Die Zuschauer:innen im Zelt verstummen, als die sieben Delegierten der zapatistischen Schwadron 421 (Escuadrón 421) vorne Platz nehmen. Das Ereignis ist geschichtsträchtig, denn vor genau 500 Jahren begann die blutige Unterjochung der ursprünglichen Hochkulturen Mexikos unter Hernán Cortés. Dies nahm die revolutionäre Gruppierung zum Anlass, den Spiess umzudrehen und ihrerseits in einem symbolischen Feldzug Europa zu „erobern“.
Doch statt Feuerwaffen und christlicher Kreuze, wie sie die Spanier:innen mit sich führten, bringen die Zapatistas offene Ohren und Erfahrungsberichte aus ihrem eigenen Kampf um Autonomie in Mexiko nach Europa. Sie seien nicht gekommen, um Lösungen zu präsentieren, sondern um Genoss:innen im Kampf gegen den Kapitalismus und für ein würdevolles Leben zu finden, so die Mitglieder der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN in Basel.
Daher nennen sie ihre Überfahrt nach Europa „die Reise für das Leben“. Auf dem Weg solidarisieren sie sich in Montreuil mit der Sans-Papiers-Bewegung, nehmen im besetzten Gelände ZAD (zone à défendre) bei Nantes an einem Treffen von Frauen und trans, inter und nicht-binären Personen teil und tauschen sich in Basel mit Aktivist:innen aus Kurdistan und Sri Lanka aus.
Die Anfänge
Die Zapatistas auf dem Basler Camp beginnen mit einem Vortrag über das Leid ihrer Ahnen, das sie zu ihrem Widerstand angetrieben habe. Sie berichten davon, wie ihre Grosseltern und Eltern auf dem Feld und im Haus der Grossgrundbesitzer:innen ohne geregelte Arbeitszeiten schufteten. Wenn die Arbeit eines Mannes oder Kindes die Vorgesetzten nicht zufriedenstellte, wurden sie mit einem Stierpenis ausgepeitscht. Die Frauen wurden zur Strafe vor den Augen ihrer Ehemänner, die man in einem Netz aufgehängt hatte, vergewaltigt. Wenn ein junger Mann heiraten wollte, hatten Grossgrundbesitzer:innen das Recht, die Verlobte davor über Wochen zu vergewaltigen. Wenn jemand krank wurde, gab es kaum medizinische Versorgung.
„Die Tiere haben sie besser behandelt als uns“, bemerkt eine Zapatistin. Trauer und Wut über diese Untaten stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Unter den Zuschauer:innen herrscht betroffenes Schweigen.
1983 schlossen sich fünf Männer und eine Frau aus verschiedenen Regionen Mexikos im lakandonischen Regenwald zusammen, um eine Guerilla aufzubauen. Die Region zählt zu den marginalisiertesten des Landes und hat den höchsten Anteil indigener Bewohnender, die hauptsächlich als Kleinbäuer:innen tätig sind.
Die Aktivist:innen in Basel berichten, wie die ersten Zapatistas als Lehrpersonen oder Ölbohr-Personal getarnt in den Dörfern vertrauenswürdige Personen rekrutierten. In nächtlichen Geheimaktionen wurden Nahrungsmittel in die Berge getragen, um die dort versteckten Widerstandskämpfer:innen während ihrer militärischen Ausbildung zu versorgen. So wurde die Organisation über ein Jahrzehnt hinweg im Geheimen aufgebaut.
Als Abtrünnige schliesslich die Regierung über die geheimen Aktivitäten informierte und das EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) bedrohten, organisierten die Zapatistas im Januar 1994 den bis heute bekannten bewaffneten Aufstand im Bundesstaat Chiapas. Nicht zufällig fand er am selben Tag statt, an dem das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada in Kraft trat.
Zwei Jahre zuvor hatte man zu dessen Vorbereitung in Mexiko einen Verfassungsartikel abgeschafft, sodass der Agrarsektor keine staatliche Hilfe mehr erhielt und kommunales Land privatisiert wurde, was die Lebensgrundlage vieler Kleinbäuer:innen akut bedrohte.
Nach zweijährigen Verhandlungen zwischen dem EZLN und der mexikanischen Regierung wurden im Abkommen von San Andrés 1996 Rechte der indigenen Bevölkerung festgehalten. Die mangelhafte Umsetzung des Abkommens kritisieren die Zapatistas jedoch bis heute. Mit ihrem Kampf sehen sie sich in einer langen Tradition, die mit dem Widerstand gegen Cortés begann: „Wir blicken nicht nur auf 500 Jahre Unterdrückung und Leid zurück, sondern auch auf 500 Jahre Widerstand. Denn der Widerstand war immer präsent und er ist es bis heute“, resümiert ein Zapatist.
Das zapatistische Selbstverständnis
In mehreren Kommuniqués betont das EZLN, dass es sich als heterogene Gruppierung versteht. Dies zeigt sich im Escuadrón 421 an der Geschlechterdurchmischung genauso wie an den Altersunterschieden der Mitglieder, die zwischen 19 und 57 Jahren alt sind, und den verhandelten Diskursen. Die Schwadron setzt sich zusammen aus vier Frauen, die in indigenen Trachten auftreten, zwei Männern in Jeans und T‑Shirts und einer extravagant gekleideten, geschminkten otroa, was laut Kommuniqué eine Sammelbezeichnung der Zapatistas für alle Gender ist, die „weder Frau noch Mann sind“.
Alle stammen ursprünglich von der präkolumbischen Ethnie der Maya ab. Durch die unterschiedliche regionale Herkunft sprechen sie Tzotzil, Tzeltal, Cho’ol oder Tojolabal, weshalb sie untereinander auf Spanisch kommunizieren. Ihre Kämpfe beschreiben sie als divers: Naturschutz würden sie etwa betreiben, indem sie gänzlich auf den Einsatz von Chemikalien verzichten; Frauenrechte sind im revolutionären Frauengesetz (ley revolucionaria de las mujeres) festgehalten und öffentliche Ämter unterliegen einer Frauenquote von 50 Prozent; Drogenkonsum ist gänzlich verboten und bedeutet den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Insbesondere die Fortschritte der zapatistischen Frauenbewegung bejubelt das Camp-Publikum lautstark.
Trotz aller Heterogenität sind die Revolutionär:innen durch einige festgeschriebenen Grundsätze vereint. Einer davon fordert die Gleichberechtigung aller Mitglieder. Symbolisch kam dies an den Basler Aktionstagen dadurch zum Ausdruck, dass alle Genoss:innen über die gleiche Redezeit verfügten. Der basisdemokratische Gedanke zeigt sich darin, dass öffentliche Personen nur eine repräsentative Funktion einnehmen können, die von der Mehrheit der Bevölkerung inhaltlich legitimiert werden muss. So äusserte sich die zapatistische Delegation in Europa erstmals in Basel öffentlich, weil sie vorher nicht von ihrer Gemeinschaft dazu autorisiert war. Auch der Inhalt der Reden war von der Gemeinschaft vorbestimmt.
Für die Zapatistas ausserdem von grosser Bedeutung ist der Erhalt von Kultur, indigenen Sprachen, Kunsthandwerk und Traditionen. Organisiert sind sie in Rätestrukturen und Kollektiven, wobei jegliche Einnahmen für die Gemeinschaft und in Absprache mit der Bevölkerung eingesetzt werden. In ihren autonomen Regionen verfügen sie mittlerweile über ein eigenes Bildungs- und Gesundheitssystem.
Aktuelle Problematiken
„Der Klassenkampf, der Widerstand gegen Grosskonzerne, der Kampf um die Anerkennung und Gleichberechtigung sowie das Recht auf Land“ seien Themen, welche den diversen Aktivismus indigener Gruppen in Lateinamerika verbinden, so eine Koordinatorin des Camps in Basel. Aktuell widersetzen sich beispielsweise verschiedenste indigene Organisationen, darunter auch das EZLN, einem Schienenbauprojekt des mexikanischen Präsidenten López Obrador, das ihre Gebiete durchkreuzt und die Natur zerstört. Eine Genossin des Escuadrón 421 kritisierte auch, dass der durch die Bildungsdirektion festgelegte, über ein Jahr dauernde Fernunterricht in Mexiko während der Pandemie grosse Teile indigener Bevölkerungsschichten vollständig von der Bildung ausgeschlossen habe.
Die kritische Selbstreflexion, die ebenfalls zu den Grundsätzen der Zapatistas gehört, wird in den Reden in Basel mehrfach deutlich. So verurteilen sie Diebstahl und Korruption in den eigenen Reihen und benennen gesellschaftspolitische Probleme. Zum Beispiel, dass manche Frauen nach der Heirat ihre Ämter aufgeben, um einem patriarchalen Rollenbild gerecht zu werden.
Ein externes Problem seien Schlepper, welche die autonome Region dazu nutzen, Papierlose für viel Geld durch Mexiko zu schleusen. Ebenso sind die Zapatistas von gewaltsamen Landräumungen und Vertreibungen, von Angriffen des Paramilitärs sowie Entführungen und Mordanschlägen der Organisierten Kriminalität in Mexiko betroffen. Die Europareise widmen sie daher den verschwundenen und ermordeten Menschen und deren Angehörigen.
Internationale Zusammenarbeit
Die Zapatistas finanzieren sich teilweise durch den Verkauf von Kunsthandwerk oder Kaffee. In der Schweiz hat mittlerweile der biologische Kaffee RebelDía grosse Bekanntheit erlangt. Er wird von Zapatistas produziert, die für ihre Arbeit fair entlohnt werden. Auch am Camp loben die Rebell:innen die internationale Zusammenarbeit. Das Problem sei nur, dass manchmal Gelder für einen vorbestimmten Zweck gespendet würden, ohne dass man sie gefragt habe, wofür sie eigentlich Unterstützung bräuchten. Im Aktionszelt in Basel werden daraufhin neue Ideen für solidarische Projekte diskutiert.
Neben den sieben Schiffsreisenden hätte gleichzeitig eine Delegation von 177 zapatistischen Widerstandskämpfer:innen mit dem Flugzeug einreisen sollen. Ihnen wurden jedoch, so der zapatistische Koordinator der Europareise Insurgente Moisés, von unterschiedlichen Ämtern Steine in den Weg gelegt. Etwa wurden 62 Reisepässe nicht ausgestellt, obwohl die Individuen ihre Identität und Herkunft belegt hätten. Die gemeinnützige Organisation aus der Schweiz Direkte Solidarität mit Chiapas berichtet zudem, dass die Covid-Zertifikate der Zapatistas von Frankreich nicht anerkannt wurden.
Im jüngsten Kommuniqué bestätigt der Subkommandant Insurgente Moisés, dass die besagte Flotte am 13. September in zwei Gruppen nach Wien fliegen wird. Dort würden sie sich in 28 kleine Gruppen unterteilen, um „simultan 28 europäische Standorte abdecken zu können“. Eingeladen sind sie von 30 Ländern.
Die zapatistische Flugdelegation nennt sich nach dem Stempel in ihren Reisepässen „extemporánea“. Es handelt sich dabei um eine Fremdbezeichnung durch den mexikanischen Staat, die mit „Unzeitgemässe“ übersetzt werden kann. Im Kommuniqué kommentiert Insurgente Moisés sarkastisch, sie seien glücklich, dass die Regierung endlich eine Bezeichnung für die indigene Bevölkerung gefunden habe. Die Bitte des mexikanischen Präsidenten López Obrador an Spanien von 2019, sich für die Verbrechen der Conquista zu entschuldigen, sei in Wahrheit die Entschuldigung dafür, sie nicht vollständig ausgelöscht zu haben.
Die Rede der Zapatistas in Basel schliesst mit einer spontanen Son-Jarocho-Einlage des Kollektivs Barfuss, in der sie die Vorbildfunktion der Zapatistas besingen. Trotz spürbarer Betroffenheit durch die eindrücklichen Berichte der Delegation macht sich unter den Besucher:innen festliche Aufbruchstimmung breit, ganz im Sinne der zapatistischen Parole „otro mundo es posible“ – eine andere Welt ist möglich.
Eine Koordinatorin des Camps hält fest: „Ich denke, ein zentrales Ziel der Zapatistas ist, uns wachzurütteln und uns untereinander zu vernetzen. Es geht nicht darum, ihre Strukturen zu übernehmen, sondern uns kritisch zu hinterfragen, welchen Kampf wir in unserem persönlichen Umfeld führen, auf welche Art und Weise wir dies tun und welche Möglichkeiten uns offenstehen. Für mich persönlich gesprochen habe ich durch die Mitorganisation des Camps viele Internationalist:innen unterschiedlicher Widerstandskämpfe in verschiedenen Regionen kennengelernt. Ich bin nun vernetzter und möchte diese Verbindungen in Zukunft fruchtbar machen.“
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