Wie ein Grüpp­chen Zwischen­nut­ze­rInnen sein eigenes, zukunfts­fä­higes Stadt­viertel erschuf

Bei einem nach­hal­tigen Stadt­leben geht’s nicht nur darum, wie wir wohnen. Auch auf ein starkes Quar­tier­leben mit lokaler Wirt­schaft und gemein­nüt­zigen Einrich­tungen kommt es an. Die Mache­rInnen der ExRo­ta­print GmbH zeigen auf dem Gelände einer ehema­ligen Fabrik im Berliner Stadt­teil Wedding, wie das gehen kann. 
10. Januar 2007: Die Mieterinitiative ExRotaprint an dem Tag, an dem ein isländischer Investor das Gelände besuchte. Wenige Monate später konnte ExRotaprint das Grundstück kaufen. (Foto: Michael Kuchinke-Hofer)

„Hey, schubs es doch einfach um.“ Fünf Jugend­liche haben sich um das abge­stellte Moped versam­melt. Einen ersten Tritt hat es schon abge­kriegt. Einen zur Probe. Um mal fest­zu­stellen, wie stabil es denn so steht. Während die Jugend­li­chen noch disku­tieren, wie es weiter­gehen soll, kommt plötz­lich der Moped­be­sitzer aus einem benach­barten Gebäude gelaufen. Einen Moment scheint es, als ob die Situa­tion eska­liert. Aber nach einem kleinen Wort­ge­fecht werden die Halb­starken plötz­lich ziem­lich klein­laut und ziehen ihrer Wege. Auch der Moped­fahrer verschwindet wieder in seinem Büro, als wäre nichts gewesen.

Eher ein rauhes Pfla­ster hier im Wedding, denke ich. Aber irgendwie beein­druckt mich auch, wie schnell und locker die Situa­tion  gelöst wurde. Ich sehe den Jugend­li­chen nach, wie sie hinter einem Beton­turm verschwinden, welcher sich auffällig zwischen den Wohn­häu­sern in den Stras­sen­raum schiebt. Er ist das Wahr­zei­chen der ehema­ligen Rotaprint-Fabrik.

Wider­stand, Wider­stand, Widerstand

Die Rota­print war eine Erfolgs­ge­schichte der Wirt­schafts­wun­der­zeit. Die Fabrik gab es schon lange, aber nach dem Zweiten Welt­krieg lagen viele Gebäude auf dem Areal in Trüm­mern. Dann liess die Firma das Gelände durch den gerade einmal 27-jährigen Archi­tekten Klaus Kirsten im Stil der 50er Jahre wieder aufbauen. Die hier produ­zierten Druck­ma­schinen wurden bald in alle Welt expor­tiert. Mit der Entwick­lung der Foto­ko­pierer und privaten Drucker in den 70er Jahren ging es jedoch bergab mit Rota­print. 1989 musste die Firma Konkurs anmelden. Danach lagen die Fabrik­hallen still — in einem einkom­mens­schwa­chen Stadt­teil, fernab von den hippen Szene­bars und Gale­rien, die sich in anderen Teilen Berlins etablieren sollten.

Die denk­mal­ge­schützte, jedoch sanie­rungs­be­dürf­tige Archi­tektur gehörte nach dem Konkurs von Rota­print der Stadt Berlin. Für die Stadt­ver­wal­tung war das Gebäude schliess­lich nur noch eine Altlast, die man zu Geld machen wollte. Der Haus­halt Berlins lag damals am Boden. Von Geld­sorgen getrieben, verscher­belte die Stadt prak­tisch überall ihr Tafel­silber. Fast der gesamte Wohnungs­be­stand, Gebäude und Grund­stücke im städ­ti­schen Besitz wurde an Inve­storen verkauft. 2002 wurde auch das Rota­print-Areal zum Verkauf freigegeben.

Auf dem Fabrik­ge­lände hatte sich aber in der Zwischen­zeit eine bunte Mischung aus neuen Nutze­rInnen einge­funden. Sie bauten die alten Hallen zu Werk­stätten und Künst­ler­ate­liers um und rich­teten hier ihre Büros ein. Die meisten Nutze­rInnen waren mit dem Leben des Vier­tels eng verbunden, konnten sich aber keine hohen Mieten leisten. Das alte Fabrik­areal war deshalb der ideale Ort für sie.

Eine dieser Miete­rInnen der ersten Stunde war die Künst­lerin Daniela Brahm. Als Teil der Künst­ler­gruppe „Soup“ hat sie ihr Atelier in einem der zwei Türme auf dem Areal. Als sie den Turm das erste Mal sah, hat sie sich sofort in das Gebäude verliebt. Hier wollte sie ihr Atelier haben. Einfach und ohne Komfort, aber in licht­durch­flu­teten Räumen, welche die spie­le­ri­sche Expe­ri­men­tier­freude des jungen Archi­tekten ausstrahlen, der sie vor über 60 Jahren entwarf.

Der Plan der Stadt, das Areal zu verkaufen, bedrohte die Existenz Brahms und der anderen Nutze­rInnen des Rota­print-Areals. Sie wussten: Entweder wir gehen oder wir kämpfen. Zusammen mit ihrem Kollegen Les Schliesser entschloss sich Daniela zu kämpfen. Viele andere Miete­rInnen schlossen sich ihr an. Zusammen grün­deten sie eine Initia­tive, um mit der Stadt in Verhand­lungen treten zu können.

Doch den Verant­wort­li­chen bei der Stadt­ver­wal­tung lag nicht der Sinn nach lang­wie­rigen Verhand­lungen mit Miete­rInnen. Im Gegen­teil. Als Reak­tion auf die Initia­tive der Rota­print-Zwischen­nut­ze­rInnen forcierte die Stadt den Verkauf noch und versuchte das Gelände um jeden Preis an den meist­bie­tenden Inve­stor zu verkaufen. Als die Mieter­initia­tive die einzige poten­zi­elle Käuferin blieb, wurde die Fabrik mit gut, mittel und schlecht verkauf­baren Gebäuden zu einem Gesamt­paket geschnürt und einem Immo­bi­li­en­fonds ange­boten. Vom Käufer werden bei solchen Paketen meistens die besseren Stücke entwickelt und weiter­ver­kauft. Den verblei­benden „Schrott­im­mo­bi­lien“ bleibt der Verfall.

Wenn Brahm davon erzählt, merkt man ihr noch heute die Wut über das Vorgehen der Stadt an: „Ein Auge für die Bedürf­nisse der Einwoh­ne­rInnen oder gar eine Vision für das Stadt­viertel waren prak­tisch nicht vorhanden. Aber diese Wut über die falsche Stadt­po­litik hat uns auch angetrieben.“

Ihr Enga­ge­ment sollte sich auszahlen. Nach zwei Jahren harter Verhand­lungen — unter­stützt durch Pres­se­ar­beit und Druck von unten – entschloss die Stadt sich, das Areal aus dem Paket für den Inve­stor zu lösen und für den glei­chen Preis an die durch die Initi­an­tInnen gegrün­dete ExRo­ta­print GmbH zu verkaufen.

Aus den Zwischen­nut­ze­rInnen werden HausbesitzerInnen

Damit waren aber noch lange nicht alle Hürden über­wunden. Es galt auch, Klippen in einem ganz anderen Bereich zu umschiffen. Sie hätten das Projekt trotzdem schei­tern lassen können.

Denn als die Initi­an­tInnen über den Kauf des Grund­stückes disku­tierten, wurden plötz­lich Begehr­lich­keiten anderer Art geweckt. Einige dachten daran, die Hallen in Privat­be­sitz aufzu­teilen — von Alters­vor­sorge bis zu der Möglich­keit eines späteren gewinn­brin­genden Verkaufs. Ein lukra­tives Gedan­ken­spiel. Und ein gefähr­li­ches. Mit den stei­genden Grund­stücks­preisen der letzten Jahre wären die Eigen­tü­me­rInnen schlei­chend selbst zu Speku­lan­tInnen geworden.

Um dieser Falle zu entgehen, fanden die Initi­an­tInnen eine kluge Lösung. Mit einem Erbbau­rechts­ver­trag haben sie die Gebäude vom Boden, auf dem sie stehen, getrennt. Die Initi­an­tInnen selbst wurden als gemein­nüt­zige ExRo­ta­print GmbH nur Besit­ze­rInnen der Gebäude. Den Boden dagegen haben sie gar nie gekauft.

Als Besit­ze­rinnen des Bodens sprangen zwei Stif­tungen ein, welche das Grund­stück über­nahmen. Beide Stif­tungen arbeiten an einem neuen Umgang mit Grund und Boden und erwiesen sich damit als ideale Part­ne­rinnen. In einem 99-jährigen Erbbau­rechts­ver­trag vermieten sie das Grund­stück an die ExRo­ta­print GmbH zurück und sichern damit dem Projekt eine lang­fri­stige Perspek­tive. Ein Verkauf ist so unmög­lich und die profit­ferne und allge­mein­nüt­zige Ziel­set­zung wurde im Vertrag fest­ge­halten. Gleich­zeitig profi­tieren auch die Stif­tungen von dem Vertrag. ExRo­ta­print zahlt ihnen Erbpacht­zinsen, die sie in neue, ähnlich gear­tete Projekte inve­stieren können.

Jetzt waren die Zwischen­nut­ze­rInnen plötz­lich Besit­ze­rInnen von Häusern. Präziser: Sie waren Besit­ze­rInnen von sanie­rungs­be­dürf­tigen Häusern. Die Rota­print-Fabrik war zwar denk­mal­ge­schützt, aber die Bausub­stanz war arg vernach­läs­sigt worden. An der Sanie­rung arbeiten sie noch heute: Brahm zeigt mir die impo­sante Fabrik­ar­chi­tektur, deren Zukunft vor 15 Jahren noch so unge­wiss war. Der Turm, in welchem sie ihr Atelier hat, ist zurzeit komplett von Bauge­rü­sten umgeben.

Bern­hard Hummel hat als Archi­tekt schon einige Gebäude der alten Rota­print-Fabrik reno­viert. Er und sein Kollege Oliver Clemens sanieren zurzeit den Beton der Türme. Seinen Erklä­rungen mit weit ausla­denden Gesten hört man an, wie sehr ihn diese Arbeit faszi­niert. In den frühen 50er Jahren erstellt, sind dem rot schim­mernden Beton die Kriegs­trümmer beigemischt worden. Auch die rauen Bretter, mit denen der Beton damals geschalt wurde, verwendet man heute nicht mehr. Für Hummel und Clemens ist das eine echte Heraus­for­de­rung. Wie können sie den ursprüng­li­chen Charakter dieser Türme wieder­her­stellen, ohne über das damals benutzte Mate­rial zu verfügen? Für die Archi­tekten ein Experimentierfeld.

Einen Bau sanieren, Haus­be­sitzer „spielen“ — auf die Frage, ob sie bei all ihrem Enga­ge­ment für ExRo­ta­print selber noch viel dazu kommt, Kunst zu machen, muss Brahm lachen: „Das hier ist doch ein wunder­bares Kunst­werk. Die Prozesse formen eine soziale Plastik, welche eine Form entwickelt und im Stadt­raum wirkt. Wir haben den Gale­rie­raum gegen den Real­raum getauscht. ExRo­ta­print kann Kunst sein, muss es aber nicht.“

Die Zauber­formel aus Gewerbe, Kunst und Sozialem

Es ist beein­druckend zu sehen, wie sich diese Plastik weiter­ent­wickelt hat. Gerade unter­hält sich im Hof eine Gruppe Frauen mit Kinder­wagen. Ich verstehe kein Wort, bis ich aufge­klärt werde: Für viele Rumä­nInnen und Bulga­rInnen, welche neu nach Berlin kommen, ist Wedding die erste Anlauf­stelle, weil sie hier schon Freunde und Verwandte haben. Sie besu­chen dann die Sprach­schule Lern­statt e.V in der Rota­print-Fabrik. Betrieben wird diese von von kurdi­schen TürkInnen, welche selbst einst als Migran­tInnen nach Berlin kamen.

Neben der Lern­statt e.V. gibt es auch eine Schule für Schul­schwän­ze­rInnen, damit diese Jugend­li­chen doch noch einen Schul­ab­schluss machen können. Ebenso Bera­tungs­ein­rich­tungen für Arbeits­lose. In den Hallen im Erdge­schoss dagegen haben sich vor allem Betriebe aus dem Bauge­werbe eingemietet.

Dabei kommt es ExRo­ta­print nicht darauf an, dass sich jeder enga­giert. Viele Hand­werks­be­triebe haben gar nicht die Zeit dazu. Den Initi­an­tInnen ist wichtig, dass diese kleinen Betriebe nicht durch die stei­gende Mieten verdrängt werden. Sie schaffen Arbeits­plätze vor Ort. Sei es der Elek­tro­mon­teur, der Repa­ra­turen macht, oder zwei kleine Schreinereien.

Deshalb hat man — obwohl die Initia­tive für ExRo­ta­print vor allem von den Künst­le­rInnen ausging —  die Mischung von einem Drittel Gewerbe, einem Drittel Kunst und einem Drittel Soziales auf dem Grund­stück erhalten. Rota­print soll ein Ort für Einrich­tungen und Firmen bleiben, welche die Leute aus der  Umge­bung in ihrem tägli­chen Leben nutzen.

Die Rota­print-Initi­an­tInnen haben in Berlin den Stra­te­gien der Immo­bi­li­en­wirt­schaft ein Schnipp­chen geschlagen. Inzwi­schen haben Entwick­lungs­firmen die Poten­ziale von Kunst für ihre Zwecke erkannt und nutzen sie aus. Oft werden Zwischen­nut­zungen mit Kunst einge­setzt, um den Boden für Inve­sti­tionen zu bereiten. Bei ExRo­ta­print wurde dagegen Neues geschaffen, das niemanden verdrängt hat. Viel­leicht wird die alte Fabrik so, siebzig Jahr nach ihrer ersten Zerstö­rung im Krieg, noch einmal zu einer Keim­zelle, aus der die Stadt im Verdrän­gungs­kampf neue Impulse erfährt und lernt, wie eine nach­hal­tige Stadt­ent­wick­lung auch gehen könnte.

 


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