Stell dir vor: Es ist Sommer, es ist schön draussen, du gehst in die Badi. Hose aus, Bikini an, überall nur glückliche Menschen in ausgelassener Ferienstimmung, braungebrannte, gestählte Körper und solche, die es gerne wären. Nach einer Runde im See legst du dich auf dein Badetuch und hältst selig lächelnd die Nase in die Sonne. Fast wie in den Ferien, denkst du dir. Diesen Tag, diesen perfekten Moment, würdest du, ein Kind der digitalen Kultur, gerne auf den Social Media mit deinen FreundInnen und Followern teilen. Also nichts wie los, das iPhone rauskramen und ab auf die Sujetjagd. Der See? Langweilig. Du mit Bier? Gabs schon. Die Möwen? Zu viel Dreck drum rum, und auf Retusche hast du bei 32 Grad im Schatten eh keine Lust.
Doch was ist das? Da stehen doch tatsächlich drei Kinder Raketen schleckend am Seerand, zwei Mädchen und ein Junge, weniger als zwei Meter zu deiner Rechten, lachend, Schoggi und Zuckerkrusten in den Mundwinkeln, das eine Mädchen hat sogar Sommersprossen. Ach, denkst du dir, ach wie diese Kinder doch für diesen perfekten Moment am See stehen, einfach zu schön, um wahr zu sein. Und wie sie in ihr Glaceschlecken und Wasserspritzen vertieft sind! Pittoresk! Das ist der Sommer, denkst du dir! Das ist Glück, das ist Züri!
Du drehst dich also auf den Rücken, stützt die Ellenbogen auf und klick, klick, bisschen Farbausgleich drüber und ab auf Instagram mit „Die drei Glace-Musketiere #Badi“. Ein bisschen Message willst du aber schon auch reinpacken in diesen perfekten Sommermoment, also schreibst du weiter unten, getrennt durch drei Emojis (eine Palme, einen Fisch und einen Kraken, die sind so härzig!): „Schaut sie euch an! Diese Kinder des Sommers! Wie sie dastehen und einfach glücklich sind! Mit so wenig glücklich sind! Da sollten wir uns alle ein Vorbild dran nehmen!“
Du befindest deine kurze Lyrik für gut, schliesslich ist sie konzis, bringt die LeserInnen aber auch zum Nachdenken. Dass deine Mitmenschen am Beispiel dieser drei Kinder, deren Gesichter dein Foto aus nächster Nähe zeigt, deren kaum bekleidete Körper jetzt auf dem Feed deiner rund 324 Follower erscheinen, über das Leben nachdenken sollten, das findest du nämlich schon wichtig. Du drehst dich wieder zurück auf den Rücken, stöpselst deine Kopfhörer ein, legst dir dein Handy auf den Bauch und wartest auf die wohlige Vibration eines hereinkommenden Likes.
Doch die Likes kommen nicht, auch nicht nach 20 Minuten. Du wirst langsam nervös. Stimmt etwas nicht mit dem Foto? Zu überbelichtet? War die Caption zu viel? Doch, da! Das Handy erzittert plötzlich, aber es ist kein rotes Herzchen, das da reinflattert. Stattdessen schreibt dir eine gute Freundin eine Privatnachricht: „Sag mal gehts noch? Nimm das runter, bevor du mit den Eltern Stress bekommst, Alter!“ Komisch, denkst du dir, und dir wird fast etwas unwohl, denn mit Gegenwind, damit hättest du an diesem sonnigen Tag bestimmt nicht gerechnet.
Was dich besonders irritiert: Das Bild von zwei spielenden Buben in Vietnam, vielleicht fünf Jahre alt, die mit weit aufgerissenen Augen einen bunten Ball auf der Strasse hin und her treten, das Bild, das du mit der Caption „Finding joy in the small things“ versehen hast und auf das du mächtig stolz warst (schliesslich hatte ein amerikanischer Reiseblogger dein Bild geliked, geschickten Hashtags sei Dank), das Bild lief doch auch super und das ist gerade mal zwei Monate her. Deine Kollegin, die dir jetzt so vorwurfsvoll schreibt, hatte damals sogar kommentiert: „Oh so süss! Ich war vor zwei Jahr auch in Vietnam, die Menschen dort sind eifach <3.“ Du grübelst, die Kinder auf dem Ferienfoto hatten ja auch nur Hosen an. Seltsam, das Ganze.
Als bis am frühen Abend immer noch nur eine unbefriedigende Anzahl Reaktionen reinkommt, entschliesst du dich, das Bild zu löschen. Schliesslich könnte das rechtliche Konsequenzen haben, meinte die Freundin ja. Stattdessen mache ich morgen einfach einen Repost der lachenden Kinder im vietnamesischen Dorf. Wie die Freude hatten an der Kamera! Und meine Facebook-FreundInnen hatten Freude an den Kindern! Das wird bestimmt besser laufen.
Psst: Noch mehr süsse Kinderfotos gibt es hier.
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