Zwischen Katzen­vi­deos und #withA­leppo

Der Face­book­stream verstört unsere Autorin: Zwischen die Strand­bilder ihrer Kolle­ginnen und lustige Kommen­tare über Donald Trump mischen sich Videos über das Grauen in Aleppo. Sie beschliesst etwas zu tun. Nur was? 
Fuck, Marry, Kill - offenbar reicht es nicht mehr, dass wir einen Menschen aufgrund seines Fotos nach recht oder links wischen (Foto: Screenshot FMK)

Jessica hat eine neue Frisur. 120 Likes. Nicole ist am Strand im Bikini. 80 Likes. Daniel ärgert sich über die AfD. 10 Likes. Julia ist jetzt Femi­ni­stin. 200 Likes. Lukas postet ein Foto von seinem Chia­sa­men­pud­ding. 75 Likes. Seba­stian macht sich über Donald Trump lustig. 35 Likes. Anna ist in der 20. Woche schwanger und postet ihr neustes Ultra­schall­bild #babylove #love­my­life #time­of­my­life #welco­me­suns­hine #OMG. 350 Likes.

Channel 4 postet ein Video aus einem Kran­ken­haus in Aleppo. 57’598’720 Aufrufe. Ich klicke es an und schaue es mit Ton. Ohne Ton wäre es rück­blickend viel­leicht erträg­li­cher gewesen. Ein Junge trägt seinen toten Bruder, einge­wickelt in ein Tuch, in den Armen. Er wurde gerade einmal vier Wochen alt. Dann tröstet der Junge seine Mutter, die bitter­lich weint. Sie schiebt ihren Körper durch das Kran­ken­haus. Ihre Nase blutet, was sie gar nicht bemerkt. Sie klagt an. Sie ist eine gebro­chene Frau.

Wenn die Kinder vor den Eltern sterben, gerät alles aus dem Takt. Der Krieg hat die Rollen vertauscht. Zwei andere Kinder suchen ihre Mutter. Keine Tränen, kein Geschrei, kein Wimmern. Gar nichts. Ihre Blicke sind leer. Was sie gesehen haben, kann ich nur erahnen. Die Gesichter der Menschen in Aleppo sind grau-weiss vom Staub. Das Blut läuft ihnen übers Gesicht. Ihre Lippen sind rissig und vom Blut voll­ge­sogen. Als wären sie zu unheim­li­chen Clowns geschminkt worden. „Aleppo ist ein Ort, wo die Kinder aufge­hört haben zu weinen“, steht unter dem Video. Ich schaue es dreimal hinter­ein­ander. Erst unter dem Video lese ich dann: „Warnung — Verstö­rende Bilder in diesem Beitrag“.

https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1812675318972205&set=a.1386198644953210.1073741825.100006892632883&type=3&theater

SMS von Dimitri: „Nora, das war ne mega krasse Party gestern. Bomben­stim­mung. Du hast wirk­lich was verpasst.“ Und ich denke: Geht eigent­lich irgendwie nicht. Bomben­stim­mung. Blöd natür­lich, wenn man weiss, dass man was verpasst hat. Doppelt blöd, wenn der Dimitri dann gleich eine SMS hinterher schickt: „Nora, das tut mir voll leid, ich wusste gar nicht, dass dich niemand einge­laden hat.“ Ich schicke ihm das Video von Channel 4 weiter. Und schicke auch gleich eine SMS hinterher: „Hier ist auch Bomben­stim­mung.“ Ja, ich bin über­spannt, wütend, hilflos und verzwei­felt. Nicht wegen der Party. Nicht weil man mich vergessen hat. Nein. Sondern weil ich wirk­lich nicht weiss, wie man denn in dieser tiefen Zerris­sen­heit nicht verrückt wird. Seit Wochen mache ich den Spagat zwischen Katzen­vi­deos und Bildern von entwur­zelten, verstörten und verzwei­felten Menschen.

Ich melde mich bei Face­book ab und stehe vor meinen Klei­der­schrank. Ich sortiere Pullis aus, die ich doch nie wirk­lich trage. Schwarze Hosen hab ich vier Paar und lege drei davon raus. Schuhe. Es fehlt doch immer an Schuhen. Männer­schuhe werden gebraucht. Hab ich aber keine. Ich rufe Dimitri an, der verka­tert ins Telefon stöhnt: Zu viel Gin, einfach viel zu viel Gin auf der Party gestern. „Wie viele deiner Turn­schuhe trägst du wirk­lich, Dimitri? Die schwarzen und die roten, oder?“ Er wider­spricht mir nicht. Und er hat immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht auf die Party einge­laden wurde. „Nora, gib mir 30 Minuten. Ich bringe dir Schuhe vorbei.“ — „Hast du viel­leicht auch noch eine alte Winter­jacke oder Jeans oder Pullis?“ Dimitri lacht und legt auf.

Eine Stunde später steht der verka­terte Last­esel in meiner Wohnung. Auf dem Boden im Wohn­zimmer sortieren wir die Kleider. „Nora, das ist deine einzige warme Winter­jacke, nicht?“ Ach egal, ich lege meine Daunen­jacke zu den anderen Klei­dern. „Das hilft doch niemandem, wenn du selber frierst.“ Ich verdrehe die Augen. „Nora, wir sitzen doch alle im glei­chen Boot und wissen nicht recht, was wir von hier aus tun können.“ Das geht auch irgendwie gar nicht: Im glei­chen Boot sitzen. Ich fauche Dimitri an, dass wir doch etwas gegen die Ohnmacht tun müssen. Dass wir etwas tun müssen, damit sich irgend­etwas bewegt. Damit wir nicht erstarren vor lauter Gespal­ten­sein. Dimitri macht ein Foto der Kleider und postet es. #withA­leppo.

Und gleich der erste Kommentar: Kann man mal bitte für arme Menschen in der Schweiz Kleider sammeln oder Geld spenden? Die leben hier nämlich auch unter dem Existenzminimum.

Ich fahre Dimitri an, warum er das gepo­stet hat. Man könne doch auch einfach etwas tun ohne sich dann die Like-Lorbeeren fürs Ego auf Face­book abzu­holen. Schon kommt der zweite Kommentar: Und was ist eigent­lich mit den Tieren?

Ja, was ist eigent­lich mit den Tieren? An die denkt wieder gar niemand. Die armen bedrohten Elefanten, Pandas, Haie, Meeres­schild­kröten, Baby­robben, Wölfe, Bären, Adler, Tiger, Löwen, Nashörner, Luchse, und Schup­pen­tiere. Für wen soll ich denn jetzt bitte als erstes eine Paten­schaft übernehmen?

Dimitri steht ange­lehnt im Türrahmen und fragt, ob wir auf die Strasse müssten. Dann denken wir gleich­zeitig: Bringt doch eh nichts, wenn wir in der Schweiz auf die Strasse gehen. Das schiebt weder dem Putin sein Gehirn wieder an den rich­tigen Ort, noch werden Tote wieder lebendig. Kinder bekommen ihre Eltern nicht wieder zurück und Eltern werden nicht schneller darüber hinweg­kommen, dass ihre Kinder vor ihnen gestorben sind. Ich umarme Dimitri, weine ihm drama­tisch in den Pulli und wische den Rotz mit meiner Hand weg. Er zieht die Türe hinter sich ins Schloss.

Lea hat gerade einen Artikel gepo­stet. Eine neue Dating-App lässt Tinder alt aussehen. Es reicht offenbar nicht mehr, dass wir einen Menschen aufgrund seines Fotos nach recht oder links wischen. Nein. Da ist noch Luft nach oben. Fuck. Marry. Kill. Kurz: FMK. Da werden mir also drei Fotos von drei verschie­denen Männern gezeigt, die ich der jewei­ligen Kate­gorie zuordnen muss. Welchen will ich ficken, welchen heiraten und welchen töten. Wenn mich ein Mann der genau glei­chen Kate­gorie zuordnet: Match! „You can do that in a fun way“, steht auf der Seite von FMK.

Ich melde mich bei Face­book ab und bezahle dem WWF den Mindest­be­trag von 300 Franken. Ich schütze ab morgen für ein Jahr das Koral­len­dreieck in Südost­asien. Dann geh ich ins Bett.


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