Alles gelogen: die Worte einer Frau

Frauen als noto­ri­sche Lügne­rinnen zu bezeichnen, ist eine histo­ri­sche Waffe des Patri­ar­chats. Das zeigt der Fall Amber Heard und Johnny Depp exem­pla­risch. Eine Analyse und Wutschrift. 
John Christopher Depp: Seine Fans verehren ihn wie einen Heiligen. (Illustration: Luca Mondgenast)

Ab wann sind unge­naue Erin­ne­rungen Lügen?

Mein jüng­ster Sohn ist noch ein Klein­kind, als ich ihn im Herbst 2018 mit der Hand in der Wasch­pul­ver­packung erwi­sche. Aus seinem kleinen Mund quillt das weisse Pulver. Ich nehme ihn auf den Arm und google: „Mein Klein­kind hat gerade Wasch­pulver gegessen – was soll ich tun?“ Dann rufe ich bei der Gift-Hotline an und wir gehen in die nächste Notaufnahme.

Ich infor­miere die Kran­ken­haus­an­ge­stellten, dass ich unsi­cher bin, wie viel Wasch­pulver mein Kind geschluckt hat. Und wann genau habe ich ihn eigent­lich entdeckt? Immerhin kann ich den Ange­stellten sagen, welche Marke es war: Weißer Riese. Das Arzt­per­sonal gibt meinem Sohn eine Spritze.

Das Ganze ist nun lange her, und wenn ich schon damals nicht alle Details parat hatte, bin ich mir heute erst recht unsi­cher. War es wirk­lich Herbst oder doch eher Spät­sommer? Habe ich die Gift-Hotline oder viel­leicht einfach 112 ange­rufen? Ich weiss nicht mal mehr, ob am anderen Ende der Leitung eine Frau oder ein Mann war. Und war es viel­leicht doch Wasch­mittel von Ariel? Ich weiss es einfach nicht mehr.

Das mensch­liche Gedächtnis und die lügenden Huren

Aber weshalb sind manche Details nach so langer Zeit ein biss­chen verschwommen? Liegt es daran, dass ich – wie es Amber Heard bis heute vorge­worfen wird – eine lügende Hure bin? Oder ist das mögli­cher­weise einfach die Art, wie das mensch­liche Gehirn funktioniert?

Im Früh­jahr 2022 kam es zu einem sechs­wö­chigen Prozess zwischen den beiden Holly­wood Schauspieler*innen und Ex-Eheleuten Amber Heard und Johnny Depp. Beide warfen sich unter anderem sexua­li­sierte Gewalt vor.

Der Prozess ging auf eine Klage von Depp aus dem März 2019 gegen seine Ex-Ehefrau zurück. Grund dafür war ein Gast­bei­trag von Heard in der Washington Post, den sie 2018 veröf­fent­licht hatte. Darin behaup­tete sie, Opfer von häus­li­cher Gewalt gewesen zu sein. Ihr Ex-Mann wurde in dem Beitrag nicht nament­lich erwähnt.

Laut Depp habe der Artikel dennoch seine Karriere ruiniert, seinen Ruf geschä­digt und ihn dadurch viel Geld geko­stet. Der Schau­spieler verlangte wegen Verleum­dung rund 50 Millionen Dollar Schadenersatz.

Heard wiederum sah durch Depps Anschul­di­gungen ihre Repu­ta­tion beschä­digt und reichte Gegen­klage unter anderem wegen Verleum­dung gegen ihren Ex-Mann ein. Darin forderte sie rund 100 Millionen Dollar Schadenersatz.

Beide Klagen wurden vor dem Geschwo­re­nen­ge­richt in Fairfax im ameri­ka­ni­schen Glied­staat Virginia ab dem 12. April 2022 verhandelt.

Zum Schluss des Prozesses stellte sich die Jury mehr­heit­lich auf die Seite von Johnny Depp, der so den Prozess gewann. Wegen Verleum­dung musste Amber Heard ihrem Ex-Mann nun über zehn Millionen Dollar Scha­den­er­satz zahlen, entschied das Gericht. Depp wiederum schul­dete seiner Ex-Frau nach Entschei­dung der Jury zwei Millionen Dollar.

Der Prozess wurde während der ganzen Wochen bis ins kleinste Detail von den Medien live mitver­folgt. Er gilt in seiner Dimen­sion als einmalig für seine Zeit.

Manche Details bleiben, manche schwimmen weg. So funk­tio­niert das Gedächtnis. Gerade wenn ein Erlebnis traurig, beäng­sti­gend oder gar trau­ma­ti­sie­rend war: Das Gehirn vergisst, um uns zu beschützen.

Mit Lügen hat das aber nichts zu tun.

„Die hat doch einfach gelogen!“, sagte meine lang­jäh­rige Freundin Katja mit sicherer Stimme, als wir vor einem Jahr über den hoch­ak­tu­ellen Fall Amber Heard und Johnny Depp spra­chen. Katja und ich lernten uns bei der Geburt unserer Kinder kennen. Wir sind femi­ni­sti­sche, sozia­li­sti­sche Spiel­platz­freun­dinnen. Ich mag sie sehr. Ich würde sogar behaupten, dass diese Aussage von ihr das Erste aus ihrem Mund war, das ich für wirk­lich dumm und falsch hielt.

„Die hat immer wieder gelogen. Sie log und log und log. Die ganze Zeit hat sie nur gelogen!“, spru­delte es weiter aus Katja heraus. „Sie hat echten Opfern von häus­li­cher und sexua­li­sierter Gewalt mit ihren Lügen so sehr geschadet. Es ist grau­en­voll, was sie den echten Opfern damit angetan hat.“

Der Hass, den die Gesell­schaft für Heard empfindet, ist uralt und gleich­zeitig hoch aktuell.

„Worüber hat sie denn gelogen?“, fragte ich und versuchte, ruhig zu bleiben. Am lieb­sten hätte ich gekotzt. Dieses Bedürfnis über­kommt mich immer wieder, seit der Schau­spieler John Chri­sto­pher Depp seine Ex-Frau Amber Heard gezwungen hat, eine live Zeugen­aus­sage über ihre Verge­wal­ti­gung und sexu­elle Nöti­gung durch ihn selbst vor Kameras abzulegen.

„Alles, was aus ihrem Mund kam, war eine glatte Lüge!“, wieder­holte meine Freundin.

Der Fall Johnny Depp und Amber Heard

Um den Fall von Heard und Depp verstehen zu können, müssen wir in die Vergan­gen­heit blicken.

Im Jahr 2009, als Amber Heard erst 22 Jahre alt war, lernte sie den Schau­spieler John Chri­sto­pher Depp kennen, der von der ganzen Welt nur „Johnny Depp“ genannt wird, als wäre er ein Klein­kind oder einer unserer Freunde. Sie lernten sich am Set des Films „The Rum Diary“ kennen. Als einer der Produ­zenten des Films war er genau genommen ihr Chef. Und drei­und­zwanzig Jahre älter als sie.

Zwei, drei Jahre später fingen die beiden an, sich zu daten. Noch mal drei Jahre später heira­teten sie. Doch ihre Bezie­hung war offen­sicht­lich sehr toxisch und von Gewalt und Dramen geprägt – und hielt nicht lange. Ein gutes Jahr später, am 23. Mai 2016, reichte Heard die Schei­dung ein.

Vier Tage später erwirkte sie eine einst­wei­lige Verfü­gung, weil Depp sie körper­lich miss­han­delt habe.

Jacinta Nandi ist die selbst ernannte schlech­teste Haus­frau der Welt, Expats­plai­ne­rin/­Berlin-Expertin und Deutsch­lands berühm­teste Amber-Heard-Vertei­di­gerin. Sie will, dass alle Frauen in Deutsch­land, der Schweiz, Öster­reich und der Welt ihre nutz­losen Männer verlassen. Wie man das macht, beschreibt sie in ihrem neusten Buch „50 Ways to leave your Ehemann“, dem Nach­fol­ge­werk von „Die schlech­teste Haus­frau der Welt: Ein Erfah­rungs­be­richt und Mani­fest“. Beide erschienen als Flug­schrift im Verlag Nautilus. Jacinta Nandi sagt ausserdem: Boycott Lidl – und jetzt leider auch Vodafone!

Trotzdem liess sich Heard auf die Verein­ba­rung ein, dass beide Seiten nicht schlecht über einander spre­chen sollten. Depp brach diese Verein­ba­rung jedoch im Oktober 2018, indem er in einem sehr verbit­terten und wütenden Inter­view seine Verach­tung gegen­über Amber Heard offen zum Ausdruck brachte.

Eine sehr inter­es­sante Aussage Depps daraus lautet: „Warum hat diese Person [Amber Heard] nicht mit der Polizei gespro­chen? […] Ich meine, sie hat mit der Polizei gespro­chen, aber die Polizei hat nichts gesehen. […] Ich weiss nicht, ob es am näch­sten Tag oder ein paar Tage später war, aber dann war da ein blauer Fleck. Da war ein roter Fleck und dann war da ein brauner Bluterguss.“

Depp unter­stellt seiner Ex-Frau in diesem Inter­view, seine Über­griffe an ihr erfunden zu haben. Wie der Jour­na­list, der das Inter­view verfasst hat, daraufhin tref­fend schrieb: „Die Behaup­tung, dass eine Frau, ein Mann oder irgend­je­mand eine so schwer­wie­gende Anschul­di­gung erfunden haben könnte, ist eine äusserst gefähr­liche und schäd­liche Sache.“

Der Zorn unserer Kultur

Im Dezember 2018, Monate nachdem Depp die Verein­ba­rung gebro­chen hatte, seine Ex-Frau nicht zu verun­glimpfen, veröf­fent­lichte Amber Heard einen Meinungs­ar­tikel in der Washington Post. Sie erwähnte weder John Depp nament­lich noch bezeich­nete sie sich in dem besagten Artikel als Opfer sexua­li­sierter Gewalt.

John Depp verklagte daraufhin seine Ex-Frau wegen Verleum­dung. Im Juni 2022 gaben die Geschwo­renen in Fairfax, Virginia, Depp Recht und befanden drei Sätze des Meinungs­ar­ti­kels von Heard als diffa­mie­rend. Diese Sätze seien unwahr und ausserdem in böswil­liger Absicht geschrieben worden.

Nach einem sechs­wö­chigen Prozess verur­teilte das Gericht in Virginia Heard zur Zahlung von 10 Millionen Dollar Schadensersatz.

Dabei könnten die drei Sätze von Heard nicht wahrer sein. Trotzdem wurde sie dafür verur­teilt – oder viel­leicht genau deswegen.

Aber für welche drei Sätze wurde Amber Heard eigent­lich belangt?

Ich habe mich gegen sexu­elle Gewalt ausge­spro­chen – und den Zorn unserer Kultur auf mich gezogen. Das muss sich ändern.

Das war die Schlag­zeile, die Heard nicht einmal selbst verfasst hatte.

Wie kann Heard für einen Satz haftbar gemacht werden, den sie nicht selbst geschrieben hat? Die Geschwo­renen in Fairfax argu­men­tierten wie folgt: Da Heard diesen Artikel später getweeted hatte, habe sie sich die Worte aus der Über­schrift zueigen gemacht und sei für die Aussage verantwortlich.

Der zweite Satz, für den Heard verur­teilt wurde, lautete wie folgt:

„Dann wurde ich vor zwei Jahren zu einer öffent­li­chen Figur, die für häus­liche Gewalt steht, und ich bekam die ganze Wucht des Zorns unserer Kultur auf Frauen zu spüren, die ihre Meinung sagen.

    Diese Aussage ist absolut vernünftig, völlig fair und sollte eigent­lich für jeden, der Miss­brauch für ein Problem in unserer Gesell­schaft hält, völlig unpro­ble­ma­tisch sein. Er ist auch objektiv wahr, was zu diesem Zeit­punkt öffent­lich bekannt war.

    Das einzig merk­wür­dige an diesem Satz ist viel­leicht, dass Amber Heard, obwohl sie schon damals eine über­zeugte Femi­ni­stin war, total unter­schätzt hat, wie stark der Zorn unserer Kultur wirk­lich sein kann.

    Und der dritte Satz erwies sich ironi­scher­weise durch die Entschei­dung der Jury als wahrer denn je: 

    „Ich hatte die seltene Gele­gen­heit, in Echt­zeit mitzu­er­leben, wie Insti­tu­tionen Männer schützen, die des Miss­brauchs beschul­digt werden.“

    Na ja, jetzt ist diese Gele­gen­heit nicht mehr so selten, liebe Amber. Wir haben bei dem monströsen Gerichts­pro­zess alle zuge­guckt und sahen ganz genau, wie staat­liche Insti­tu­tionen einen Mann schützen, der des Miss­brauchs beschul­digt wird. Und das Gericht in Virginia hat uns gezeigt, dass sich manche Insti­tu­tionen dabei so richtig ins Zeug legen.

    Amber Heard hat sich gegen sexua­li­sierte Gewalt ausge­spro­chen – und den Zorn unserer Kultur auf sich gezogen.

    Was auf diesen Meinungs­ar­tikel folgte, der Depp mit keinem Wort persön­lich erwähnte, glich einem Albtraum. Am Prozesstag ging Amber Heard durch das Gerichts­ge­bäude, vorbei an Demonstrant*innen, die sie anschrien und als Lügnerin und Hure belei­digten. Sie verdiene das alles, und solle getötet und lebendig verbrannt werden.

    Dann betrat Amber Heard einen Gerichts­saal, in dem die Rich­terin es ihrem Ex-Mann erlaubte, sich lachend und scher­zend durch den Prozess zu bewegen. Heard musste ihren Prozess an einem Ort führen, an dem die Gerichts­ste­no­grafin offen zugab, total in Depp verknallt zu sein. Sie musste zuhören, als Depps Anwalt ihr vorwarf, über die Verge­wal­ti­gung zu lügen, weil sie danach keine Fotos von ihrer blutenden Vagina gemacht habe.

    Amber Heard hat sich gegen sexua­li­sierte Gewalt ausge­spro­chen – und den Zorn unserer Kultur auf sich gezogen. Das ist, wie jede Inter­net­re­cherche zeigen wird, objektiv wahr.

    Seit sie die Schei­dung einge­reicht und eine einst­wei­lige Verfü­gung erwirkt hat, ist das Internet voll mit Hass­kom­men­taren von Depp-Fans (und, das muss man leider sagen, der Öffent­lich­keit im Allge­meinen), die Heard vorwerfen, eine Lügnerin, eine Hure – ja, eine verlo­gene Hure – zu sein.

    Dabei könnten die drei Sätze von Heard nicht wahrer sein. Trotzdem wurde sie dafür verur­teilt – oder viel­leicht genau deswegen.

    Worüber könnte sie sonst noch lügen?

    „Sie hat gelogen und gelogen und gelogen und gelogen!“, sagt meine Freundin Katja. „Sie hat über alles gelogen. Sogar über Dinge, von denen man denkt, dass sie nicht so wichtig sind. Sie behaup­tete, sie hätte eine Make-up-Palette von Milani benutzt, die noch gar nicht auf dem Markt war. Sie sagte, sie hätte Geld für wohl­tä­tige Zwecke gespendet, dabei hatte sie gar nichts gespendet! Sie sagte sogar, sie könne nicht Gitarre spielen – und was taucht auf? Ein Video, auf dem sie Gitarre spielt!“

    Sie hat gelogen und gelogen und gelogen und gelogen. Die Vorstel­lung, dass Heard über alles gelogen hat, ist unfassbar tief in der Heard-Depp-Geschichte verwurzelt.

    Selbst wenn Heard sich beim Namen der Make-up-Palette geirrt hätte, wäre es keine Lüge gewesen. Aber das hat sie nicht mal. Tatsäch­lich waren ihre genauen Worte vor Gericht im Kreuz­verhör: „Das ist es, wovon ich spreche, ein Farb­kor­rek­turset. Das ist natür­lich nicht genau das, das ich immer dabei hatte. Aber ich hatte immer eines bei mir.“

    Das Gericht und die breite Öffent­lich­keit entschieden sich also weiterhin dagegen, Heard zu glauben. Während­dessen bemühte sich Milani darum, von der frau­en­feind­li­chen Hass­kam­pagne gegen Heard auch noch zu profi­tieren. Die Kosme­tik­firma veröf­fent­lichte ein süsses, lustiges TikTok-Video, in dem Amber Heard als doppel­zün­gige Lügnerin darge­stellt wird.

    Die Vorstel­lung, dass Heard über alles gelogen hat, ist unfassbar tief in der Heard-Depp-Geschichte verwurzelt.

    Die rest­li­chen Vorwürfe gegen Heard über­treffen die Sache mit Milani sogar noch. So wurde Heard vorge­worfen, kein Geld an wohl­tä­tige Zwecke gespendet zu haben, obwohl sie das verspro­chen habe. Tatsäch­lich versprach Heard, 7 Millionen Dollar zu spenden, aber verpflich­tete sich dabei, den Betrag in Raten zu zahlen. Das ist ein gängiger Vorgang, wenn man grosse Summen für gute Zwecke spendet.

    Und was ist mit der Gitarre? Als Beweis dafür, dass Heard eine abscheu­liche Lügnerin, eine verlo­gene Hure und eine rundum unehr­liche Person sei, wird oft ange­führt, sie habe gelogen, als sie vor Gericht behaup­tete, nicht Gitarre spielen zu können.

    Die Beweise für diese Anschul­di­gung? Ein Clip, in dem die junge Schau­spie­lerin in einem Film so tut, als würde sie Gitarre spielen. In einem der vielen, vielen klick­starken Youtube-Videos, in denen Amber als Lügnerin „entlarvt“ wurde, stand als erster Kommentar zu dem Video folgender Satz: „Wow, wenn sie darüber lügen kann, worüber könnte sie sonst noch lügen?“

    Verstüm­me­lungs­fan­ta­sien als lustiger Spruch

    Heards Worten und Aussagen wird sofort miss­traut. Winzige Unge­reimt­heiten werden als absicht­liche Lügen dekla­riert, und diese vermeint­li­chen Lügen werden als „Beweis“ dafür herbei­ge­zogen, dass sie ihren Ex-Mann Johnny Depp fälsch­li­cher­weise als Gewalt­täter bezich­tigt und ihn gar selbst miss­braucht habe.

    Doch Depps Worte, seine para­no­iden Fanta­sien, seine bitteren, rach­süch­tigen, frau­en­feind­li­chen Wahn­vor­stel­lungen werden in der Öffent­lich­keit sofort zur allein gültigen Wahr­heit deklariert.

    Wenn man Depp so beur­teilen würde, wie man Heard beur­teilt, müsste man seine gesamte Vertei­di­gung als glatte Lüge bezeichnen. Ein Beispiel: In Text­nach­richten an eine Freundin fanta­sierte er davon, Heard zu ertränken, zu verbrennen und dann ihre verbrannte Leiche zu verge­wal­tigen, um zu prüfen, ob sie tot sei. Seine Recht­fer­ti­gung vor Gericht war: Er habe da nur einen Monty-Python-Sketch zitiert, in dem eine ähnliche Szene vorkomme.

    Nur: Es gibt in dem erwähnten Sketch keine Verge­wal­ti­gungs­witze. Es gibt auch keine Witze über Nekro­philie bei Monty Python.

    Auch Depp hat also viele Unge­reimt­heiten in seinen Aussagen. Doch da ist noch mehr: Er wurde vor Gericht sogar direkt beim Lügen erwischt. Im briti­schen Prozess bestritt er, seiner Ex-Frau jemals einen Kopf­stoss verpasst zu haben. Als man ihm die Tonauf­nahme vorspielte, in der er zugibt, Heard gegen die „verdammte Stirn“ gestossen zu haben, änderte er schnell seine Meinung. Er habe ihr doch einen Kopf­stoss gegeben – aber es sei ein Unfall gewesen.

    Und das ist nur eins von vielen weiteren Beispielen, bei denen Miss­trauen gegen­über dem welt­weit berühmten Schau­spieler ange­bracht wäre. Doch Depps Worte, seine para­no­iden Fanta­sien, seine bitteren, rach­süch­tigen, frau­en­feind­li­chen Wahn­vor­stel­lungen werden in der Öffent­lich­keit sofort zur allein gültigen Wahr­heit dekla­riert. Heards Wahr­heit – selbst wenn sie durch Beweise und Wahr­schein­lich­keiten gestützt ist – wird als Lüge abgestempelt.

    Mögli­chen Tätern gebührt Misstrauen

    Und dann gibt es da noch die Geschichte der ehema­ligen Assi­stentin von Amber Heard, die eben­falls wie viele Frauen auf der ganzen Welt Opfer einer Verge­wal­ti­gung geworden ist. Die fana­ti­schen Fans von Depp und die fana­ti­schen Miss­trauer Heards erzählen sich in diesem Zusam­men­hang die Geschichte, Heard hätte sich des Erleb­nisses ihrer Assi­stentin bedient, um sich ihre Gewalt­er­fah­rung anzueignen.

    „Sie hat über die Verge­wal­ti­gung gelogen; sie hat die Geschichte über den sexu­ellen Über­griff ihrer Assi­stentin gestohlen!“, sagt meine Freundin Katja bösartig.

    Amber Heards Ex-Assi­stentin Katie James war von einem Fremden mit Messer bedroht und verge­wal­tigt worden. Heard dagegen wurde von ihrem eigenen Partner mit einer Flasche in ihrem eigenen Haus verge­wal­tigt. Aber wieso sollte Katie James der Meinung sein, Heard hätte sich von ihrer Geschichte inspi­rieren lassen, obwohl diese ganz anders klingt?

    Der Frau zu glauben, bedeutet nicht – wie zu Unrecht oft behauptet – den beschul­digten Männern einen fairen Prozess zu verweigern.

    Die Antwort ist simpel: James hat das nie behauptet. Sie hat ledig­lich gesagt, dass Amber Heard ihre „Konver­sa­tion“ geklaut habe, indem sie sich selbst als „Über­le­bende“ statt als „Opfer” sexua­li­sierter Gewalt bezeichnet.

    Diese Verdre­hung der Tatsa­chen, dieses stän­dige Miss­trauen gegen­über Heard sagen etwas darüber aus, wie sehr wir Frauen hassen und Opfer sexua­li­sierter Gewalt verachten.

    Selbst ziem­lich intel­li­genten Menschen wie meiner guten Freundin Katja fällt es leichter zu glauben, dass eine Frau Details über eine Verge­wal­ti­gung von einer Ex-Mitar­bei­terin stiehlt, als zuzu­geben, dass Verge­wal­ti­gungen und sexu­elle Über­griffe alltäg­liche Torturen sind, von denen viele Frauen auf der ganzen Welt betroffen sind.

    Der Frau zu glauben, bedeutet nicht – wie zu Unrecht oft behauptet – den beschul­digten Männern einen fairen Prozess zu verwei­gern. Was es bedeutet, ist, dass wir Frauen glauben sollten – so wie wir es bei Männern tun. Wir sollten zuhören, was sie sagen. Wir sollten ihren Worten Gewicht geben, ihre Version der Ereig­nisse gelten lassen. Wir sollten aufhören, sie zu hassen – und aufhören, uns einzu­bilden, sie seien Lügne­rinnen und Huren.

    Wir sollten uns also minde­stens so sehr über die Möglich­keit empören, dass eine Frau Gewalt erfahren hat, wie über dieje­nige, dass ein Mann falsch beschul­digt werden könnte.

    Nur schon die stati­stisch belegte Häufig­keit, mit der Frauen sexua­li­sierte Gewalt erfahren, zeigt, wie fehl­plat­ziert gene­relles Miss­trauen gegen­über mögli­chen Opfern ist. Wir sollten uns also minde­stens so sehr über die Möglich­keit empören, dass eine Frau Gewalt erfahren hat, wie über dieje­nige, dass ein Mann falsch beschul­digt werden könnte. Denn Letz­teres geschieht – im Gegen­satz zu Ersterem – sehr selten.

    Inzwi­schen glauben die Leute, dass alles, was Depp sagt, wahr ist. Wenn Depp spricht, werden seine Worte zu einer Art gött­li­chen Wahr­heit. Amber Heard hingegen hat sich der böswil­ligen Verleum­dung schuldig gemacht, weil sie drei objektiv wahre Sätze gesagt hat, von denen sie einen nicht einmal selbst geschrieben hat.

    Miso­gyner Hass und Konterrevolution

    Der Hass, den die Gesell­schaft für Heard empfindet, ist uralt und gleich­zeitig hoch aktuell. Es ist derselbe Hass, den sie für Eva empfand, als sie Adam dazu brachte, den Apfel zu essen, der gleiche Hass, mit dem Hexen verbrannt wurden. Das Miss­trauen Heard gegen­über ist ein Miss­trauen gegen allen Frauen – gegen­über allen Huren, allen lügenden Huren.

    Und dieses Miss­trauen ist mitt­ler­weile sogar zu einer Art konter­re­vo­lu­tio­nären Bewe­gung geworden. Unter dem #Never­Fe­arTruth sammeln sich Incels, libe­rale Femi­ni­stinnen, Johnny Depp, Kevin Feder­line und Co., um Frauen zu zerreissen und alle Frauen und Opfer als Lügne­rinnen darzu­stellen. Es ist eine frau­en­feind­liche Gegen­re­ak­tion auf #metoo, Amber Heard und alle Über­le­bende sexua­li­sierter Gewalt – ob männ­lich oder weib­lich. Es ist eine böse und verlo­gene Reak­tion, die die Tatsa­chen umzu­drehen versucht.

    Es ist zynisch, dass die Welt Frauen als Lügne­rinnen bezeichnet, damit sie dafür bestraft werden, die Wahr­heit gesagt zu haben.


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