Vor rund drei Monaten förderte eine Recherche von das Lamm massive Vorwürfe gegen die Candrian Catering AG, eine der grössten Gastrofirmen der Schweiz, zutage. Mittendrin: Aziz*, der während zweier Jahre an deren Take-Away-Stand Buffet Express im Zürcher Hauptbahnhof gearbeitet hat. Er sei auch bei Krankheit zur Arbeit gezwungen worden; wenn er Kritik geübt habe, seien ihm Stunden gestrichen worden, und während der ganzen zwei Jahre habe er an keinem einzigen Wochenende nicht arbeiten müssen, sagte Aziz damals gegenüber das Lamm. Nach ziemlich genau zwei Jahren wurde er entlassen. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt zu wehren begonnen.
Aber wieso nicht schon früher? Und wieso hat er nie gekündigt?
Die Antwort ist simpel – und kurz, nur ein Buchstabe lang: F, der Aufenthaltsbuchstabe in Aziz’ Personalausweis. Aziz hatte, als er die Arbeit bei Candrian angetreten hat, den Aufenthaltsstatus F. Das heisst, er war in der Schweiz „vorläufig aufgenommen“.
Was hat das F damit zu tun?
Personen mit Status F sind Personen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde, bei denen eine Wegweisung in das Herkunftsland aber entweder nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich wäre. Etwa, weil dort Krieg herrscht. Besonders viele Personen mit Status F stammen aus Syrien, Afghanistan und Eritrea. Das Bleiberecht wird ihnen jeweils nur für ein Jahr erteilt – und dann jedes Jahr wieder um ein Jahr verlängert. Offiziell sollten die Personen die Schweiz wieder verlassen, wenn sich die Lage in ihrem Herkunftsland beruhigt hat. Tatsächlich bleiben 90 Prozent der vorläufig Aufgenommenen längerfristig in der Schweiz. Viele für immer.
Im Kanton Zürich erhalten Personen mit Status F seit Juli 2018 nicht mehr Sozialhilfe, sondern nur noch Asylfürsorge. Verantwortlich für die Auszahlung der Asylfürsorge und die Unterbringung der vorläufig Aufgenommenen sind die Gemeinden, denen sie zugewiesen werden. Die Gemeinden können selbst über die Höhe des ausbezahlten Betrags bestimmen. Die Kantonale Sozialkommission (Soko) stellt jedoch eine unverbindliche Richtlinie zur Verfügung. Einem Einpersonen-Haushalt soll demnach ein Grundbedarf von 690 Franken pro Monat ausbezahlt werden. Zum Vergleich: In der Sozialhilfe wird im Kanton Zürich wie in fast allen Kantonen ein Grundbedarf von 986 Franken pro Monat ausbezahlt. Also rund 40 Prozent mehr.
Aber die Richtlinie der Soko ist eben nur – eine Richtlinie. In manchen Gemeinden fällt der an vorläufig Aufgenommene ausbezahlte Grundbedarf sogar noch deutlich tiefer aus. Etwa in Stäfa, wo einem Einpersonen-Haushalt monatlich gerade einmal 360 Franken ausbezahlt werden. Zwischen den verschiedenen Gemeinden gibt es also massive Unterschiede. Das ist ungerecht. Aber es gibt keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Vorläufig Aufgenommene haben kein Recht, die Wohngemeinde zu wechseln, solange sie von der Asylfürsorge abhängig sind.
Das Regime ist also hart, ungerecht – und bedrohlich. Schliesslich könnte den betroffenen Personen jedes Jahr wieder das Aufenthaltsrecht aberkannt werden. Es scheint aber einen Ausweg zu geben.
„Integrieren Sie sich!“
Das Zürcher Migrationsamt erklärt, wie’s geht: „Wenn Sie sich in der Schweiz integrieren, können Sie die Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B) beantragen.“ Aber hier geht es nicht um die Mitgliedschaft im lokalen Jodelverein. Eine Umwandlung der vorläufigen Aufnahme in eine Aufenthaltsbewilligung beantragen kann, wer seit zwei Jahren in ein festes Arbeitsverhältnis eingebunden ist und seit mindestens einem Jahr keine Asylfürsorge mehr bezogen hat. Kurz: Wer aus der prekären Situation mit Status F ausbrechen will, muss einer Lohnarbeit nachgehen. „Integrieren Sie sich!“, feuert das Migrationsamt von der Seitenlinie aus die Betroffenen an.
Nur: Das ist gar nicht so einfach, erklärt Moritz Wyder. Er ist Geschäftsführer von Map F, der Zürcher Monitoring- und Anlaufstelle für vorläufig Aufgenommene. Und er sagt: „Es gibt bei der Stellensuche viele Hindernisse für Personen mit Status F.“ Etwa das Label „vorläufig“. Wer will schon eine*n Arbeitnehmer*in, der oder die vielleicht plötzlich wieder gehen muss? „Viele Arbeitgeber vermuten zudem juristische Hürden für die Beschäftigung von vorläufig Aufgenommenen, die es so gar nicht gibt“, sagt Wyder. Als Beispiel nennt er die Bewilligungspflicht von entsprechenden Anstellungen. Sie gilt seit dem ersten Januar nicht mehr, was viele Arbeitgeber gar nicht wissen.
Die Möglichkeiten sind also sehr beschränkt – fast ausschliesslich auf den tiefsten Lohnsektor. Auswahl gibt es wenig. Personen mit Status F müssen aber jede Jobmöglichkeit nutzen, die sich ihnen bietet, um irgendwann eine Aufenthaltsbewilligung beantragen zu können. Dafür sind zahlreiche vorläufig Aufgenommene bereit, viel auf sich zu nehmen. „Alle wollen unbedingt aus dem Status F rauskommen“, sagt Wyder. „Und zwar möglichst schnell.“
Zurück zum Beispiel vom Anfang: Weshalb hat sich Aziz also nicht schon früher gegen die Arbeitsbedingungen bei Candrian Catering gewehrt? Weil er, wenn er schon früher entlassen worden wäre, zurück in die Asylfürsorge gefallen wäre. Er hätte wieder von vorne anfangen, einen neuen Job suchen und dort für zwei Jahre ausharren müssen. Oder er hätte wieder mit monatlich weniger als 700 Franken Grundbedarf leben müssen, nie sicher, ob er plötzlich sein Bleiberecht verliert. Eine richtige Alternative zur Arbeit bei Candrian gab es für Aziz nicht: Er war seinem Arbeitgeber während zweier Jahre ausgeliefert. Und Aziz ist kein Einzelfall.
„Leute mit F machen Jobs, die sonst niemand macht. Um wenigstens die Gemeinde wechseln zu können.“
Treffen mit Zedan* in Zürich. Zedan ist 26 und lebt seit mehr als drei Jahren in der Schweiz. Aufgewachsen ist er im heutigen Gebiet Rojavas in Syrien. Er sagt, er habe sich gut eingelebt in Zürich. Er hat ein grosses soziales Umfeld; sein Deutsch ist fast einwandfrei. Aber offiziell ist er nur vorläufig aufgenommen. „Pro Tag habe ich 19 Franken zur Verfügung. Ich muss jeden Rappen zählen“, sagt er. „Wenn ich einmal an einem Tag dreissig Franken ausgebe, dann muss ich am nächsten Tag mit nur neun Franken auskommen.“ Meistens habe er schon am Zwanzigsten des Monats kein Geld mehr.
Er kenne schon Leute, die trotz Status F einen Job haben, sagt Zedan. „Aber man muss sich auch ansehen, was das für Jobs sind: prekäre Jobs mit sehr schlechten Löhnen und belastenden Arbeitszeiten.“ Eine gute Anstellung habe niemand. „Leute mit F machen Jobs, die sonst niemand macht.“ Es gehe dabei nur darum, die Aufenthaltsbewilligung B zu erhalten. Oder wenigstens die Gemeinde wechseln zu können. Vorläufig Aufgenommene seien in der Regel bereit, fast alle Jobs anzunehmen – egal, wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind.
Zedan hat sich für einen anderen Weg entschieden. Da seine erste Ausbildung, die er in Syrien absolviert hat, hier nicht anerkannt wurde, tritt er im Herbst eine zweite Ausbildung an. „Ich möchte es versuchen“, sagt er. „Aber ich bin mir nicht sicher, wie ich das schaffen soll.“ Denn ein Stipendium steht Zedan wegen seines Aufenthaltsstatus nicht zu. Er bleibt also von der Asylfürsorge abhängig: Jedes Schulbuch wird zur finanziellen Herkulesaufgabe.
Hinzu kommt, dass seine Ausbildung nicht als Arbeitsverhältnis gilt und deshalb nichts zählt auf dem Weg zum Aufenthaltsstatus B. Er wird also noch sehr lange „vorläufig aufgenommen“ bleiben. Wenn das Migrationsamt „Integrieren Sie sich!“ schreit, dann ist damit Lohnarbeit gemeint. Und sonst nichts.
Nur Hilfsjobs verschaffen Erleichterung
Die Einbindung vorläufig Aufgenommener in prekäre Arbeitsverhältnisse, denen sie alternativlos ausgeliefert sind, hat also System: Eine Alternative ist schlicht nicht vorgesehen. Dass Zedan jetzt eine Ausbildung absolviert, ist eine Ausnahme. Anreize dafür, diesen Weg einzuschlagen, gibt es kaum.
Das zeigt Wirkung, wie Thomas Schmutz von der Asylorganisation Zürich (AOZ) bestätigt. Die selbstständige öffentlich-rechtliche AOZ ist im Auftrag der öffentlichen Hand auch in den Bereichen Arbeitsvermittlung und Integrationsbegleitung von Personen mit Status F tätig. Thomas Schmutz sagt, die Motivation, eine Ausbildung zu machen, sei zu Beginn zwar bei nicht wenigen vorhanden. Aber wegen der finanziellen Einschränkung in der Asylfürsorge sinke meist die Motivation, sich zu einer längeren Ausbildung zu verpflichten. Immer wieder würden Programme, die eine nachhaltige Berufsintegration anstreben, abgebrochen. „Weil selbst schlechte Arbeitsverhältnisse unter zweifelhaften Bedingungen aufgrund eines schnellen Verdiensts bevorzugt werden“, sagt Schmutz. Denn ein Ausbildungslohn reicht in aller Regel nicht aus, um Unabhängigkeit von der staatlichen Unterstützung zu erlangen, und die geringen Einnahmen werden abgesehen von einem Einkommensfreibetrag vom ausbezahlten Grundbedarf abgezogen. Thomas Schmutz: „Der finanzielle Druck führt dazu, dass vorläufig Aufgenommene eher bereit sind, in einfache Hilfsjobs zu gehen.“
Die ORS Service AG, eine ebenfalls im Asylbereich tätige Firma, zeichnet hingegen ein weniger düsteres Bild der Situation. Die ORS hat von mehreren Zürcher Gemeinden ein Mandat für die Betreuung, Unterstützung und Unterbringung vorläufig Aufgenommener inne. Der Kommunikationsverantwortliche der ORS, Lutz Hahn, sagt: „Personen mit Status F, mit denen wir zusammenarbeiten, sind sowohl offen für Arbeitsangebote als auch für qualifizierende Perspektiven.“ Ob eine Ausbildung oder ein Hilfsjob angenommen wird, sei abhängig von den jeweiligen persönlichen Umständen, sagt Hahn.
Alles halb so wild?
Natürlich gibt es vorläufig Aufgenommene, die wie Zedan versuchen, ihre Position auf dem Arbeitsmarkt zu stärken – um sich nicht in prekäre Arbeitsverhältnisse begeben zu müssen. Klar ist aber, dass der Status F darauf nicht ausgerichtet ist. Die tiefen Ansätze in der Asylfürsorge sowie die Voraussetzungen für die Beantragung der Aufenthaltsbewilligung B drängen vorläufig Aufgenommene dazu, möglichst schnell jede Möglichkeit, einer Lohnarbeit nachzugehen, zu nutzen.
Im Take-Away-Restaurant Buffet Express seien ausser ihm noch viele weitere Personen mit Status F angestellt gewesen, sagt Aziz. Sein direkter Vorgesetzter habe darum gewusst, dass sie es sich nicht leisten können, ihre Stellen zu verlieren. Deshalb habe sich ausser ihm fast niemand gewehrt – sondern sie hätten die schlechte Behandlung über sich ergehen lassen.
In der Asylstatistik erscheinen diese schweigenden Angestellten als Erfolgsfälle. Sie haben eine Arbeit gefunden. Was für eine — das interessiert niemanden. „Der Systemwechsel von der Sozialhilfe hin zur Asylvorsorge ist bezüglich Arbeitsmarktintegration ein Erfolgsmodell“, sagt auch Franco Canclini, Sozialberater der Gemeinde Stäfa. Die Motivation, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, habe dadurch zugenommen. Das ist gut möglich. Inzwischen gehen im Kanton Zürich rund 40% der vorläufig Aufgenommenen einer Lohnarbeit nach. Sie haben sich „integriert“. Vermutlich zu einem grossen Teil in der für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rolle: ganz unten.
*Name geändert
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