„An einen Moment in meiner Kindheit kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich ging mit meiner Mutter nach dem Einkauf an die Konditoreitheke, da sie einen Kuchen abholen wollte, den sie bestellt hatte. Als sie bedient wurde, erklärte sie der Verkäuferin auf Hochdeutsch ihr Anliegen. Die Verkäuferin schien meine Mutter nicht zu verstehen und sie wiederholte sich. Die Verkäuferin verstand sie wieder nicht. Dieses Mal war aber klar, dass sie meine Mutter nicht verstehen wollte. Mir wurde langsam unwohl, da ich merkte, dass die Stimmung gereizt war. Meine Mutter wiederholte sich ein drittes Mal und man konnte das Zittern in ihrer Stimme hören. Die Verkäuferin schnauzte meine Mutter an, dass sie Deutsch sprechen müsse, denn sie verstehe kein Chinesisch. Ich stand neben meiner Mutter und verspürte vor allem Scham. Es war mir unangenehm, dass sich alle Leute zu uns gedreht hatten und uns anstarrten. In diesem Moment wünschte ich mir so sehr, dass meine Mutter einfach Schweizerdeutsch sprechen könnte.“
Bereits als Kind erfährt Melanie antiasiatischen Rassismus. Bei antiasiatischem Rassismus handelt sich um eine spezifische Diskriminierung von als ost- und südostasiatisch gelesenen Menschen. Wenn von Asien gesprochen wird, ist oft Ost- und Südostasien gemeint. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn viele asiatische Menschen machen diese spezifische Rassismuserfahrung nicht. Mani [Gründungsmitglied vom Verein Diversum, Anm. d. Red.] beispielsweise ist als Westasiatin unter anderem von antimuslimischem Rassismus, aber nicht von antiasiatischem Rassismus betroffen. Die Bezeichnung an sich reproduziert so bereits wieder rassistische Stereotype: dass nur bestimmte Asiat:innen „richtige“ Asiat:innen sind.
Melanies Mutter kommt aus Südkorea, doch die eingangs beschriebene Verkäuferin setzt alle Menschen, die sie als asiatisch liest, mit Chines:innen gleich. Dies ist ein häufiges Phänomen von antiasiatischem Rassismus, dass zwischen ost- und südostasiatischen Menschen keine Unterschiede gemacht werden, dass alle Asiat:innen gleich aussehen und die verschiedenen Sprachen, die sie sprechen, nicht zu unterscheiden sind. Dabei werden rassistisch abwertende Begriffe wie „Ching Chang Chong“ verwendet, um sich so über ost-und südostasiatische Menschen lustig zu machen.
Vor einem Monat stürmte im Grossraum Atlanta ein 21-jähriger Mann drei Massagestudios. Dabei erschoss er aus rassistischen Motiven acht Menschen. Sechs von den acht Opfern waren Frauen mit ost- oder südostasiatischer Herkunft. Während die Anschläge in Atlanta aufzeigen, welche gewaltvollen Auswirkungen antiasiatischer Rassismus haben kann, ist der Alltag von vielen als asiatisch gelesenen Menschen in der Schweiz auch von subtileren Formen von Rassismus geprägt. Eine davon ist Exotisierung.
„An einer Party ruhte ich mich für einen kurzen Moment aus. Ein Typ gesellte sich zu mir und wir begannen ein lockeres Gespräch zu führen. Irgendwann wollte er wissen, von wo ich denn ursprünglich sei. Die Frage war mir unangenehm, dennoch beantwortete ich seine Frage, da ich ihn eigentlich sympathisch fand. Als ich ihm sagte, dass meine Mutter Südkoreanerin ist, nickte er begeistert. Er habe es vermutet, da seine Ex-Freundin auch koreanische Wurzeln habe. Ich war etwas irritiert über seine Aussage, trotzdem führte ich das Gespräch mit ihm fort, bis ich mich dann auf die Tanzfläche verabschiedete. Ein paar Wochen später traf ich ihn per Zufall wieder an und seine neue, ebenfalls als asiatisch gelesene Freundin stand neben ihm. Er stellte mich ihr als „andere coole Asiatin“ vor. Ich konnte es gar nicht fassen und seine Freundin und ich sahen uns nur noch verstört an.“
Exotisch bedeutet: aus einem fremden Land stammend, fremdartig wirkend, überseeisch oder ausländisch. Während des Kolonialismus wurden Menschen als „exotisch“ bezeichnet, die aus den europäischen Kolonien stammten. Wenn wir Personen exotisieren, dann machen wir sie immer auch fremd. Asiatische Frauen werden auf eine spezifische Weise exotisiert und sexualisiert. Sie gelten beispielsweise als besonders unterwürfig und ihnen wird ein eigener Wille abgesprochen. Sie werden nicht als Menschen, sondern zum Beispiel als gehorsame Hausfrauen oder als hübsche, schüchterne und devote Accessoires von Männern wahrgenommen.
Asiatische Männer hingegen werden vollkommen desexualisiert. Sie gelten als feminin und unmännlich, da ihnen beispielsweise männliche Attribute wie körperliche Stärke aberkannt werden. Ihnen werden vielfach die Rolle des Mathegenies und des stillen Aussenseiters zugeschrieben.
Antiasiatischer Rassismus in der Schweiz
Die Geschichte des antiasiatischen Rassismus in der Schweiz beginnt nicht erst mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Seither nimmt diese Form des Rassismus einfach stetig zu, wird etwas sichtbarer und auch innerhalb der weissen Mehrheitsgesellschaft öfters thematisiert als zuvor.
Der Ursprung der Stereotype und Vorurteile, die heute über Asiat:innen existieren, lässt sich bis ins Europa des 13. Jahrhunderts zurückverfolgen.
Auch in der Schweiz lässt sich zeigen, dass antiasiatischer Rassismus kein neues Phänomen ist. 1960 wurde etwa die erste Gruppe von Tibeter:innen, welche aufgrund eines blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes hatte flüchten müssen, in der Schweiz aufgenommen. Tibeter:innen wurde als „angepasstes Bergvolk“ verhandelt und deren Aufnahme bis weit ins rechte Lager des Parteienspektrums unterstützt. (Schmidt, Christian (2009). „Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht. 12 Lebensgeschichten.“) Als die Schweiz zwischen 1978 und 1982 rund 10 000 vietnamesische Flüchtlinge aufnahm, veranlasste der Bundesrat, dass diese im ganzen Land verteilt werden, damit sich keine Ghettos bilden würden, die zu einer Zunahme rassistisch motivierter Übergriffe hätten führen können.
Dies, obwohl ost- und südostasiatische Menschen nach wie vor oft als „Vorzeigemigrant:innen“ bezeichnet werden. Ihnen wird zugeschrieben, dass sie zurückhaltend, arbeitsam und leistungsbereit seien. Diese Stereotype und Vorurteile sind wirkmächtig und beeinflussen, wie asiatische Menschen gesehen werden. Aber sie prägen auch ihr Selbstbild. So fällt es Melanie noch heute schwer, für sich einzustehen, da sie unter anderem internalisiert hat, möglichst unauffällig zu sein. Bereits als Kind lernte sie sich dafür zu schämen, dass ihre Mutter kein Deutsch spricht, statt auf die offensichtlich rassistische Verkäuferin wütend zu werden.
Auch ihre Mutter hat Melanie beigebracht, auf rassistische Aussagen mit Verständnis zu reagieren. Wenn die Kinder im Kindergarten mit ihren Fingern die Augen in die Länge zogen und sie als „Schlitzauge“ beschimpften und Melanie das Erlebte anschliessend unter Tränen ihrer Mutter erzählte, meinte diese nur: „Du hast halt einfach solche Augen.“ Heute weiss Melanie, dass ihre Mutter versucht hat, sie durch diese Verharmlosung zu schützen. Die Verletzungen, welche rassistische Taten auslösen, lassen sich durch Verharmlosung aber nicht rückgängig machen. Heute benennt Melanie den Rassismus, den sie erfährt, weil sie überzeugt ist, dass wir ihn nur so überwinden können.
Eigene Vorurteile hinterfragen
Dass dies unbedingt notwendig ist, beweist die massive Zunahme von rassistischen Vorfällen gegenüber als asiatisch gelesenen Menschen. In Deutschland belegen Daten eine Zunahme von Angriffen gegen als asiatisch gelesenen Menschen – ausgelöst durch die Coronakrise. Dafür haben Wissenschaftler:innen unter anderem von der Humboldt-Universität zu Berlin zwischen Juli und Dezember vergangenen Jahres 700 Menschen befragt, die als asiatisch gelesen werden. Der Studie nach gaben 49 Prozent der Befragten an, die Diskriminierung gegen sie habe zugenommen. 62 Prozent von ihnen hätten verbale Angriffe erlebt, elf Prozent körperliche.
Ein Grund dafür sei die mediale Berichterstattung in der Pandemie, heisst es in der Studie. Diese sei nämlich „vielfach klischeebeladen und stereotyp“ und nehme Schuldzuweisungen vor. Das Coronavirus ist ein biologisch-medizinisches Phänomen, doch es wird in der öffentlichen Wahrnehmung häufig mit China in Verbindung gebracht. So sprach der ehemalige US-Präsident Donald Trump immer wieder vom „chinesischen Virus“. Für die Schweiz fehlen entsprechende Zahlen, doch es ist anzunehmen, dass die Situation auch hier ähnlich ist.
Um antiasiatischen Rassismus zu bekämpfen, müssen wir uns zuerst mit unseren eigenen Stereotypen und Vorurteilen auseinandersetzen. Wir alle sind davon beeinflusst, welche Narrative seit Hunderten von Jahren über ost- und südostasiatische Menschen verbreitet werden. So können wir verstehen, welchen Einfluss diese Narrative auf unsere persönliche Haltung und Einschätzung gegenüber ost- und südasiatischen Menschen haben. Mit diesem Bewusstsein fällt es uns leichter, Menschen nicht in unsere vorgefertigten Kategorien einfügen zu müssen.