss dagegen haben sich vor allem Betriebe aus dem Baugewerbe eingemietet.
Dabei kommt es ExRotaprint nicht darauf an, dass sich jeder engagiert. Viele Handwerksbetriebe haben gar nicht die Zeit dazu. Den InitiantInnen ist wichtig, dass diese kleinen Betriebe nicht durch die steigende Mieten verdrängt werden. Sie schaffen Arbeitsplätze vor Ort. Sei es der Elektromonteur, der Reparaturen macht, oder zwei kleine Schreinereien.
Deshalb hat man — obwohl die Initiative für ExRotaprint vor allem von den KünstlerInnen ausging — die Mischung von einem Drittel Gewerbe, einem Drittel Kunst und einem Drittel Soziales auf dem Grundstück erhalten. Rotaprint soll ein Ort für Einrichtungen und Firmen bleiben, welche die Leute aus der Umgebung in ihrem täglichen Leben nutzen.
Die Rotaprint-InitiantInnen haben in Berlin den Strategien der Immobilienwirtschaft ein Schnippchen geschlagen. Inzwischen haben Entwicklungsfirmen die Potenziale von Kunst für ihre Zwecke erkannt und nutzen sie aus. Oft werden Zwischennutzungen mit Kunst eingesetzt, um den Boden für Investitionen zu bereiten. Bei ExRotaprint wurde dagegen Neues geschaffen, das niemanden verdrängt hat. Vielleicht wird die alte Fabrik so, siebzig Jahr nach ihrer ersten Zerstörung im Krieg, noch einmal zu einer Keimzelle, aus der die Stadt im Verdrängungskampf neue Impulse erfährt und lernt, wie eine nachhaltige Stadtentwicklung auch gehen könnte.
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