Bedeutet Ehe für alle auch Familie für alle?

Am 26. September wird über die Ehe für alle abge­stimmt. Obwohl die Gleich­be­rech­ti­gung von hetero- und homo­se­xu­ellen Paaren vorge­sehen ist, bleiben in der Praxis einige Hürden bestehen. Beson­ders bei der recht­li­chen Absi­che­rung von Paaren mit Kindern zeigt sich die Ehe als eine speziell auf hete­ro­se­xu­elle Bedürf­nisse ausge­legte Institution. 
Die Regenbogenfamilie: Beliebtes Angriffsziel der Kampagnen gegen die Ehe für alle. (Foto: PNW Production / Pexels)

„Wenn die Ehe für alle ange­nommen wird, habe ich die Chance, Mutter von einem Kind zu werden, das von Geburt an zwei recht­lich aner­kannte Eltern­teile hat“, sagt Ales­sandra Widmer, Co-Geschäfts­lei­terin der Lesben­or­ga­ni­sa­tion Schweiz (LOS). Ihr ist es wichtig, dass bei der Abstim­mung am 26. September auch mitbe­dacht wird, wie die Gegner:innen die Themen Samen­spende und Familie für ihre Zwecke instru­men­ta­li­sieren. Zu leicht könnte es sonst passieren, dass trotz Ehe für alle vielen Betrof­fenen die Familie verwehrt bleibt.

Denn was nach einfa­cher Gleich­stel­lung klingt – die Aufhe­bung des Ehepri­vi­legs für hete­ro­se­xu­elle Paare – birgt einige Fall­stricke, die sich erst zeigen, wenn man die unter­schied­li­chen Bedürf­nisse gleich­ge­schlecht­li­cher und hete­ro­se­xu­eller Paare bei der Fami­li­en­pla­nung mitberücksichtigt.

An der Realität vorbei

Das „Ehe für alle“-Gesetz sieht auch beim Kinder­wunsch durchaus eine Gleich­stel­lung vor: Durch die Umwand­lung der einge­tra­genen Part­ner­schaft in eine Ehe bekommen gleich­ge­schlecht­liche Paare das volle Adop­ti­ons­recht und den Zugang zur profes­sio­nellen Samen­spende. Beides wurde ihnen bislang verwehrt. Adop­tiert werden durften nur Stief­kinder, also Kinder, die eine:r der Partner:innen mit in die Bezie­hung gebracht hatte; eine Samen­spende für lesbi­sche Paare war verboten.

Bei der Adop­tion scheint die zukünf­tige Gleich­be­rech­ti­gung nun zu funk­tio­nieren. Homo­se­xu­elle Ehepaare können bei Umset­zung der Ehe für alle auf die gleiche Art adop­tieren, wie es hete­ro­se­xu­ellen schon immer erlaubt war.

Was leib­liche Kinder angeht, bleiben jedoch einige wich­tige Unter­schiede. Zum Beispiel heisst es bei der Samen­spende ausdrück­lich, dass sie „profes­sio­nell“, also von einer staat­lich aner­kannten Samen­bank, vorge­nommen werden muss. Eine Vorschrift, die an der Lebens­rea­lität vieler Regen­bo­gen­fa­mi­lien vorbei­zielt. Denn, wie die LOS auf ihrer Webseite schreibt, würden sich viele „lesbi­sche Paare [...] auch für Samen­spenden im Ausland oder private Samen­spenden“ entscheiden. „Auch sie und ihr Nach­wuchs brau­chen recht­li­chen Schutz!“

Anders als hete­ro­se­xu­elle Paare, bei denen die Samen­spende eine Ausnahme bleibt, sind lesbi­sche Ehepartner:innen mit Kinder­wunsch oft auf eine Spende ange­wiesen. Das führt schon heute zu unter­schied­li­chen Arten der Samen­spende, die im neuen Gesetz nicht unter „profes­sio­nell“ fallen würden. Viele der daraus hervor­ge­gan­genen Kinder werden recht­lich nicht abge­si­chert, gehören also auch zukünftig nicht wirk­lich zur Familie.

An der Samen­spende zeigt sich, dass die Ehe als recht­li­ches Konstrukt ursprüng­lich für hete­ro­se­xu­elle Paare geschaffen wurde. Wo die Samen­spende eine Ausnahme ist, reicht der Rück­griff auf die Samen­bank aus. Wo sie jedoch quasi alltäg­lich dazu­ge­hört, wollen sich Menschen ihre eigenen Bedin­gungen schaffen: zum Beispiel mit einer Samen­spende durch Freund:innen, Bekannte oder gar in einer Drei­er­be­zie­hung – Fami­li­en­mo­delle, die in der herkömm­li­chen Ehe nicht vorge­sehen sind.

Väter­schutz vs. Kinderrechte

Argu­men­tiert wird dabei meist mit dem Kindes­wohl. Für die seeli­sche Gesund­heit eines Kindes sei es wichtig, wissen zu können, wer der biolo­gi­sche Vater ist. Diese Möglich­keit sei nur durch die profes­sio­nelle Samen­spende garan­tiert, bei der jede künst­liche Befruch­tung doku­men­tiert und nach­ver­folgbar archi­viert wird, sodass sich das Kind nach dem 18. Geburtstag selbst­ständig infor­mieren kann.

Ein faden­schei­niges Argu­ment, meint Widmer und verweist auf die soge­nannte Vater­schafts­ver­mu­tung. Bei hete­ro­se­xu­ellen Ehen wird auto­ma­tisch davon ausge­gangen, dass das Kind der Mutter auch das Kind ihres Ehepart­ners ist. Eine Annahme, die nicht unbe­dingt der Realität entspre­chen muss, aber ein Recht des Ehemannes voraus­setzt, nicht mit der Möglich­keit konfron­tiert zu werden, dass ein anderer der biolo­gi­sche Vater seiner Kinder sein könnte.

Es werden sogar aktiv Mass­nahmen ergriffen, um den Fami­li­en­vater vor dieser Erkenntnis zu schützen – Mass­nahmen, die gleich­zeitig verhin­dern, dass Kinder von ihrem biolo­gi­schen Vater erfahren. „Früher hat man im Biolo­gie­un­ter­richt Blut­grup­pen­tests durch­ge­führt“, sagt Widmer. „Eine Praxis, die vieler­orts einge­stellt wurde, weil das Ergebnis quasi verse­hent­lich Vater­schaften infrage stellen konnte.“

Unter gewissen Umständen schützt man in hete­ro­se­xu­ellen Ehen also tatsäch­lich den Mann vor der mögli­chen Erkenntnis, nicht der biolo­gi­sche, sondern „nur“ der soziale Vater zu sein, während bei homo­se­xu­ellen Paaren behauptet wird, das Recht des Kindes, seinen biolo­gi­schen Vater zu kennen, stehe über allem.

„Ich finde die Frage nach dem biolo­gi­schen Vater darum nicht so rele­vant“, sagt Widmer. „Es gibt genug Studien, die zeigen, dass Kinder liebende Bezugs­per­sonen brau­chen, egal, ob biolo­gisch verwandt oder nicht. Und das können Regen­bo­gen­fa­mi­lien genauso gut oder schlecht leisten wie andere.“

Noch deut­li­cher wird das hete­ro­se­xu­elle Privileg, wenn man auf schwule Paare mit Kinder­wunsch schaut. Zwei verhei­ra­tete cis Männer sind für die Zeugung eigener Kinder auf einen dritten gebär­fä­higen Menschen ange­wiesen. Die profes­sio­nelle Leih­mut­ter­schaft aber bleibt in der Schweiz auch mit der Ehe für alle grund­sätz­lich verboten.

Widmer steht der Leih­mut­ter­schaft selbst kritisch gegen­über. Sie sieht die Gefahr einer Kommer­zia­li­sie­rung und der einher­ge­henden Ausbeu­tung verarmter Frauen: Leih­mut­ter­schaft als Geschäft.

Gerade daran zeigt sich aber, dass das Problem wieder in einer Defi­ni­tion liegt, die an der Praxis in Regen­bo­gen­fa­mi­lien vorbei­geht. Auch ohne „profes­sio­nelle“ und damit poten­ziell kommer­zia­li­sier­bare Leih­mut­ter­schaft können schwule Paare schon heute auf viele verschie­dene Arten mit einer dritten Person ein Kind zeugen, das dann gemeinsam oder zu zweit aufge­zogen wird. Aber auch diese Kinder sind in der Ehe für alle nicht vorge­sehen. Ihre Fami­li­en­kon­stel­la­tionen bleiben recht­lich prekär.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in aktuell laufenden Kampa­gnen gegen die Ehe für alle oft so getan wird, als würde Leih­mut­ter­schaft in erster Linie von schwulen Paaren in Anspruch genommen. Tatsäch­lich ist es so, dass in der Schweiz Leih­mut­ter­schaft eher ein Thema für hete­ro­se­xu­elle Paare mit uner­fülltem Kinder­wunsch ist. Die bekannten Plakate sind also nicht nur offen­sicht­lich rassi­stisch, sondern repro­du­zieren auch homo­phobe Klischees.

Heiraten für Revolutionär:innen

Wenn die Ehe für homo­se­xu­elle Paare aber so viele Hürden mit sich bringt, stellt sich die Frage, warum man sie über­haupt haben will. Ist die Ehe nicht ein grund­sätz­lich patri­ar­chales Gebilde, das besser über­wunden als noch zusätz­lich ausge­weitet werden sollte?

Für Widmer greift dieser Gedanke zu kurz: „Natür­lich war das auch in der Lesben- und Schwu­len­be­we­gung immer wieder ein Thema. Insbe­son­dere unter Lesben hiess es lange: ‚Heiraten? Sicher nicht! Das ist eine über­kom­mene, patri­ar­chale Tradi­tion.‘ Heute ist das aber anders: Es ist nun mal so, dass die Ehe eine Insti­tu­tion von gesell­schaft­li­cher und recht­li­cher Rele­vanz ist, und darum wollen wir gleich­be­rech­tigten Zugriff darauf haben. Nur dann können wir an dieser Insti­tu­tion arbeiten und sie lang­fri­stig auch revolutionieren.“

Oder anders ausge­drückt: „Wir eignen uns hier Struk­turen an, die eigent­lich nicht für uns gemacht wurden. Aber nur, wenn wir sie zu unseren Struk­turen machen, können wir sie verändern.“

Die Ehe, ein binäres Konstrukt

Wie viel Ände­rungs­be­darf es gibt, wird zum Beispiel auch an der Witwen- und Witwer­rente deut­lich. Hinter dieser gegen­sei­tigen Absi­che­rung im Todes­fall steht das Konzept einer strengen Frau/­Mann-Bina­rität, die auch berück­sich­tigt, dass Frauen oft weniger verdienen und nach dem Tod des Part­ners stärker armuts­ge­fährdet sind. Die Witwen­rente wird darum anders berechnet als die Witwer­rente, womit eine Witwe bei glei­chem Gehalt der Partner:in auf einen ganz anderen Betrag kommt als ein Witwer.

Wird die Frau/­Mann-Bina­rität in der Ehe aufge­hoben, was nicht nur durch die Ehe für alle, sondern auch durch moderne gleich­be­rech­tigte Arbeits­mo­delle geschieht, macht das ganze Konzept natür­lich keinen Sinn mehr. Hier Ände­rungen einzu­for­dern und umzu­setzen, ist eine Aufgabe, die nur angehen kann, wer sich die Ehe zu eigen macht und sie nicht den konser­va­tiven und patri­ar­chal einge­stellten Gegner:innen der Ehe für alle überlässt.

Obwohl es also noch ein paar Probleme mit dem Konstrukt Ehe gibt, ist Ales­sandra opti­mi­stisch: „In der Realität sind wir ja schon viel weiter. Zum Beispiel wenn, wie kürz­lich geschehen, eine lesbi­sche Mutter im Schweizer Fern­sehen sagt: ‚Ich habe eine private Samen­spende ange­nommen und der biolo­gi­sche Vater des Kindes ist der Götti.‘ Es gibt das alles. Jetzt wäre es schön, wenn solche Fami­li­en­mo­delle nicht nur im Privaten gelebt, sondern auch recht­lich und poli­tisch abge­si­chert werden würden.“

Die Ehe für alle ist ein Schritt in diese Rich­tung – ein kleiner, aber im Vergleich zu den Trip­pel­schritt­chen der vergan­genen Jahr­zehnte wohl ganz ordentlicher.


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