Von Partys, Wasser­wer­fern und Verhältnismässigkeit

Für wen gelten welche Regeln im Lock­down? Wer darf nah zusam­men­stehen, wer nicht? Und vor allem: für wen gibts welche Konse­quenzen? Ein Besuch bei einer Aktion der Klima­ju­gend in Bern zeigt: Verhält­nis­mäs­sig­keit ist ein weiter Begriff. 

„Es ist eine schlechte Zeit für poli­ti­sche Aktionen“, sagt Jonas und drückt den Knopf für die Lift­türe. Wir stehen im Eingangs­be­reich einer Zwischen­nut­zung im Berner Monbijou-Quar­tier. Hinter uns steht ein Kubus mit fancy Schriftzug, der Start-up-Atmo­sphäre verbreitet – wäre nicht alles so verdammt karg hier. Neben dem Klima­streik Bern gibt es nicht viele andere, die im sieben­stöckigen Gebäude Räume mieten.

Jonas führt uns in den Café-Raum im ober­sten Stock. Hier haben sich bereits um acht Uhr morgens mehrere Aktivist*innen einge­funden, um sich auf die Aktion vor dem Expo-Gebäude, wo das Parla­ment zurzeit tagt, vorzu­be­reiten: Sie wollen gegen den Entscheid prote­stieren, die SWISS und Edel­weiss mit 1.275 Milli­arden zu unter­stützen. Mehr als tausend Schilder haben sie dafür zusam­men­ge­tragen, gemalt von Klima­de­mon­strie­renden aus der ganzen Schweiz. Ganz themen­kon­form sind einige sogar mit dem Zug ange­reist – die Schilder, nicht die Demon­strie­renden: „Das war ganz einfach, die Aktivist*innen haben die Schilder zum Beispiel in Zürich in ein Zugab­teil gelegt und wir haben sie dann in Bern entgegen genommen“, sagt die Klima­strei­kende Meret. Sie wird später auf dem Park­platz vor dem Expo-Gebäude von der Kantons­po­lizei in Hand­schellen abge­führt werden.

Kurz vor Abmarsch wird die Aktion noch­mals sorg­fältig bespro­chen, alle tragen Masken, jemand hat auf seine ‚Climate action now‘ geschrieben, auf einem Schrank in der Ecke stehen vier Mega­fone mit Klima­demo-Stickern. Sie werden heute nicht zum Einsatz kommen, diese Protest­ak­tion ist eine stille.

„Es muss in einer funk­tio­nie­renden Demo­kratie trotz Lock­down möglich sein, dass man seine Meinung kundtun darf“

13:15 Uhr, der Vorplatz des Expo-Gebäudes ist noch nass vom starken Regen am Morgen. Ziel­strebig laufen etwa 20 Aktivist*innen mit Gesichts­masken und den nötigen zwei Metern Abstand auf den Platz, drei ziehen einen Leiter­wagen, jemand anders fährt mit dem Velo vor, den Anhänger voll bepackt mit Schil­dern. Jemand rollt ein sieben auf neun Meter grosses Stoff­trans­pa­rent am Boden aus – oder versucht es zumin­dest. Das Expo-Gebäude ist stark bewacht, im Gegen­satz zum Bundes­haus ist hier während den Sessionen verstärkte Poli­zei­prä­senz nötig. Inner­halb weniger Minuten sind die Aktivist*innen von rund 20 Polizist*innen umringt, es wäre eigent­lich eine simple Ange­le­gen­heit: Platz­ver­weis wegen Miss­ach­tung des Versammlungsverbots.

Den Aktivist*innen ist durchaus bewusst, dass sie mit ihrer Aktion gegen dieses Verbot verstossen. Die Aktion ist für sie aber eine doppelt poli­ti­sche: „Es muss in einer funk­tio­nie­renden Demo­kratie trotz Lock­down möglich sein, dass man seine Meinung kundtun darf“, sagte Jonas noch am Morgen im Eingangs­be­reich mit Start-up-Charakter. Aber eben: Es ist eine schlechte Zeit für poli­ti­sche Aktionen.

Wenige Minuten nachdem der Leiter­wagen auf das Gelände rollt, wird ein erster Akti­vist von einem Poli­zi­sten nach kurzem Wort­wechsel an den Schul­tern gepackt und vom Wagen wegge­zerrt. Sicher­heits­ab­stand? Fehl­an­zeige. Einige Meter daneben wird Meret abge­führt – in Hand­schellen. Auf Anfrage von das Lamm schreibt die Kantons­po­lizei Bern, die beiden physi­schen Inter­ven­tionen ohne Sicher­heits­ab­stand seien das „mildeste mögliche Vorgehen“, das zur „Durch­set­zung der geltenden Verord­nung geeignet war“, weil beide Aktivist*innen nicht zum Gespräch bereit gewesen seien. Dadurch sei dem Prinzip der Verhält­nis­mäs­sig­keit Rech­nung getragen worden.

Das Kund­ge­bungs­verbot, auf das sich die Polizei während des Lock­downs bei der Auflö­sung von Demon­stra­tionen neben dem Versamm­lungs­verbot stützt, greift bei der Aktion der Klima­de­mon­strie­renden übri­gens nur bedingt. Genau genommen existiert es gar nicht: Zwar darf der Bund unsere Grund­rechte während einer Notlage einschränken, diese Einschrän­kungen müssen aber geprüft werden. Und zwar nach einem Schema, das die Verfas­sung vorgibt.

Zu diesem Schema gehört die Frage, ob die Einschrän­kung verhält­nis­mässig ist. Im konkreten Fall der Klima­de­mon­strie­renden bedeutet das: Zwar gilt das vom Bund veran­lasste Verbot von Ansamm­lungen von über fünf Menschen im öffent­li­chen Raum. Vor dem Expo-Gebäude zu demon­strieren ist aber eine Form der Kritik und Meinungs­äus­se­rung an einem öffent­li­chen Parla­ment und damit ein verfas­sungs­mäs­siges Recht, kommen­tiert Petar Marja­nović auf Watson.

Bei Pizza hört der Abstand auf

Ein Thema, über das späte­stens seit dem dies­jäh­rigen 1. Mai disku­tiert wird, ist die Verhält­nis­mäs­sig­keit in Corona-Zeiten. Vor dem Expo-Gebäude werden 20 Klima-Demon­strie­rende des Platzes verwiesen, die Polizist*innen berufen sich dabei auf die Covid-19-Verord­nung. Im Gebäude tagen derweil 200 Nationalrät*innen für mehrere Millionen Franken, angeb­lich werden ille­gale Partys gefeiert und beim Pizza-Essen in der Mittags­pause nimmt man es dann auch nicht mehr so genau mit dem Sicherheitsabstand.

Zurück auf den Vorplatz des Expo-Gebäudes. „Wir haben zu wenig Abstand zuein­ander“, zischt Jonas unter seiner Maske hervor, ich mache ein paar Schritte zurück und höre, wie ein Jour­na­list mit Kamera und Badge am Hosen­bund von einem Poli­zi­sten ange­raunt wird:

„Geht bitte nach hinten zur Absper­rung.“
„Warum?“
„Das hier ist poli­zei­li­ches Einsatz­ge­biet.“
„Seit wann dürfen Journalist*innen nicht dabei sein?“
„Geht einfach zur Seite, bitte, Sie auch.“

Damit meint er mich. Ich stelle mich neben den Jour­na­li­sten mit der Kamera, um ein paar Minuten später wieder in den Kreis beor­dert zu werden. Die Journalist*innen stehen nun zusammen mit den Aktivist*innen. Auf Nach­frage heisst es seitens eines Poli­zi­sten: „Wir wollen euch nicht in unserem Rücken haben“. Dann wird der Platz geräumt, die Aktivist*innen marschieren langsam, mit Sicher­heits­ab­stand Rich­tung Tram­hal­te­stelle Expo, auch die Medi­en­schaf­fenden müssen den Platz räumen – obwohl wir die Arbeit der Polizei nicht behin­dert haben.

Aktivist*innen anpacken und in Hand­schellen legen sowie die Pres­se­frei­heit beschneiden, ist für die Kantons­po­lizei Bern mit Verweis auf die Covid-19-Verord­nung also verhält­nis­mässig. Bloss: Das BAG räumt den Polizist*innen bei der Ausfüh­rung der Verord­nung einen Hand­lungs­spiel­raum ein, der auch während des Notrechts gilt, schreibt der Tages-Anzeiger. Wie dieser Hand­lungs­spiel­raum genutzt wird – oder eben nicht – zeigten die Polizist*innen am Dienstag auf dem Vorplatz des Expo-Gebäudes.

Dies, während drinnen die Bundes­prä­si­dentin Simo­netta Somma­ruga sagte: „Meine Damen und Herren, wir haben hier heute gesagt, die Luft­fahrt sei eine kriti­sche Infra­struktur. Die Medien sind es auch – und zwar für die Demo­kratie.“ Zum Vergleich: Am vergan­genen Samstag demon­strierten mehrere hundert ‚Corona-Gegner*innen‘ auf dem Berner Bundes­platz. Die Polizei, dieses Mal immerhin zum Teil mit Masken ausge­stattet, brauchte drei Stunden, um die Demo aufzu­lösen. Dies aller­dings offi­ziell deshalb, weil Risikopatient*innen und Kinder anwe­send waren. Bei der Klima­demo gings um einiges schneller. Viel­leicht nicht weiter erstaun­lich für Behörden, deren Direktor Reto Nauser heute in einem Inter­view mit dem Bund sagte: „Verhält­nis­mässig ist momentan halt, dass nicht immer gleich der Wasser­werfer auffährt.“


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 14 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 988 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Einmal selbst Bulle sein

Personenkontrollen durchführen und mit der Dienstwaffe auf Verdächtige zielen: Im Videospiel Police Simulator: Patrol Officers spielt man Streifenpolizist*in. In seiner Spielkritik zeigt Thomas Spies, wie die Spielgestaltung eine idealisierte Sicht auf die Polizei fördert.

„Der Krieg ist zur Routine geworden“

Vor etwas mehr als einem Jahr hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Die Stadt Charkiw im Nordosten des Landes liegt direkt an der Frontlinie und ist regelmässig Ziel von Raketenangriffen. Das anarchistische Kollektiv Assembly arbeitet vor Ort. Im Interview mit dem Lamm sprechen die Mitglieder über das Leben im Ausnahmezustand, über ihre Politik und die lange anarchistische Tradition in der Ukraine.