Auf den Schul­tern der Frauen

Die Care-Arbeit ist in Zeiten von Corona plötz­lich system­re­le­vant. Obwohl sie schon seit eh und je das Funda­ment ist, auf dem unsere Gesell­schaft basiert – und floriert. Wirk­lich wert­ge­schätzt, d.h. bezahlt, wird sie jedoch nicht. 
Schon am Frauen*streik am 14. Juni 2019 forderte das Pflegepersonal besser Arbeitsbedingungen. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Millen­nials gehen mit der Corona-Krise auf ihre eigene Art um. Sie schliessen sich in ihren kleinen, aber schön einge­rich­teten Stadt-Wohnungen ein, bilden Face­book-Gruppen und schreiben Einträge wie: „Ich könnte im K5 einkaufen und Medi­ka­mente besorgen“. Viel­leicht gehen sie danach sogar ein-zwei Mal für eine alte Dame einkaufen und klopfen sich dann selbst auf die Schulter für „a job well done“.

Sie denken auch an das Pfle­ge­per­sonal und teilen eifrig die Grafiken, die momentan auf den sozialen Netz­werken kursieren und die aufzeigen, wie gross der Frau­en­an­teil in den system­re­le­vanten Berufen ist: also nament­lich im Gesund­heits­wesen, der Kinder­be­treuung und im Detail­handel. Viele schreiben #Danke­Hel­dinnen hin und widmen sich dann wieder ihrem etwas leidigen, aber doch aushalt­baren Home-Office. Sie machen ein Foto von ihrer Kaffee­tasse in der Sonne und verzieren das Foto mit dem Hashtag #stay­thefuck­home – fertig ist der tägliche Post. Ist das Soli­da­rität oder kann das weg?

Care-Arbeit wird plötz­lich als „system­re­le­vant“ bezeichnet. Ja, die unter­schätzte, unsicht­bare, schlecht bis unbe­zahlte Care-Arbeit, die haupt­säch­lich von Frauen gemacht wird und die Feminist*innen seit Jahr­zehnten aufzu­werten versuchen.

Die femi­ni­sti­sche Ökonomin Mascha Madörin hat die Gründe für die ungleiche Bezah­lung von Arbeit in der Schweiz analy­siert und sagte in einem Inter­view mit der WOZ, dass die Wirt­schafts­wis­sen­schaften bisher einen Bereich völlig ausge­blendet hätten – nämlich die Zukunft der Care-Ökonomie. „Meiner Meinung nach steht und fällt die Frage der Gleich­be­rech­ti­gung damit, wie eine Gesell­schaft die Care-Ökonomie organisiert.“

In der Schweiz ist der Unter­schied zwischen den Geschlech­tern in der unbe­zahlt gelei­steten Arbeit frap­pant: Gemäss dem Bundesamt für Stati­stik entsprach der Teil, den Frauen mehr leisten als Männer, im Jahr 2016 rund 85 Milli­arden Franken. Davon sind 83 Milli­arden Franken auf Haus­ar­beiten und Kinder­be­treuung – also Care-Arbeit – zurück­zu­führen. Es sind also mehr­heit­lich Frauen, die jähr­lich unbe­zahlte Arbeit von immensem Wert verrichten; und es sind eben­falls mehr­heit­lich Frauen, die bezahlte Care-Berufe wie Kran­ken­pflege und Kinder­be­treuung ausüben. Gemäss dem Bundesamt für Stati­stik waren 2019 fast 85 Prozent des Pfle­ge­per­so­nals in Spitä­lern weib­lich. In der fami­lien- und schul­er­gän­zenden Kinder­be­treuung liegt der Frau­en­an­teil sogar bei 92 Prozent.

Die Care-Arbeit läuft heiss

In Zeiten von Selbst­iso­la­tion wegen und gegen Corona wird das Home-Office zum neuen Alltag erklärt. Einer­seits gibt es etliche – sehr gut bezahlte – Büro­jobs, die ziem­lich reibungslos ins Home-Office verla­gert werden können. Ande­rer­seits gibt es Künstler*innen, Graphiker*innen, Tätowierer*innen oder Frisör*innen, die jetzt nicht wissen, wie sie sich über Wasser halten sollen. Und dazwi­schen läuft die Care-Arbeit heiss: Mütter im Home-Office, die gratis ihre Kinder betreuen; Pfle­ge­fach­frauen, die in Spitä­lern Corona-Patient*innen betreuen; Lehre­rinnen, die im impro­vi­sierten Hort die Kinder eben­dieser Pfle­ge­fach­frauen betreuen.

Betreuung, Betreuung, Betreuung. Wich­tiger denn je, wahr­schein­lich auch sicht­barer denn je – aber schlecht bis gar nicht bezahlt. Das kriti­siert auch Anna-Béatrice Schmaltz, Kampa­gnen­lei­terin der femi­ni­sti­schen Frie­dens­or­ga­ni­sa­tion cfd: „Pflege- und Betreu­ungs­be­rufe waren natür­lich schon immer system­re­le­vant – neu ist nur die öffent­liche Aner­ken­nung dieser Tatsache. Und trotzdem wider­spie­gelt sich das nicht im Lohn, was absurd ist.“

Schmaltz begrüsst, dass die Care-Arbeit jetzt immerhin sicht­barer werde. „Unter anderem durch die Aktion, wo den Heldinnen applau­diert wurde.“ Doch die unbe­zahlte Care-Arbeit sei noch nicht auf demselben Stand. „Auf den sozialen Netz­werken kursierte eine Liste mit den Berufs­gruppen, denen applau­diert wird. Darauf stand nirgends ‘Mutter’ oder ‘Vater’ – es waren nur Lohn­ar­beits­be­rufe aufgelistet.“

Faktisch seien es mehr­heit­lich die Mütter, welche die unbe­zahlte Care-Arbeit verrichten. „Das geben wir in unserer Gesell­schaft so vor, auch durch unsere poli­ti­schen Rahmen­be­din­gungen: Wir haben zum Beispiel nur eine mick­rige Vater­schafts­zeit von ein bis zwei Tagen.“ Zudem sei es in einer Krisen­si­tua­tion häufig so, dass sich die Rollen­bilder verfe­stigen würden. Es sei einfach, in stereo­ty­pi­sche, gewohnte Muster zu verfallen.

Femi­ni­sti­sche Kritik zu äussern, sei hingegen schwierig, sagt Schmaltz: „Es ist unbe­stritten, dass wir in einer schlimmen Krise stecken, aber Gleich­stel­lungs- und Gender­fragen werden wie neben­säch­lich. Es geht nur noch darum, dass alles funk­tio­niert und das System aufrecht­erhalten wird. Es ist fast gar nicht mehr möglich, Kritik zu üben, weil es dann direkt heisst: ‘Es geht um die Gesund­heit aller Menschen, bist du etwa gegen die Mass­nahmen?!’ Das finde ich sehr problematisch.“

Zu Hause: Neben dem Home-Office Kinder betreuen

Gemäss der „Verord­nung 2 über Mass­nahmen zur Bekämp­fung des Coro­na­virus (COVID-19)“ sorgen die Kantone „für die notwen­digen Betreu­ungs­an­ge­bote für Kinder, die nicht privat betreut werden können“. Kinder­ta­ges­stätten dürften demnach nur geschlossen werden, wenn andere Betreu­ungs­an­ge­bote vorhanden seien. Doch in der Realität wird haupt­säch­lich auf die Eigen­ver­ant­wor­tung gesetzt.

Das merkt auch Kinder­gärt­nerin Sandra Oberli: Sie ist momentan mit ihren zwei Söhnen (11- und 14-jährig) zu Hause. „Nachdem am Freitag, 13. März verkündet wurde, dass alle Schulen schliessen, haben mir am Wochen­ende so viele verzwei­felte Mütter ange­rufen und gefragt, was sie am Montag mit ihren Kindern machen sollen, weil sie zur Arbeit müssen.“ Oberli konnte nur versu­chen, sie zu beru­higen – denn weitere Infor­ma­tionen hatte sie selbst auch keine bekommen. Am besagten Montag musste sie um acht Uhr morgens auf der Matte stehen, um in Windes­eile ein Schul-Dossier für alle Kinder­gar­ten­kinder zusam­men­zu­stellen: „Ein paar Bastel­an­lei­tungen und Ideen für kleine Experimente.“

Oberli ist sich aber bewusst, dass es damit nicht getan ist: „Es ist nicht reali­stisch, dass wir diesen Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren Aufgaben nach Hause geben, die sie tatsäch­lich ganz allein lösen können. Das Emotio­nale und Soziale ist eigent­lich unsere Haupt­ar­beit: Trösten, zuhören, schlichten. Und das alles hängt jetzt natür­lich an den Müttern, die zum Teil daneben noch Home-Office machen müssen.“

Die Primar­schule mit inte­griertem Kinder­garten in der Region Seeland, bei der Oberli ange­stellt ist, bietet eine Nottag­es­schule an, in der alle 25 Kinder­gärt­ne­rinnen und Lehre­rinnen ein paar Schichten über­nehmen. Als die Verant­wort­li­chen in der ersten Woche Oberli dafür aufbieten wollten, versuchte sich diese zu wehren: „Ich sagte ihnen, dass ich zuerst zu meinen eigenen Kindern schauen muss. Zudem liegt meine Mutter mit einem zertrüm­merten Fuss im Spital und braucht eben­falls Sorge.“ Doch ihr Protest war erfolglos: Sandra Oberli wurde trotzdem eingeteilt.

In der Nottag­es­schule werden Kinder­gar­ten­kinder bis 6.-Klässler*innen aufge­nommen – aber nur, wenn beide Eltern­teile eine Arbeits­be­stä­ti­gung einge­reicht haben. Auf Home-Office, allein­er­zie­hende Eltern oder Ähnli­ches wird gemäss Oberli keine Rück­sicht genommen.

Auch die Autorin Sibylle Still­hart ist momentan mit ihren drei Kindern (4‑, 9- und 11-jährig) zu Hause. „Ich schreibe sowieso immer zu Hause, also quasi im Home-Office, aber momentan komme ich zu gar nichts.“ Sie schaffe es gerade noch, schnell das Nötigste einzu­kaufen – den Rest der Zeit ist sie mit der Betreuung ihrer Kinder beschäftigt.

Eine externe Kinder­be­treuung darf Still­hart nicht bean­spru­chen. „Nach einem etwas doppel­deu­tigen Brief habe ich bei der Kita ange­rufen und nach­ge­fragt: ‘Die Kita hat offen, aber man darf die Kinder nicht vorbei­bringen. Ist das richtig?’ und sie meinten ‘Ja, so ist es’.“ Wenn irgendwie möglich, solle man sich in der Nach­bar­schaft orga­ni­sieren. „Meine Nach­barin ist genauso über­la­stet mit ihren Kindern, Haus- und Erwerbs­ar­beit – die kann ich nicht fragen.“ Also betreue sie die Kinder rund um die Uhr selbst.

„In unserer Gesell­schaft ist es leider so, dass Kinder­be­treuung nicht ernst genommen wird. Ein paar Kinder zu hüten sei doch nichts – das dachte ich früher auch. Erst seit ich Kinder habe, weiss ich, dass es die wahr­schein­lich anstren­gendste und heraus­for­derndste Arbeit in unserer Gesell­schaft ist.“ In ihrem Buch „Schluss mit gratis! Frauen zwischen Lohn und Arbeit“ thema­ti­siert Still­hart genau das: „Das, was bezahlt wird, ist Arbeit und alles andere ist keine Arbeit. Und das, was eben nicht als Arbeit ange­sehen wird, machen vorwie­gend Frauen.“

Die Väter würden sich eher über Erwerbs­ar­beit defi­nieren, da das immer noch dem Männ­lich­keits­bild unserer Gesell­schaft entspreche. „Das heisst, dass während die meisten Frauen, die Mutter geworden sind, ihr Arbeits­pensum redu­zieren, neun von zehn Vätern weiter Voll­zeit arbeiten.“ Bei Frauen resul­tiere das in wöchent­lich durch­schnitt­lich 14 Stunden Lohn­ar­beit und 58 Stunden unbe­zahlte Arbeit zu Hause. „Schluss­end­lich arbeiten sowohl Frauen wie Männer etwa 72 Stunden pro Woche, aber bei den Männern ist davon zwei Drittel bezahlt und bei den Frauen nur ein Drittel.“

Gemäss Still­hart gäbe es eine Lösung, um die Drei­fach­be­la­stung zu Hause (Erwerbs­ar­beit im Home-Office, Haus­ar­beit und Kinder­be­treuung) zu vermeiden: „Betreu­ungs­ar­beit muss immer bezahlt werden – egal, wer sie leistet und egal wie alt die betreute Person ist.“

In der Kita: Ist Kinder­be­treuung Bundes- oder Privatsache?

Doch die Realität sieht anders aus – und zwar nicht nur zu Hause, sondern auch in den Betrieben: Wenn Care-Arbeit bezahlt wird, dann schlecht. Zum Beispiel in Kinder­ta­ges­stätten: Die mehr­heit­lich weib­li­chen Mitar­bei­tenden leiden unter tiefen Löhnen und schlechten Arbeits­be­din­gungen.

Lena Frisch­knecht arbeitet als Fach­frau Betreuung in einer Kita in Zürich. „Momentan betreuen wir pro Tag etwa vier bis sechs Kinder – also nur einen Bruch­teil von den ange­mel­deten Kindern.“ Die Kita habe laufend Eltern­briefe verschickt, und die Eltern darin aufge­for­dert, die Kinder aus Soli­da­rität zu Hause zu behalten, wenn sie nicht in system­re­le­vanten Berufen arbeiten würden. „Wir haben offen und die Eltern müssen auch die Kita­bei­träge weiterhin zahlen – also dürften sie ihre Kinder schon vorbei­bringen.“ Trotzdem würden viele Eltern der Auffor­de­rung folgen und neben dem Home-Office ihre Kinder betreuen.

Frisch­knecht habe das ausser­ge­wöhn­liche Glück, eine sehr enga­gierte Kita­lei­tung als Vorge­setzte zu haben: „Es ist ziem­lich gut orga­ni­siert. Wir sind insge­samt drei­zehn Ange­stellte, und da wir jetzt nur noch vier bis sechs Kinder betreuen müssen, hat unsere Leiterin Kurz­ar­beit ange­meldet.“ Doch das posi­tive Beispiel ist nicht die Regel: „Ich kenne Personen, die in fast voll besetzten Kitas arbeiten. Das Personal fällt nach und nach wegen Krank­heit aus – die sind total am Limit.“ Das Problem sei dort nicht, das Personal zu beschäf­tigen, sondern genug Personal zu haben, um die Kinder zu betreuen. „Es gibt beide Extreme.“

Frisch­knecht ist aktiv in der Trotz­phase: einer „Gruppe ausge­bil­deter und ange­hender Fach­per­sonen aus der fami­li­en­er­gän­zenden Kinder­be­treuung, die gegen die prekären Arbeits­be­din­gungen in den Kitas und Horten ankämpft“.

Die Trotz­phase hat am 30. März eine Medi­en­mit­tei­lung publi­ziert, in der sie ihre Forde­rungen aufli­stet und betont, wie unent­behr­lich ein funk­tio­nie­rendes Kinder­be­treu­ungs­wesen sei. Ursache für die momen­tanen teils gesund­heits­ge­fähr­denden Arbeits­be­din­gungen sei, „dass Bund und Kanton die Kitas in dieser ausser­or­dent­li­chen Lage dazu verpflichtet haben, den Betrieb aufrecht­zu­er­halten“. Verant­wort­lich fühle sich aber niemand: „Die meisten Kantone schoben die Verant­wor­tung weiter an die Gemeinden ab, welche wiederum Empfeh­lungen statt klare Direk­tiven ausgeben.“

Doch solange sich die Betriebe nur auf Empfeh­lungen stützen könnten, würden sie die Konse­quenzen einer allfäl­ligen Schlies­sung selbst tragen. „Der grösste Teil der Deckung der Betreu­ungs­ko­sten lastet somit weiterhin auf den Eltern.“ Die Kitas seien in Zeiten der Corona-Krise zu einem system­re­le­vanten Angebot geworden. Die Trotz­phase fordert nun, dass Kitas in das öffent­liche Bildungs­sy­stem inte­griert werden, sodass die Verant­wor­tung künftig bei den Kantonen und nicht mehr bei Einzel­per­sonen liegt.

Im Spital: Wie ein 80-Meter-Sprint

Ähnlich wie bei der Kinder­be­treuung verhält es sich in einem weiteren, neuer­dings als „system­re­le­vant“ bezeich­neten Berufs­zweig: dem Gesund­heits­wesen. Trotz den teils prekären Arbeits­be­din­gungen und den tiefen Löhnen bleiben Appelle an die Politik unbe­ant­wortet. So auch bei der Volks­in­itia­tive „Für eine starke Pflege“ (Pfle­ge­initia­tive), die im November 2017 einge­reicht wurde. Die Initia­tive forderte unter anderem, dass die Aus- und Weiter­bil­dung in der Pflege geför­dert und die Arbeits­si­tua­tion durch Rege­lung der Arbeits­be­din­gungen in einem GAV verbes­sert wird. Doch fünf Monate später lehnte der Bundesrat die Pfle­ge­initia­tive ohne Gegen­vor­schlag ab.

In einer Gesund­heits-Krise wie der jetzigen rächt sich das: Das Pfle­ge­per­sonal wird knapp und die Angst steigt, dass deswegen Menschen werden sterben müssen. Der Fach­kräf­te­mangel im Gesund­heits­wesen ist ein Fakt: Jähr­lich werden rund 3’000 Pfle­ge­fach­per­sonen ausge­bildet – nötig wären aber doppelt so viele. Zudem liegt gemäss einer Studie des Schwei­ze­ri­schen Gesund­heits­ob­ser­va­to­riums die Austritts­rate beim Pfle­ge­fach­per­sonal bei fast 46 Prozent.

Martina Wetzel ist Expertin für Inten­siv­pflege und arbeitet im Unispital Zürich (USZ) auf der Inten­siv­sta­tion für Brand­ver­letzte. Es wundere sie gar nicht, wie viele Leute, die mit ihr die Ausbil­dung gemacht hätten, jetzt nicht mehr in der Pflege arbeiten würden: „Einer­seits wegen der körper­li­chen und psychi­schen Bela­stung sowie dem Perso­nal­mangel, ande­rer­seits wegen dem Lohn. Du kannst eine andere Ausbil­dung in derselben Zeit absol­vieren und dann doppelt so viel verdienen. Das kann es doch nicht sein. Wir reden schon seit 30 Jahren darüber, dass wir zu wenig Pfle­ge­per­sonal haben, aber wirk­lich etwas ändern tun sie nicht.“

Mit „sie“ meint Wetzel die Politik: „Was mich total wütend macht, ist, dass die offi­zi­elle Wert­schät­zung fehlt. Ich habe sieben­ein­halb Jahre Ausbil­dung inve­stiert, arbeite seit neun Jahren beim Unispital, und trotzdem verdiene ich weniger als eine Treu­hän­derin mit derselben Ausbil­dungs­zeit, die nicht annä­hernd dieselbe Verant­wor­tung trägt, wie ich.“

Wetzel wappnet sich für die kommenden Wochen. Denn auch als Mitar­bei­terin auf der Inten­siv­sta­tion für Brand­ver­letzte kommt sie in Kontakt mit dem Coro­na­virus: „Im Moment sind wir ein wenig die Durch­lauf­sta­tion: Von unseren acht Betten auf der Station sind fünf frei für Corona-Verdachts­fälle. Sobald das Ergebnis vorliegt, werden sie entweder auf die Corona-Station oder eine andere Inten­siv­sta­tion verlegt.“

Voll sei es im Unispital noch nicht. „Es ist wie bei einem 80-Meter-Sprint. Man steht in der Start­po­si­tion und wartet auf den Knall, um loszu­rennen.“ Wetzel ist sich sicher, dass die Welle noch kommen wird: „Man hört ja, wie es im Tessin ist. Davon werden wir nicht verschont.“ Laut Wetzel laufen die Vorbe­rei­tungen auf Hoch­touren: Etliche Medi­zin­stu­die­rende würden einge­ar­beitet, sodass sie bei Gebrauch Medi­ka­mente abgeben und die Patient*innen pflegen können. Zudem habe das USZ eine alte Inten­siv­sta­tion wieder­eröffnet, um für Corona-Patient*innen Platz zu schaffen.

Momentan sei die Stim­mung ziem­lich gut. „Wir haben noch kein Feri­en­verbot. Uns wird sogar gesagt, dass wir diese Tage zum Ausruhen nutzen sollen.“ Trotzdem ist Martina eher ungern zu Hause: „Einfach allein herum­zu­sitzen bringt mir nicht so viel. Ich arbeite lieber, da werde ich laufend über die aktu­elle Situa­tion infor­miert und kann zudem aktiv etwas tun.“ Die Sistie­rung der Schutz­be­stim­mungen für das Gesund­heits­per­sonal findet Wetzel aber etwas wider­sprüch­lich: „Wenn man strenge Dienste hat, ist es umso wich­tiger, dass man auch etwas Ruhe bekommt. So wird auch verhin­dert, dass wir krank werden!“

Dass eine stres­sige Zeit bevor­stünde, sei Wetzel klar. Sie hoffe aber, dass es eine Sache von etwa ein-zwei Monaten sei und es dann wieder abflache. „Damit kann ich eher leben, weil ich denke: Es ist eine Ausnah­me­si­tua­tion.“ Worüber sie sich Sorgen mache, ist der Alltag: „Wir haben nicht mal an normalen Tagen wirk­lich Zeit für unsere Patient*innen. Wie wird es dann in Zukunft werden?“

Der Kontakt zu den Patient*innen ist Wetzel sehr wichtig: „Mal dazu­sitzen und mit ihnen reden, sie irgendwie ablenken und ihnen die Ängste nehmen. Das ist so viel Wert, auch für ihre Gene­sung.“ Doch aufgrund von Büro­kram, Zeit­druck und Fach­kräf­te­mangel gehe genau das immer mehr unter. Der Gesell­schaft müsse bewusst werden, wie anstren­gend der Pfle­ge­beruf sei. „Die Politik muss den Lohn und die Attrak­ti­vität des Berufes in die Hand nehmen nach dieser Krise, damit wir nicht noch mehr Pfle­ge­per­sonal verlieren!“

Damit äussert Wetzel einen Wunsch, in dem sich auch Sandra Oberli, Sibylle Still­hart und Lena Frisch­knecht wieder­finden: Dass ihre Arbeit ange­messen aner­kannt und wert­ge­schätzt werden sollte. Mit fairen Arbeits­be­din­gungen und einem fairen Lohn. Denn was vielen erst in Zeiten von Corona bewusst wird, wissen diese Frauen schon lange: Care-Arbeit ist systemrelevant.


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