„Wir rechnen fest mit einer Zunahme häus­li­cher Gewalt”

Es herrscht Lock­down im Land, die Menschen bleiben so gut es geht zuhause. Somit schützt man sich und andere – doch nicht für alle sind die eigenen vier Wände ein sicherer Rück­zugsort. Ein Inter­view mit Pia Alle­mann von der Zürcher Opfer­be­ra­tungs­stelle BIF über häus­liche Gewalt in der Isola­tion, warum es haupt­säch­lich Frauen trifft und was Betrof­fene dagegen tun können. 

Das Lamm: Frau Alle­mann, in der Schweiz herrscht seit letzter Woche ein Lock­down: Viele Menschen gehen nicht zur Arbeit und machen dafür Home-Office, die Kinder sind wegen geschlos­senen Schulen zuhause und Akti­vi­täten und Kontakte ausser­halb der fami­liären Sphäre fallen weg. Wird dies auch an den Fall­zahlen zu häus­li­cher Gewalt sichtbar?

Pia Alle­mann: Bis jetzt herrscht zumin­dest bei unserer Anlauf­stelle eine gespen­sti­sche Ruhe, wir gehen aber davon aus, dass sich das bald ändern wird. Wir haben bereits verein­zelt von Frauen gehört, dass sie jetzt nicht mehr tele­fo­nieren können, weil der Mann zuhause ist. Das heisst: Viele poten­zi­elle Opfer können sich even­tuell gar nicht an uns wenden, da sie nicht in Sicher­heit einen Anruf tätigen können. Das wiederum führt dazu, dass wir keine sicheren Fall­zahlen haben.

Wir rechnen aber mit einer Zunahme der häus­li­chen Gewalt, auch wenn diese noch nicht messbar ist. Die Fall­zahlen werden erfah­rungs­ge­mäss mit der Zeit zunehmen: Je länger der Lock­down dauert, desto prekärer wird die Situa­tion für gewalt­be­trof­fene Frauen werden. Eine Woche oder zwei können sich poten­zi­elle Täter even­tuell noch ablenken oder man schafft es, sich aus dem Weg zu gehen – es herrscht Ausnah­me­zu­stand. Doch irgend­wann kehrt der Alltag zurück, man will raus, Stress kommt auf und es kommt zu Frustration.

Und diese Frustra­tion führt dann dazu, dass Männer gegen­über ihren Frauen, Schwe­stern, Müttern oder Töch­tern gewalt­tätig werden?

Frustra­tion, aber auch enge Wohn­ver­hält­nisse, eine schwie­rige finan­zi­elle Lage, wie sie sich bei vielen Fami­lien in den näch­sten Wochen abzeichnen wird und die daraus entste­henden existen­ti­ellen Sorgen gehören zu den Faktoren, die hohes Eska­la­ti­ons­po­ten­zial mit sich bringen. Auch ein zuneh­mender Alko­hol­konsum spielt eine Rolle. Gerade wenn das Zuhause vorher schon kein sicherer Ort war, können diese Faktoren in Gewalt münden.

Aber finan­zi­elle Verhält­nisse und Enge sind nicht die einzigen Faktoren. Das zentralste Element ist das Poten­zial beim Täter. Also ob er sich das Recht nimmt, seine Frau zu kontrol­lieren und seine Macht an ihr auszu­üben und so wieder die Kontrolle zu erlangen oder Stress abzu­bauen. Dieses Poten­zial wird in den meisten Fällen bereits vor dem Lock­down bestanden haben, wenn auch nur latent.

Pia Alle­mann ist die CO-Geschäfts­lei­terin der BIF-Bera­tungs­stellte für Frauen, Gegen Gewalt in Ehe und Part­ner­schaft. Die BIF ist ein Verein mit öffent­lich-recht­li­chem Auftrag des Kantons und eine aner­kannte Opfer­be­ra­tungs­stelle für Frauen, die von Part­ner­schafts­ge­walt betroffen sind. Im Kanton Zürich gibt es Opfer­be­ra­tungs­stellen mit verschie­denem Fokus­be­reich. 16 Mitarbeiter*innen bieten bei der BIF tele­fo­ni­sche und online Bera­tung an. Auch persön­liche Bera­tungen sind üblich, aufgrund der momen­tanen Situa­tion jedoch sistiert. Alle Bera­tungen sind anonym, vertrau­lich und kostenlos. Die BIF vermit­telt Frauen bei deren Wunsch direkt an Frau­en­häuser weiter oder sucht andere indi­vi­du­elle Lösungen mit oder ohne Invol­vie­rung der Justiz. Rund 2’000 Frauen werden jähr­lich allein von der BIF beraten.

Opfer­hil­fe­stellen gibt es auch in jedem Kanton und auch die aller­mei­sten Frau­en­häuser bleiben trotz COVID-19 weiterhin geöffnet.

Sie oder Menschen in Ihrem Umfeld sind von physi­scher, psychi­scher oder sexua­li­sierter Gewalt betroffen? Unter dem folgenden Link finden sie alle Opfer­hil­fe­stellen der Schweiz aufge­li­stet. https://www.opferhilfe-schweiz.ch/de/

Kann also davon ausge­gangen werden, dass auch in bisher relativ intakten Part­ner­schaften aufgrund der verän­derten Lage Gewalt aufkommen kann?

Ja, davon ist leider auszu­gehen. Schwie­rige und ange­spannte Situa­tionen können ein latentes, bisher nicht offen ausge­lebtes Gewalt­po­ten­zial stei­gern. Normale Ausweich­mög­lich­keiten fehlen, andere Wege, Stress abzu­lassen fallen weg. Wir unter­scheiden jedoch zwischen situa­tiver Gewalt, wie sie in der momen­tanen Gesamt­lage wohl vermehrt auftreten wird, und einem Unrechts­re­gime, welches der Mann durch Kontrolle, Schläge und Drohungen über längere Zeit hinweg zuhause aufge­baut hat. Auch hierfür wird das Risiko steigen, wenn die Täter mehr Zeit und Möglich­keiten für Gewalt und Bruta­lität haben. Zusam­men­ge­fasst müssen wir leider davon ausgehen, dass sowohl situa­tive als auch bereits bestehende Gewalt zunehmen, bezie­hungs­weise sich verschärfen wird.

Wie steht es um sexua­li­sierte Gewalt: Kann hier von der Wirkung derselben Mecha­nismen und Faktoren ausge­gangen werden?

Die sexua­li­sierte Gewalt in den eigenen vier Wänden wird wohl eben­falls zunehmen, während sie im öffent­li­chen Raum, in Bars und Clubs etc. natur­ge­mäss abnimmt. Wir erwarten, dass gewisse Aggres­sionen und Anspan­nungen über zuneh­mende sexua­li­sierte Gewalt im häus­li­chen Kontext ausge­han­delt werden.

Bei der Diskus­sion über häus­liche Gewalt während der Isola­tion liegt der Fokus meist auf den Frauen als poten­zi­elle Opfer. Ist diese Betrach­tungs­weise korrekt?

Klar ist die Dunkel­ziffer bei Männern als Opfer und Frauen als Täte­rinnen noch höher als umge­kehrt, zumal sicher die Scham aufgrund gesell­schaft­li­cher Rollen­bilder höher ist und Männer seltener Hilfe suchen. Aber auf Basis von Stati­stiken lässt sich deut­lich sagen: Häus­liche Gewalt ist ganz klar ein Männer­pro­blem. In ca. 80 Prozent aller gemel­deten Gewalt­schutz­fälle, in denen es zu einer Wegwei­sung kommt, sind Männer die Täter. Die Krimi­nal­sta­ti­stik stützt diese Zahlen.

Es gibt indi­vi­du­elle und gesell­schaft­liche Gründe dafür, dass ein Mann gewalt­tätig wird. Es hängt letzten Endes auch mit Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlechter und stereo­ty­pi­schen Rollen­bil­dern zusammen. Auch damit, dass Frauen vieler­orts gesell­schaft­lich bis heute einen tieferen Wert haben – gesetz­liche Gleich­be­rech­ti­gung hin oder her. Das gibt gewissen Männern die Berech­ti­gung, ihre Inter­essen mit Gewalt durchzusetzen.

Hat die zuneh­mende ökono­mi­sche Gleich­be­rech­ti­gung, auch wenn sie nur langsam voran­schreitet,  nicht dazu geführt, dass die häus­liche Gewalt abnimmt?

Ja und Nein. So verzeichnen wir etwa eine Zunahme von häus­li­cher Gewalt in Ländern, in denen die Gleich­stel­lung zumin­dest in ökono­mi­scher Hinsicht,  messbar voran­schreitet. Es ist schwer zu sagen, ob die  Gewalt gegen Frauen zunimmt, weil sie rascher Anzeige erstatten. Oder  ob die Eman­zi­pa­tion und zuneh­mende Unab­hän­gig­keit der Frau dazu führt, dass sich ein Teil der Männer bedroht fühlt und sich durch Gewalt seine „Privi­le­gien“  zurück­holen will. Er will sozu­sagen in einem letzten Bereich, nämlich der privaten Sphäre,  die Ober­hand behalten, um der „Herr im Haus”  zu bleiben.

Ich persön­lich denke, es ist beides. Einer­seits melden sich mehr Frauen und erstatten Anzeige, weil die Polizei in den letzten Jahren bezüg­lich Stig­ma­ti­sie­rungen deut­lich sensi­bler wurde und das Thema auch ernster genommen wird. Ande­rer­seits bäumen sich gewisse Männer gleich­zeitig mit Gewalt gegen die Eman­zi­pa­tion auf, da sie sich als deren Verlierer sehen.

Was raten Sie von der BIF Frauen oder Mädchen, welche aufgrund der momen­tanen Situa­tion mit einem poten­ziell gewalt­tä­tigen Partner quasi zuhause einge­schlossen sind? 

Grund­sätz­lich raten wir nicht, sondern hören uns die Situa­tion an, um sie zu beur­teilen und dann geben wir eine Palette von Möglich­keiten an. Ist die Frau bereit für eine Tren­nung? Sind Kinder invol­viert? Will die Frau primär Schutz im Sinne eines Aufent­halts im Frau­en­haus oder will sie einen Prozess? Oft sind auch migra­ti­ons­recht­liche Fragen mit dem Ganzen verbunden, dann wird das ganze Vorgehen schnell zum takti­schen Abwägen.

Die Lösungen sind dementspre­chend sehr indi­vi­duell. Ein Beispiel: Eine Frau ruft an und sagt, die Gewalt eska­liere zuneh­mend und sie habe Angst. Als erstes würden wir probieren, sie aus dem Haus­halt zu holen und entweder privat, also bei Familie oder Freunden, oder in einem Frau­en­haus unter­zu­bringen. Wenn sie bereit ist, die Polizei zu invol­vieren, kann diese eine Wegwei­sung und ein Kontakt­verbot gegen den Mann spre­chen. Er muss also den Haus­halt verlassen und sie kann bleiben – Miet- und Besitz­ver­hält­nisse spielen hierbei keine Rolle. Diese Mass­nahmen können einmalig auf bis zu drei Monate verlän­gert werden, parallel kann geklagt werden. Wenn die Frau während dieser Zeit jedoch das Gefühl hat, sie sei auch so nicht sicher oder wohne sehr expo­niert, raten wir zum Aufent­halt in einem Frau­en­haus. Erstaun­lich viele Männer halten sich jedoch an diese Verfü­gung – schliess­lich kann das Nicht­ein­halten mit bis zu 10’000 Franken gebüsst werden.

Was empfehlen Sie Personen, die als Nach­barIn mit poten­zi­eller häus­li­cher Gewalt konfron­tiert werden? Oft hat man ja Hemmungen, einzu­schreiten. Zum einen, weil es eine private Ange­le­gen­heit zu sein scheint und zum anderen auch, weil man die betrof­fene Person durch falsches Vorgehen nicht noch zusätz­lich gefährden möchte.

Bei Verdacht auf anhal­tende Isola­tion etc., aber ohne akute Gewalt­si­tua­tion, sollte die Frau direkt ange­spro­chen werden. Manchmal hilft es, in solchen Gesprä­chen zu para­phra­sieren, also etwa zu sagen: „Ich kannte mal eine, die war in so einer schwie­rigen Lage mit ihrem Mann. Kann es sein, dass es bei dir auch so ist?” Die Frau sollte dann auf Unter­stüt­zungs­an­ge­bote hinge­wiesen werden.

Bei einer akuten Gewalt­si­tua­tion oder im Notfall raten wir immer dazu, sofort die Polizei zu rufen. Bezüg­lich direkten Einschrei­tens vor deren Eintreffen muss jedeR selbst abwägen, was man sich zutraut. Gerade während einer Eska­la­tion ist das Gewalt­po­ten­tial bei gewissen Männern immens hoch. Da sollte man sein eigenes Leben nicht gefährden und auf das Eintreffen der Polizei warten. Dennoch gilt: Je nach dem kann eine Einmi­schung situativ zu einer Zunahme der Gewalt gegen­über der Frau führen, weswegen wir grund­sätz­lich wirk­lich empfehlen, als aller erstes die Polizei zu informieren.


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