Die Ohnmacht der Männer

Sexismus, Grenz­über­schrei­tungen, sexua­li­sierte Gewalt: Das sind im Auge der Allge­mein­heit Frau­en­themen. Männer müssten sich am Diskurs betei­ligen – doch sogar wer darauf sensi­bi­li­siert ist, tut dies nicht. 
Männer haben oft Mühe, ihre Freunde oder Arbeitskollegen mit ihren problematischen Aussagen zu konfrontieren. (Illustration: Anna Egli, @anna_illustriert)

Meistens läuft es gleich ab: Nach viel Über­le­gung und mit grosser Über­win­dung erzählt eine Person öffent­lich, was ihr angetan wurde. Sexismus, Stal­king, kleine oder grosse Grenz­über­schrei­tungen, häus­liche oder sexua­li­sierte Gewalt. Sie erzählt von ihrem Trauma, um die Aufmerk­sam­keit auf ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Problem zu lenken und solche Stimmen zu über­tönen, die scham­frei „Jede grosse Liebe beginnt mit einem Nein der Frau“ als Wahr­heit propa­gieren.

Die Reak­tionen sind divers: Einige bemit­leiden die Person, einige sind extrem schockiert, einige glauben ihr nicht, einige üben klas­si­sches victim blaming aus und einige beschimpfen sie sogar. Viel­leicht wird die Geschichte in einem Online­me­dium aufge­nommen, späte­stens seit #MeToo ist das Thema ja latent aktuell. Und dann ist der Wirbel zu Ende.

Der Opfer­fokus scheint immer in dieselbe Spirale zu führen, und während #MeToo sehr wohl ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Problem in die Öffent­lich­keit getragen hat, scheint sich nichts zu verän­dern. Wie verhin­dern wir als Gesell­schaft, dass solche Über­griffe über­haupt passieren?

Um ausnahms­weise nicht auf die Opfer zu fokus­sieren, hat das Lamm einen Aufruf gestartet und nach Männern gesucht, die Refle­xionen zu ihrem Verhalten teilen wollten. Fünf Männer, eine Expertin für sexua­li­sierte Gewalt und ein Mitar­beiter des Männer­büros Zürich kommen in diesem Text zu Wort – in einem Versuch, diese Frage zu beantworten.

Als Frau allein wandern

Ein Beispiel des Medi­en­wir­bels handelt von Nadine Brügger: Die Jour­na­li­stin publi­zierte Anfang Jahr einen Text, in dem sie von ihrer Solo-Wande­rung erzählte. Eine Wande­rung, auf der sie sehr viel uner­wünschte Aufmerk­sam­keit von einem fremden Mann erhielt. Er war mit dem Auto unter­wegs, sie zu Fuss. Er verwickelte sie in ein Gespräch, bot ihr an, sie mitzu­nehmen. Sie verneinte freund­lich, mehr­mals. Ihre Gedanken beschreibt sie im Text so: „Ich bin mir der Einsam­keit hier oben unend­lich bewusst. Niemand sieht uns. Niemand hört uns. Denn niemand ist da. Nur ich. Und er. Ich spüre, wie die Angst kommt.“

Auch als Brügger sein Mitfahr-Angebot abge­lehnt und das Gespräch beendet hatte, blieb er immer in ihrer Nähe, tauchte nach jeder Kurve wieder auf. Er machte ihr Angst, und so wie Brügger es beschreibt, muss er das gewusst haben.

Die Geschichte endete „gut“, Brügger erreichte mit einer Beule am Knie und klop­fendem Herzen das Post­auto, das den Anfang ihrer Heim­reise darstellte. Wohlauf zu Hause fragte sie sich, wie viel Glück sie wohl gehabt habe. Noch einmal allein wandern gehen möchte sie auf die Schnelle nicht, schreibt sie auf Twitter.

Ihr Tweet wurde über 700-mal geteilt und erhielt rund 200 Kommen­tare. Als weib­lich gele­sene Personen drückten in den Kommen­taren vor allem Mitge­fühl aus. Die Kommen­tare von männ­lich gele­senen Personen hingegen reichten von ungläubig („Ist das wirk­lich passiert?“) über beleh­rend („Ich hätte die Polizei infor­miert“) bis zu victim blaming („Besser zu zweit wandern“). Einige wenige drückten ihr ehrli­ches Mitleid aus.

20 Minuten nahm die Geschichte auf, sprach mit Brügger und liess von Anna-Béatrice Schmaltz, Expertin für Gewalt­prä­ven­tion, die Gewich­tig­keit des Problems bestä­tigen. Zum Schluss fordert die Expertin: „Es braucht mehr Aufklä­rung, Sensi­bi­li­sie­rung und Gleich­stel­lung in der Bevöl­ke­rung: Ein Nein muss man akzep­tieren, auch wenn ein Angebot gut gemeint ist.“

Alle kennen Betrof­fene – ja, viele sogar – und sind es viel­leicht sogar selbst. Aber niemand scheint Täter*innen zu kennen. Besser gesagt, Täter. Zur Über­sicht: 2016 bis 2020 waren 94 Prozent der Beschul­digten von Gewalt­taten (Tötungs­de­likte, schwere Körper­ver­let­zungen und Verge­wal­ti­gungen) Männer. Bei den Sexu­al­straf­taten* machen Männer sogar 98 Prozent der Beschul­digten aus.

Gemäss einer Studie der gfs.bern aus dem Jahr 2019 sind 59 Prozent der Schweizer Frauen ab 16 Jahren schon sexuell belä­stigt worden. Auf die gesamte Bevöl­ke­rung hoch­ge­rechnet betrifft das über zwei Millionen Frauen. Nicht in jedem Fall sind diese Belä­sti­gungen straf­recht­lich rele­vant, und auch von den Frauen, die sexua­li­sierte Gewalt erlebt haben, erstat­teten gemäss der Studie nur acht Prozent Anzeige.

Nichts­de­sto­trotz müsste es die Schweiz analog zu den zwei Millionen Opfern mit rund zwei Millionen Tätern zu tun haben. Doch darüber spricht niemand.

In der Schweizer Stati­stik werden Personen in Frauen und Männer aufge­teilt – non-binäre, inter und agender Personen werden also nicht als solche aufge­führt, sondern fälsch­li­cher­weise in die binäre Struktur einge­teilt. Trans Frauen und Männer fallen in die rich­tige Kate­gorie, sofern sie ihren Geschlechts­ein­trag ange­passt haben. Was nicht vergessen werden darf: Gerade Gewalt gegen trans Frauen beruht neben Miso­gynie auf einer weiteren Ebene der Trans­feind­lich­keit. Um Verwir­rungen zu vermeiden und die Stati­stiken korrekt zu zitieren, schreiben wir in diesem Text über „Frauen“ und „Männer“.

Abweh­rend und tatenlos

„Es muss endlich allen klar werden, dass diese Über­griffe kein Frau­en­thema sind“, sagt Agota Lavoyer, Expertin für sexua­li­sierte Gewalt. Lavoyer äussert sich häufig über soziale Medien zu Themen rund um sexua­li­sierte Gewalt, mit Erklä­rungen, Argu­menten und klaren Plädoyers.

Gemäss Lavoyer wird sich nichts ändern, solange nur Frauen über sexua­li­sierte Gewalt schreiben, spre­chen und refe­rieren und solange nur Frauen sich ange­spro­chen fühlen. Lavoyer plädiert dafür, nicht mehr auf (die oft weib­li­chen) Opfer und ihr Verhalten zu fokus­sieren, sondern auf Männer, „die zur Gruppe der Privi­le­gierten und gleich­zeitig Gewalt­aus­übenden gehören“.

Denn: „Wir leben in einer rape culture: einer Gesell­schaft, in der sexua­li­sierte Gewalt verharm­lost und kaum geahndet wird“, so Lavoyer. Eine Gesell­schaft, die tenden­ziell Täter entlaste und Opfer abwerte. Würden nicht so viele Männer tatenlos zusehen, wäre das aktu­elle Ausmass der sexua­li­sierten Gewalt gemäss Lavoyer gar nicht möglich.

„Es muss endlich allen klar werden, dass diese Über­griffe kein Frau­en­thema sind.“

Agota Lavoyer

Das zeichnet sich auch bei Nadine Brüg­gers Erfah­rungs­be­richt ab: Öffent­lich geteilt haben den Text mehr­heit­lich weib­lich gele­sene Personen, bei vielen ergänzt mit einer eigenen Erfah­rung. Männer hingegen, so scheint es zumin­dest, hielten sich eher zurück.

Das erstaunt Lavoyer nicht: Sie höre immer wieder, dass Männer ihr fehlendes Enga­ge­ment gegen sexua­li­sierte Gewalt und Über­griffe damit erklären würden, dass sie kaum Berüh­rungs­punkte mit dem Thema hätten.

Männer als Teil der gewalt­aus­übenden Gruppe müssten das Thema zu sich nehmen und ihre Kollegen zur Verant­wor­tung ziehen. „Nicht zuletzt wissen wir ja auch, dass Männer eher auf andere Männer hören“, sagt Lavoyer und seufzt. In der Geschlech­ter­for­schung spricht man von homo­so­zialen Männer­ge­mein­schaften: Orte, an denen sich Männer unter­ein­ander in ihrer Welt­vor­stel­lung bestä­tigen. Wer Frauen nicht respek­tiert, wird ihnen auch nicht zuhören – anderen Männern hingegen schon.

Die schwie­rigste Gruppe zum Knacken sei die breite Masse an Männern, die von sich sagen, sie würden sich nie über­griffig verhalten. Das sei eine Abwehr­hal­tung, erklärt Lavoyer. Und genau an diese Menschen müsse man rankommen: „Damit sie endlich zugeben, dass sie sich auch nicht immer korrekt verhalten haben.“ Dann könne die rich­tige Arbeit beginnen.

Nadine Brügger hat viele Reak­tionen auf ihren Text bekommen. „Einige Männer haben mir gesagt, dass sie nicht wissen, wie sie sich in solchen Situa­tionen verhalten sollen: Frau igno­rieren, Stras­sen­seite wech­seln, schneller laufen?“, erzählt sie am Telefon. „Ihnen ist bewusst, welche Wirkung sie haben können, und sie möchten gerne verhin­dern, dass jemand Angst bekommt“, so Brügger. Sie habe einige span­nende Gespräche mit Männern geführt, jedoch immer im Vertrauen.

Die öffent­liche männ­liche Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema Über­griffe und sexua­li­sierte Gewalt fehlt. Deshalb hat das Lamm einen Aufruf gestartet und nach Männern gesucht, die ihre Gedanken zu Brüg­gers Text teilen wollten – anonym.

Hilf­lose Wut

Es meldeten sich insge­samt 29 Männer. Ein grosser Teil meldete sich nach der Kontakt­auf­nahme nicht mehr, einige Männer teilten schrift­lich ihre Gedanken zum Text. Sechs Männer beant­wor­teten ein paar Nach­fragen und fünf weitere willigten zu einem Tele­fon­ge­spräch ein.

Auf die Frage, welche Gefühle Brüg­gers Text bei ihnen auslöste, reichten die Antworten von Betrof­fen­heit über Enttäu­schung bis Unwohl­sein. Am aller­mei­sten genannt wurde jedoch Wut. Wut, die sich aus einem Gefühl der Ohnmacht entwickelt – oder aus der Angst, in denselben Topf geworfen zu werden.

„Ich fühle mich so hilflos, wenn meine Freun­dinnen mir von ihren Erleb­nissen erzählen“, erklärt Alex, „als könnte ich kaum etwas tun, um sie zu unter­stützen“. Der 27-Jährige wird wütend, wenn er an alle Frauen denkt, die solche nega­tiven Erfah­rungen haben machen müssen.

„Solche Männer machen viel mehr kaputt als nur das Sicher­heits­ge­fühl dieser einen Frau.“

Daniel, 23

Auch bei Daniel löste der Text von Nadine Brügger Wut aus. „Solche Männer machen viel mehr kaputt als nur das Sicher­heits­ge­fühl dieser einen Frau“, sagt er am Telefon. Das über­grif­fige Verhalten solcher Männer führe unter anderem dazu, dass alle Männer in den glei­chen Topf geworfen und unter Gene­ral­ver­dacht stehen würden, so der 23-Jährige. Über­grif­fige Männer machen ihn wütend, da er sich selbst vorver­ur­teilt fühlt.

Elia hat der Text betroffen gemacht, weil er Brüg­gers Angst in der Situa­tion nach­voll­ziehen konnte. „Gleich­zeitig dachte ich: Männer sind doch nicht per se gefähr­lich.“ Ihn habe gestört, dass Brügger dem Mann eine böswil­lige Inten­tion zuge­schrieben habe. Der Mann habe sich grenz­über­schrei­tend verhalten, ja, aber viel­leicht aus Unwissen, meint Elia. Zu einem gewissen Grad kann sich der 31-Jährige mit dem Mann iden­ti­fi­zieren: „Ich hätte sie wahr­schein­lich auch mit dem Auto mitnehmen wollen und nach dem Nein gefragt, ob sie wirk­lich sicher sei.“

Elia ist klar, dass es wahr­schein­lich auch in seinem Kolle­gen­kreis grenz­über­schrei­tendes Verhalten gibt: „Als Mann muss man ehrlich sein und zugeben, dass man schon mal Grenzen über­treten hat.“ Man müsse sich nur die Zahlen anschauen: Jede zweite Frau in der Schweiz ist schon sexuell belä­stigt worden.

Zu den „Guten“ gehören wollen

Alex hingegen ist sich sicher, dass er noch nie eine Grenze über­schritten hat: „Es gab viel­leicht Situa­tionen, in denen ich unreif agiert habe, aber ich hatte schon immer genug Respekt vor Frauen und genug Menschen­ver­stand, um nicht gegen den Willen einer anderen Person zu handeln.“

Etwas weniger abweh­rend antwortet Ben. Er erzählt am Telefon von seinen Teen­ager­jahren: Im Ausgang habe er jeweils den „zufäl­ligen“ Körper­kon­takt gesucht. Dass das grenz­über­schrei­tend war, sei ihm ein paar Jahre später bewusst geworden. Mit Femi­nismus beschäf­tigt sich der 28-Jährige erst seit Kurzem und wie bei vielen anderen auch war bei ihm die persön­liche Betrof­fen­heit der Auslöser. Es geschah ein Über­griff an einer Veran­stal­tung, die er mitorganisierte.

„Wenn man sich selbst nicht direkt über­griffig verhält und bei einem Fall im Umfeld der Betrof­fenen glaubt und den Über­griff verur­teilt, gehört man schon zu den ‚Guten‘ “, erklärt Ben. Dies spiegle man sich gegen­seitig und ist somit fein raus.

„Es ist richtig schwer, meine eigenen Fehler einzu­ge­stehen. War ich schon mal grenz­über­schrei­tend? Ja.“

Ben, 28

Nach dem Tele­fonat fügt Ben in einer Nach­richt an: „Ich lerne jeden Tag dazu, wie fest diese Idee der ‚Guten‘ veran­kert ist. Es ist richtig schwer, meine eigenen Fehler einzu­ge­stehen. War ich schon mal grenz­über­schrei­tend? Ja. Ich habe Frauen berührt ohne Zustim­mung. Ich habe mit 18 versucht, meine dama­lige Freundin zu Pene­tra­ti­onssex zu über­reden.“ Es gebe viele Momente in seinem Leben, die über­griffig oder grenz­über­schrei­tend waren, schreibt Ben weiter. Das nieder­zu­schreiben löse schon Schweiss­aus­brüche aus – er habe ein tiefes Bedürfnis, als „gut“ wahr­ge­nommen zu werden.

Was Ben zum Ausdruck bringt, ist etwas, das viele dieser Männer beschäf­tigt und Teil des Kern­pro­blems ist: die Vorstel­lung, dass es die „Guten“ gibt, die nie einer anderen Person etwas zu Leide tun würden und die „Bösen“, die absicht­lich Frauen ernied­rigen, indem sie ihre Grenzen über­schreiten und ihnen Gewalt antun.

Ein Blick auf die Stati­stik reicht, um zu verstehen, dass es eben nicht so schwarz-und-weiss ist. Die Rech­nung geht nicht auf: Niemand scheint einen Täter zu kennen (oder gar zu sein), dennoch geschehen so viele Über­griffe. Die Schluss­fol­ge­rung ist, dass es eben doch viel mehr Täter gibt als angenommen.

Agota Lavoyer bringt es auf den Punkt: „Es haut mich nicht aus den Socken, wenn mir ein Mann sagt, er habe schon mal eine Grenze über­schritten. Eigent­lich weiss ich das.“ Trotzdem sei genau diese Refle­xion und Offen­heit wichtig, um weiterzukommen.

Ben und Elia waren die Einzigen, die zugeben konnten, dass sie schonmal eine Grenze über­schritten haben. Alle anderen rela­ti­vierten oder blockten gar ab – und fokus­sierten dabei mehr auf sich selbst und darauf, wie sie von anderen wahr­ge­nommen werden, als auf das Problem und ihre Handlungsmöglichkeiten.

Gespräche unter sich

Um solche Grenz­über­schrei­tungen zu verhin­dern, plädieren die fünf Männer für mehr Verur­tei­lungen, mehr Aufklä­rung in der Schule und allge­mein mehr Dialog. Den letzten Punkt haben denn auch alle genannt, als sie gefragt wurden, was sie selbst beitragen könnten.

Die entschei­dende Frage ist: Reden sie tatsäch­lich mit ihren Kollegen über das Thema? Haben sie Nadine Brüg­gers Text als Anlass genommen, ein ehrli­ches Gespräch über das eigene Verhalten zu beginnen?

Die geführten Gespräche liefern eine klare Antwort: Nein.

Alex, Ben und Daniel haben nur mit Freun­dinnen über den Text gespro­chen. Mit den Kollegen sei so ein Gespräch „nicht so etabliert“, sagt Alex, es sei halt „eher in Gesprä­chen mit Frauen“ ein Thema, so Daniel. Ein Gespräch hier und da würden sie mit ihren Freunden schon führen, aber da bleibe es gene­rell unper­sön­lich. Ben gibt zu, dass es einfa­cher ist, selbst mit einem proble­ma­ti­schen Verhalten aufzu­hören, als es den Kollegen zu erklären.

Alex führt aus: „In meinem Umfeld gehe ich davon aus, dass sich alle darin einig sind, dass wir Frauen keine Angst machen und ihre Grenzen respek­tieren sollten.“ Zuge­geben, dass sie selbst schon eine Grenze über­schritten hätten, habe in seinem Kolle­gen­kreis niemand. Das würde beinhalten, dass man sich selbst beschul­dige, erklärt Alex. Bei Ben ist es ähnlich: Gespräche zum persön­li­chen Verhalten blieben aus.

Mit Kollegen darüber zu reden, die glei­cher Meinung sind, sei einfach, meint Chris. Er habe aber auch Kollegen, von denen er wisse, dass sie Frauen nicht respek­tieren würden. „Weil ich ihre Sympa­thie behalten will, fällt es mir schwer, ihr Verhalten zu kommen­tieren“, so der 19-Jährige weiter und trifft damit den Nagel auf den Kopf.

Tausend Entschul­di­gungs­gründe

„Dass Männer diesen Konver­sa­tionen auswei­chen, ist ein Zeichen dafür, wie real die Männ­lich­keits­an­for­de­rungen in unserer Gesell­schaft immer noch sind“, erklärt Timo Jost. Er arbeitet im manne­büro züri und ist Vorstands­mit­glied des Vereins „Die Feministen“.

Da stecke eine Angst dahinter, so Jost weiter. „Angst, als schwach oder unmänn­lich ange­schaut zu werden.“ Denn in der Schweiz sei die Anfor­de­rung, dass Männer den ersten Schritt machen, immer noch omnipräsent.

„Das ist total heraus­for­dernd und viele machen dann einfach mal, ohne je über Konsens nach­ge­dacht zu haben“, so Jost. „Das ist oft sehr proble­ma­tisch.“ Diese Männer wüssten es aber nicht besser. Es gebe solche, die es gut meinen und schlecht machen, und solche, die dieses Macht­ge­fühl eben doch geniessen würden.

Gemäss Jost gibt es tausend Entschul­di­gungs­gründe, sich als Mann nicht mit dem Thema Männ­lich­keit und dessen Auswir­kungen zu befassen. Und wenn man sich doch dazu entschliesse, gebe es zwei Wege: „Du kannst dich mit deiner Männ­lich­keit ausein­an­der­setzen und Femi­nist werden. Oder – und das finde ich so krass – wenn dir das zu schmerz­haft ist, kannst du abwei­chen und in die Männer­rechts­be­we­gung gehen.“

Zwischen Femi­ni­sten und Männer­recht­lern gebe es zudem ein grosses Feld von Männern, die Femi­nismus eigent­lich gut fänden, aber das Gefühl hätten, es gehe sie nichts an.

Was braucht es, damit diese Männer sich ange­spro­chen fühlen, ihr Verhalten reflek­tieren und ändern? „Sie müssen verstehen, was das Problem ist und wieso es Sinn macht, dass sie sich damit beschäf­tigen“, so Jost. Zudem müsse das Problem irgendwie lösbar sein: Sie müssten wissen, was sie konkret dagegen tun können. Jost spricht dabei ein Modell an, das in der Männ­lich­keits­ar­beit verwendet wird. „Beim Thema Männ­lich­keit sehe ich leider an allen drei Ecken Flucht­wege“, fügt Jost an.

Wie über­haupt ein Mann heute noch sagen könne, sexua­li­sierte Gewalt als solches betreffe ihn nicht, versteht Agota Lavoyer derweil nicht. „Männer, die von sich selbst sagen, sie hätten noch nie eine Grenze über­schritten, wissen genau, dass ihre Kollegen das schon getan haben. Wie kann man sich da trotzdem zurück­lehnen?“, fragt Lavoyer rhetorisch.

Männer müssen das Thema zu sich nehmen, das sagt Lavoyer schon seit Jahren. Dass eine persön­liche Betrof­fen­heit zentral sei, um sich zu enga­gieren – dem sei nicht so. „Ich enga­giere mich dafür, weil ich eine gesell­schaft­liche Ände­rung voran­treiben möchte und es ein verdammt grosses Problem ist“, so Lavoyer.

Erst wenn Männer das begreifen und sich über­winden würden, unan­ge­nehme Gespräche mit ihren Kollegen zu führen, werde sich die Gesell­schaft verändern.

* Artikel zu Porno­grafie und Prosti­tu­tion ausgenommen


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