Im Frühling habe ich mich für einen Artikel mit mehreren Dutzend Männern ausgetauscht. Ich wollte mit ihnen über Grenzüberschreitungen im engeren und sexualisierte Gewalt im weiteren Sinn sprechen, ihre Gedanken und Reflexionen dazu hören.
Ich fragte sie alle, ob sie selbst schon einmal eine Grenze überschritten hätten. Alex antwortete, dass er schon „immer genug Respekt vor Frauen und genug Menschenverstand“ gehabt hätte, um nicht gegen den Willen einer anderen Person zu handeln. Statt kurz innezuhalten und wirklich über die Frage nachzudenken, blockte er ab.
Was er damit eigentlich sagen wollte: Ich gehöre zu den Guten.
Lohnungleichheit, unbezahlte Care-Arbeit, sexualisierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxische Maskulinität, die Abschaffung der Wehrpflicht und homosoziale Gewalt sind feministische Themen – und werden als „Frauensache“ abgestempelt. Dadurch werden diese Themen einerseits abgewertet, andererseits die Verantwortung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betroffenen‑, sondern auf der Täterseite. Es sind eben Männersachen. Deshalb müssen Männer als Teil der privilegierten Gruppe Verantwortung übernehmen und diese Probleme angehen.
Die meisten meiner Gesprächspartner wollten mir versichern, dass sie zu den Guten gehören – im Gegensatz zu den Bösen, den Vergewaltigern und Frauenhassern. Sie sprachen sich alle gegen sexualisierte Gewalt aus und sahen die Schwere des Problems ein, und darum würden sie selbst auf keinen Fall jemandem so etwas antun.
Diese Abwehrhaltung macht mich skeptisch, und ist im Diskurs um sexualisierte Gewalt tatsächlich das Gegenteil von förderlich.
Erstens: Ich kann verstehen, dass ihr bei diesen zwei Alternativen unbedingt zu den Guten gehören möchtet. Wenn jemand mit einer Frage zum persönlichen Verhalten suggeriert, dass ihr eine Grenze überschritten haben könntet, blockt ihr ab. Dass ihr euch dabei reflexartig in denselben Topf mit den bösen Vergewaltigern geworfen seht, ist eine schlimme Vorstellung für euch.
Doch diese starre Aufteilung in ‘Gut’ und ‘Böse’ – die lieben Männer, die aktiv Konsens leben und nie eine Grenze überschreiten würden und die schrecklichen Monster, die absichtlich FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) erniedrigen und ihnen Gewalt antun – ist von der Realität weit entfernt. Das ist ein absurdes Schreckgespenst, das auf Vergewaltigungsmythen aufbaut und von Angst befeuert wird.
Unsere Gesellschaft versucht krampfhaft, dieses Bild aufrecht zu erhalten. Wenn wir uns einreden, dass die Welt schwarz-weiss ist, gibt es nämlich einfache Lösungsansätze: in Selbstverteidigungskurse gehen, nichts Aufreizendes anziehen, im Ausgang nicht zu viel trinken, nachts nicht allein durch den Park gehen.
Natürlich lösen all diese Ansätze rein gar nichts, da sie auf das Verhalten jener Seite fokussieren, die keine Schuld am Problem trägt: der Betroffenen. Vor sexualisierter Gewalt kann man sich nicht schützen – das zu suggerieren, gibt höchstens Betroffenen eine Mitschuld.
Die Realität sexualisierter Gewalt ist einiges komplexer. Vergewaltigungen sind die Spitze eines riesigen Bergs, dessen Basis aus leicht grenzüberschreitendem Verhalten, Sexismus und Diskriminierung besteht.
Dies führt uns zum zweiten, viel wichtigeren Punkt: Als Teil der gewaltausübenden Gruppe – Männer – habt ihr die Verantwortung, das Problem anzugehen. Und wo fängt ihr an? Bei euch selbst. Ihr müsst euer eigenes Verhalten reflektieren, besonders wenn ihr eine innere Blockade feststellt. Lasst mal die gesellschaftlichen Bilder los und fragt euch ehrlich: Habe ich schonmal ein „Nein“ mit einem „Komm schon“ beantwortet? Habe ich schon mal jemanden angefasst oder geküsst, ohne vorher zu fragen? Habe ich beim Sex immer aktiv Konsens eingeholt?
Erzählt erst in einem zweiten Schritt einem guten Freund von euren Reflexionen. Idealerweise entsteht dabei ein offenes Gespräch, bei dem ihr euch austauschen und überlegen könnt, wie ihr es in Zukunft besser macht.
Wenn ihr aber den Wunsch, als einer der Guten wahrgenommen zu werden, über die ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt an FINTA und eurer Rolle darin stellt, macht ihr euch letztendlich mitschuldig. Krasse Anschuldigung, ich weiss. Aber wer ein Problem erkennt und die Macht hat, etwas dagegen zu unternehmen, entscheidet sich entweder aktiv dafür oder dagegen. Mit eurem Schweigen lasst ihr die Übergriffe passieren und unterstützt lediglich den Status quo.
Bevor ihr wieder abblockt, habe ich eine kleine Besänftigung für euch: Dass wir im Patriarchat leben, heisst auch, dass wir alle patriarchale Muster lernen. Wir verinnerlichen alle die Hierarchie der Geschlechter und dass FINTA unterdrückt werden sollen. Auch Männlichkeitsanforderungen wie „den ersten Schritt machen“, psychisch und physisch stark sein und sich im Freundeskreis als Alpha zu profilieren spielen eine grosse Rolle. Davon werdet ihr sehr stark beeinflusst, und dafür könnt ihr nichts.
Und jetzt wird es langsam komplex: Ja, euer Handeln beruht auf einem patriarchalen System, das diese Gewalt begünstigt. Doch das entbindet euch in keiner Weise von der individuellen Verantwortung, euren Teil dazu beizutragen, diese Gewalt einzudämmen.
Zuzugeben, dass ihr jemanden ungefragt berührt oder nicht das erste „Nein“ akzeptiert habt, ist schmerzhaft, aber nötig. Wenn ihr euch nicht damit auseinandersetzt, dass Grenzüberschreitungen dort beginnen, wo das Einverständnis aufhört, könnt ihr sie nicht verhindern. Und wenn ihr das schwierig findet, dann stellt euch vor, wie schwierig es ist, diese Grenzüberschreitungen fast tagtäglich zu erleben.
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