Die Vitrine in dem grossen, hellen Raum des grossbürgerlichen Hauses in der Strasse Citlaltépetl 25 in Mexiko-Stadt enthält ein ganzes Leben: den Hut und die Brille, einige vollgekritzelte Notizbücher, eine halbvolle Flasche Whisky, die veröffentlichten Bücher, das Foto seines 50. Geburtstags. Es war sein letzter. Vor fünf Jahren, am 15. Mai 2017, ist Javier Valdez, Gründer der Wochenzeitung Riodoce und einer der grossen Chronisten der Drogengewalt in Mexiko, in seiner Heimatstadt Culiacán im Bundesstaat Sinaloa unweit der Redaktion mit mehreren Schüssen ermordet worden.
Nach dem Verbrechen war auch das Leben seiner Frau Griselda Triana in Sinaloa nicht mehr sicher. Sie kam als Vertriebene nach Mexiko-Stadt – allein, verängstigt und mit kaum mehr als den Sachen, die sie am Leib trug. Das Casa Refugio Citlaltépetl, das heute die Erinnerungstücke an ihren toten Mann beherbergt, wurde ihr erster Anlaufpunkt und Refugium – und zum Sprungbrett für ein neues Leben.
Das zweistöckige Haus mit seinen dicken Wänden und der grossen Eingangshalle wurde in den 1920er-Jahren vom mexikanischen Stararchitekten Enrique Aragón Echegaray entworfen. Es liegt in der Condesa, einem der besseren Viertel der mexikanischen Hauptstadt, und ist seit Jahrzehnten eine Anlaufstelle für Menschen auf der Flucht, die in Mexiko-Stadt einen Neuanfang wagen.
In den 1940ern waren republikanische Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs die ersten Exilant*innen, die das Haus bewohnten. Ende der 1990er wurde es zum Casa Refugio und gewährte zunächst verfolgten Schriftsteller*innen verschiedener Nationalitäten Unterschlupf, später bedrohten mexikanischen Journalist*innen. Heute nutzen Migrant*innen aus Zentralamerika und der Karibik die Räumlichkeiten für Workshops.
Stadt der Zuflucht
„Das Haus hat zwei Etappen“, sagt María Cortina. Die Direktorin des Casa Refugio ist eine elegante ältere Dame mit aristokratischem Auftreten. „Die erste Etappe begann mit der Gründung vor beinahe einem Vierteljahrhundert. Die Casa sollte Schriftsteller:innen, die in ihren Heimatländern verfolgt wurden und deshalb nicht arbeiten konnten, Zuflucht gewähren.“
Genau genommen startete das Projekt im März 1998, als der damalige Regierungschef von Mexiko-Stadt, Cuauhtémoc Cárdenas, die Hauptstadt in Anwesenheit der Schriftsteller José Saramago und Carlos Fuentes zur „Stadt der Zuflucht“ erklärte. Als einzige Stadt ausserhalb Europas gehörte Mexiko-Stadt damit einem Netz von 25 Städten an, die Räume für gefährdete Schriftsteller*innen zur Verfügung stellten.
Gegründet worden war das Netzwerk 1993 vom Internationalen Schriftstellerparlament (IPW) unter der Präsidentschaft von Salman Rushdie. Der indisch-britische Schriftsteller war nach Veröffentlichung seines Buches Die satanischen Verse 1989 vom damaligen politischen und religiösen Führer der iranischen Revolution, Ayatollah Khomeini, mittels einer Fatwa zum Tode verurteilt worden und hatte selbst jahrelang flüchten und untertauchen müssen.
Mit Unterstützung des IPW wurde das Casa Refugio eingeweiht. Den Umbau des Hauses führte Felipe Leal durch, der „Architekt, der Mexiko-Stadt modernisiert hat“. Leal schuf einen hellen Innenhof, wandelte Garagen in Büros um und richtete in dem geräumigen Gebäude drei Wohnungen für Schriftsteller*innen auf der Flucht her. „Sie kamen für ein oder zwei Jahre, um hier zu schreiben“, sagt Direktorin Cortina.
Den Anfang machte der albanische Dichter Xhevdet Bajraj. Er kam im Juni 1999 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern aus dem zerstörten Kosovo nach Mexiko, wo er bis heute lebt. Nach ihm kam ein Dutzend weiterer Autor*innen, meist aus Afrika und dem Nahen Osten – bis das IPW aufgelöst wurde und keine verfolgten Schriftsteller*innen mehr eintrafen. Auch die Casa selbst geriet in Schwierigkeiten. „Es gab Probleme mit der Verwaltung, mit den Rechnungen, Schulden hatten sich angehäuft“, erzählt Cortina. Und so wurde die Casa 2017 dem Kultursekretariat der Stadt unterstellt, für das Cortina arbeitet.
Mexiko: Ein gefährlicher Ort für Journalist*innen
„Das hat uns dazu gebracht, umzudenken, uns neu zu erfinden“, sagt Cortina heute. „Wir haben beschlossen, mehr nach Mexiko und in die nahe Region zu schauen.“ Die Balkankriege waren schliesslich lange vorbei. „Wenn dies also ein Haus ist, das Zuflucht gewähren soll, müssen wir uns mit der Migration und den Zwangsvertreibungen befassen.“
Bei den Vertriebenen geht es dem Haus um zwei Gruppen: Umweltschützer:innen und vor allem Journalist*innen. Die zweite Etappe des Hauses begann.
Cortina war selbst lange Journalistin, arbeitete viele Jahre als Kriegsreporterin in Zentralamerika und als Korrespondentin in Kolumbien und im Libanon, bevor sie als Pressebeauftragte an die mexikanische Botschaft in Madrid ging. Nach ihrer Rückkehr nach Mexiko landete sie im Kultursekretariat von Mexiko-Stadt. „In Mexiko gibt es viele Journalist*innen, die vom Staat nicht beschützt werden. Sie kommen nach Mexiko-Stadt, weil sie bedroht werden oder bereits Angriffe erlitten haben“, sagt sie.
Seit Jahren ist Mexiko für Journalist*innen das gefährlichste Land der Welt. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden acht mexikanische Medienschaffende ermordet. Die Organisation für Pressefreiheit Artículo 19 zählt 153 getötete Journalist*innen seit dem Jahr 2000. Alle 13 Stunden wird nach Artículo 19 Angaben in Mexiko ein Medienschaffender angegriffen.
Kürzlich erst warnte das Büro des Sonderberichterstatters für das Recht auf freie Meinungsäusserung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) vor „der Normalisierung und Vertiefung der Gewalt gegen Journalist:innen in Mexiko“ und forderte die Behörden auf, Massnahmen zu ergreifen, um das Leben von Journalist*innen zu schützen und die Straflosigkeit für Verbrechen gegen die Presse zu beenden.
Denn Angriffe auf Medienschaffende werden selten strafrechtlich verfolgt. Mehr als 90 Prozent der Morde an Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen bleiben ungesühnt. Oft sind es auch staatliche Akteure, die Journalist*innen schikanieren.
Anfang Oktober 2021 sagte der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Alejandro Encinas, es sei „besonders alarmierend“, dass das grösste Risiko für Journalist*innen von Sicherheitskräften ausgehe, die auf kommunaler Ebene mit kriminellen Gruppen kooperieren. Hinzu kommt, dass Präsident Andrés Manuel López Obrador in seinen allmorgendlichen Pressekonferenzen immer wieder gegen die Medien wettert. Viele Beobachter*innen sehen darin einen direkten Angriff auf die Presse.
Der im Jahr 2017 ermordete Javier Valdez habe Culiacán nicht verlassen wollen, sagt Cortina, aber viele Journalist*innen seien gezwungen, wegen Todesdrohungen aus ihren Bundesstaaten zu fliehen. Es sei unmöglich, sie alle in der Casa unterzubringen. Man könne aber auf andere Weise helfen.
„Die meisten dieser Journalisten sind ‚Red Note‘-Journalisten“, sagt Cortina, Bürger-Journalist*innen also, die aus den Epizentren der Drogengewalt in Mexiko berichten. „Ihre Ausbildung ist oft nicht sehr professionell“, meint Cortina, man habe daher Kurse zum Schreiben, zum Verfassen von Chroniken, zum Führen von Interviews angeboten. „Wir haben das Glück, dass uns viele Leute unterstützen“, sagt die Direktorin.
Eine dieser Unterstützer*innen war Marta Duran de Huerta. Die Soziologin und Journalistin hat 15 Jahre für Radio Nederland gearbeitet und für die linke Tageszeitung La Jornada sowie das Wochenmagazin Proceso über Themen wie Waffenhandel, Menschenrechte, organisiertes Verbrechen und Frauenmorde berichtet. Sie gehörte 2017/18 dem Beirat des Casa unter der Führung des Schriftstellers Juan Villoro an, der sich nach dessen Ausscheiden auflöste.
Man habe in der Zeit aber einiges angestossen, sagt Duran. „Für die Kurse haben wir viele namhafte Journalist*innen angesprochen, die besten des Landes, alle haben Ja gesagt und niemand hat Geld genommen.“ Es war für die geflüchteten Journalist*innen die Möglichkeit, ein Sozialleben zu führen, Gleichgesinnte zu treffen, Menschen, die das Gleiche durchgemacht haben.
„Und für die Journalisten in Mexiko-Stadt, die sich in einer privilegierten Situation befinden, weil es in Mexiko-Stadt schwieriger ist, umgebracht zu werden als in Tamaulipas, war es wichtig, einander kennenzulernen und sich gegenseitig zu helfen. Viele von ihnen wurden Freunde“, erzählt die Soziologin Duran.
Auch Griselda Triana, die Witwe von Javier Valdez, hat an diesen Kursen teilgenommen, sagt Duran, die mit Valdez eng befreundet war. „Als er getötet wurde, kam die Familie hierher nach Mexiko-Stadt und versteckte sich. Und dann beschloss Griselda, hier ein kleines Museum zu Ehren von Javier einzurichten. Sie arbeitet jetzt dort.“
Triana brachte Hunderte von Valdez‘ Büchern nach Mexiko-Stadt. „Ich hatte Angst, dass sie in einem verlassenen Haus liegen würden, in dem niemand mehr wohnt, dass sie verloren gehen würden und vor allem, dass niemand sie lesen würde“, sagte sie der spanischen Tageszeitung El País.
Im Laufe der Zeit schenkten Reporter*innen und Verleger*innen der Bibliothek weitere Bücher. Insgesamt sind es heute mehr als 1’500 Werke. „Jeder kann hierher kommen, um zu arbeiten und zu lesen“, sagt die Direktorin Cortina. So solle das Andenken an Valdez gewahrt werden. Sie fügt hinzu: „Ich habe den grossen Traum, eine Bibliothek des Journalismus aufzubauen.“
Das sichtbare Haus der Unsichtbaren
In dem geräumigen Innenhof arbeitet derweil eine Gruppe von rund 20 Migrant*innen aus Haiti, Guatemala und Honduras an einer Neuadaption von Shakespeares Der Sturm, die bald aufgeführt werden soll. Dreimal pro Woche proben sie, während sie auf eine Transitgenehmigung durch Mexiko warten.
Aber das Stück soll nicht einfach nur unterhalten, sagt Cortina „Es geht um Identität. Viele der Haitianer*innen hier sind in Brasilien geboren. Dann wechselt die Regierung dort, sie werden ausgewiesen. Sie gehen nach Chile, wieder werden sie ausgewiesen. Nun sind sie in Mexiko, auf dem Weg in die USA. Hier kommen sie mit Migrant*innen aus Zentralamerika zusammen und es ist ein bisschen so: Man findet seine Identität im Umgang mit anderen. Und gleichzeitig sensibilisiert es die Mexikaner*innen. Denn der verdammte Rassismus, der in unserem Land herrscht, ist sehr stark.“
Es gehört zu den vielen Kontrasten und Widersprüchlichkeiten Mexikos, dass die ansonsten in der Millionenmetropole unsichtbaren Migrant*innen in einer Casa im Hipster-Viertel Condesa proben, nur wenige Meter vom Parque México entfernt, wo besser betuchte Mexikaner*innen und Digitalnomad*innen aus aller Welt, die der Pandemie entfliehen zu suchen, in schicken Cafés, gut sortierten Delikatessenläden und teuren Boutiquen das Leben geniessen.
Projekte wie der Theaterworkshop sind zum Kernstück des Casa Refugio geworden, das die Räume kostenlos für kulturelle Aktivitäten zur Verfügung stellt. Es gibt Ausstellungen, Buchpräsentationen, Konferenzen. Im Gegenzug bittet das Casa um Spenden. Die Organisator*innen eines Workshops für kreatives Schreiben spendeten Tinte für die Drucker, einige Nachbar*innen die Bücherregale. Seit drei Jahren verfügt das Casa Refugio über kein öffentliches Budget mehr, abgesehen von den Gehältern der Mitarbeitenden.
Verfolgte Schriftsteller*innen oder Journalist*innen beherbergt das Casa derzeit nicht. „Es gibt Informationsveranstaltungen oder Hommagen an ermordete Medienschaffende, es ist ein Forum, aber es ist keine Institution, die bedrohten Journalist*innen konkret hilft“, sagt Duran resolut. Sie glaube auch nicht, dass die Regierung der Stadt ein Interesse daran habe, dass die Bedeutung des Casa über den eines symbolisch-kulturellen Ortes hinausgeht.
„Es gibt ein Programm der Regierung zum Schutz von Journalist*innen, den sogenannten mecánismo, an dem die Polizei, das Innenministerium und Menschenrechtsorganisationen beteiligt sind. Der mecánismo funktioniert so: Wenn du in Gefahr bist, bringen sie dich aus deiner Stadt nach Mexiko-Stadt, sie geben dir eine Wohnung, einige Gutscheine für Supermärkte“, erzählt Duran.
Sie war selbst im mecánismo, nachdem sie Todesdrohungen erhalten hatte. „In dem Moment rettet es Leben, aber was dann? Viele Journalist*innen vertrauen dem mecánismo nicht“, sagt sie. Es gebe zu viel Bürokratie. Zudem gehörten die Kameras und die Technik einem Polizeiunternehmen, das sie ausspioniert. Der mecánismo sei unterbesetzt und die lokale Polizei häufig in das organisierte Verbrechen verstrickt.
Früher kamen Schriftsteller*innen aus anderen Ländern, und fanden Zuflucht im Casa Refugio. Mexikanische Journalist*innen aber werden im eigenen Land verfolgt. Sie müssen sich verstecken, ein sichtbarer Ort wie das Casa Refugio funktioniert dafür nicht. „Es ist ein symbolischer Ort“, sagt Duran. Der eigentliche Schutz der Journalist:innen werde von den Journalist*innen selbst gewährleistet. „Ausserdem könnte das Haus aufgrund seiner Grösse drei Personen beherbergen, aber was kann man [angesichts der vielen bedrohten Journalist*innen, Anm. d. Red.] mit drei Zimmern anfangen? Nicht viel.“
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