95 Milli­arden: Das wird man wohl noch erben dürfen

Das neue Jahr­zehnt beginnt mit einem Rekord: 2020 wird in der Schweiz so viel Geld vererbt wie noch nie. Zeit, wieder einmal über die Erbschafts­steuer zu reden. 
Cartoon: Oger im Auftrag von das Lamm. http://ogerview.com

Weih­nachten steht vor der Tür – und die ganz grossen Geschenke verteilen die Toten: Laut einer neuen Studie werden 2020 in der Schweiz voraus­sicht­lich 95 Milli­arden Franken vererbt. Das ist mehr als der ganze Bundes­haus­halt der Schweiz. Oder dreimal das BIP von Trinidad und Tobago. Kurz gesagt: eine obszöne Summe Geld.

Das findet selbst die NZZ am Sonntag. Deren Wirt­schafts­re­daktor Albert Steck fordert in einem Kommentar eine mode­rate Erhö­hung der Erbschafts­steuer bei gleich­zei­tiger Entla­stung der Einkommen. Am Ende seines ziem­lich progres­siven Vorschlags lamen­tiert er noch: „Das wäre sinn­voller als das stän­dige Anpran­gern von Reichtum, welches aus der klas­sen­kämp­fe­ri­schen Motten­kiste stammt.”

In der Schweiz wird also näch­stes Jahr eine Rekord­summe vererbt. Zwar kennen alle Kantone ausser Obwalden und Schwyz eine Form der Erbschafts­steuer. Aber die durch­schnitt­liche Besteue­rung von Erbschaften ist seit den 90er Jahren stetig gesunken. Gleich­zeitig drohen den Kantonen aufgrund der Umset­zung der Steu­er­re­form und AHV-Finan­zie­rung (Staf) sowie der drin­gend benö­tigten Inve­sti­tionen zur Klima­ret­tung empfind­liche Defizite.

Zeit, wieder einmal über die Erhö­hung der Erbschafts­steuern zu reden.

Eine vermeint­lich klare Abfuhr

Das letzte Mal hat die Stimm­be­völ­ke­rung 2015 über eine natio­nale Erbschafts­steuer abge­stimmt. Die Initia­tive „Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV” wollte die kanto­nalen Erbschafts­steuern aufheben und durch eine natio­nale Steuer von 20 Prozent auf Erbschaften ab zwei Millionen Franken ersetzen. Zwei Drittel der Einnahmen wären in die AHV geflossen, ein Drittel zu den Kantonen. Doch die Initia­tive wurde mit 71 Prozent Nein-Stimmen abgeschmettert.

Mit der Annahme der Staf im Mai 2019 wurden zwar die Steu­er­ge­schenke einge­schränkt und eine jähr­liche Zusatz­fi­nan­zie­rung der AHV erreicht. Diese wird aber über höhere Lohn­bei­träge zur Hälfte von den Arbeit­neh­menden selber getragen. Für 2022 plant der Bundesrat zudem eine Erhö­hung der Mehrwertsteuer.

Wäre es nicht sozi­al­ver­träg­li­cher, den sozialen Ausgleich für die Steu­er­ge­schenke der Staf über die Erbschafts­steuer statt über Lohn­bei­träge zu finan­zieren? „Wir haben bei der Staf eine Gegen­fi­nan­zie­rung gesucht, die ganz konkret von jenen aufge­bracht werden sollte, die von der Steu­er­sen­kung für Unter­nehmen profi­tieren würden”, schreibt die SP auf Anfrage. Das würde durch die Lohn­pro­zente bei der AHV erreicht, da die Unter­nehmen diese bezahlen müssten.

Nur: Zahlen aus dem Kanton Bern zeigen, dass 75 Prozent aller Erbschaften von zwei Millionen Franken und mehr durch die vermö­gend­sten Schweizer*innen gemacht werden. Die reich­sten Aktionär*innen, die von der Tief­steu­er­stra­tegie der Schweiz profi­tieren, sahnen also auch bei den grossen Erbschaften ab.

Die Arbeit­neh­menden, die dank der Annahme der Staf die Hälfte der zusätz­li­chen Lohn­bei­träge zahlen müssen, profi­tieren hingegen gar nicht von der Vorlage. So lässt die SP dann auch durch­blicken, dass der Entscheid gegen eine Erbschafts­steuer bei der Staf mehr prag­ma­ti­scher Natur war: „Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Einfüh­rung einer neuen Steuer vor dem Volk keine Chance hat.” Das sieht auch Marius Brül­hart so, Wirt­schafts­pro­fessor an der Univer­sität Lausanne und Autor der eingangs erwähnten Studie: „Die klare Ableh­nung der Erbschafts­steu­er­initia­tive von 2015 zeigt, dass einer Erbschafts­steuer aus rein vertei­lungs­po­li­ti­schen Argu­menten die poli­ti­sche Unter­stüt­zung fehlt.”

Doch die anste­henden finan­zi­ellen Heraus­for­de­rungen für die Kantone könnten daran bald etwas ändern.

Den Kantonen droht ein Milli­ar­den­loch – Erbschaften wären genug da

Die Umset­zung der Staf liegt bei den Kantonen. Berech­nungen des Schwei­ze­ri­schen Gewerk­schafts­bundes (SGB) zeigen, dass den Ständen aufgrund der damit verbun­denen Steu­er­aus­fälle im Jahr 2020 ein Minus von 1.3 Milli­arden Franken droht. Zudem ächzen die Kantons­fi­nanzen unter den stei­genden Gesund­heits­ko­sten und dem inter­kan­to­nalen Steuerwettbewerb.

Hier zeigt Brül­harts Studie: In der glei­chen Zeit, in der sich das Erbschafts­vo­lumen mehr als verdop­pelt hat (1996: 36 Milli­arden), ist die durch­schnitt­liche Besteue­rung der Erbschaften von 4.1 Prozent auf 1.4 Prozent gesunken. Laut seinen Berech­nungen würde eine Rück­kehr auf 4.1 Prozent den Kantonen alleine 2020 rund 2.5 Milli­arden einspielen. Genug Geld also, um den Effekt der Steu­er­ge­schenke durch die Staf abzu­fe­dern; und Erb*innen erhielten weiterhin 96 Rappen von jedem hinter­las­senen Franken.

Warum verzichten die Kantone also auf dieses Geld? „Dazu kann ich nur speku­lieren”, meint Ökonom Marius Brül­hart auf Anfrage von das Lamm. „Zum einen ist wohl der Leidens­druck bei den Kantonen mögli­cher­weise noch zu klein.” Die Defi­zite müssten sich zuerst bestä­tigen, bevor man zu unbe­liebten Mass­nahmen greife. „Zudem besteht ja noch die Hoff­nung, dass die Einnah­me­aus­fälle durch die Staf mittel­fri­stig kleiner sind als kurzfristig”.

Diese Hoff­nung hegt auch die Finanz­di­rek­to­ren­kon­fe­renz (FDK), der Zusam­men­schluss der 26 kanto­nalen Finanz­di­rek­to­rinnen und Finanz­di­rek­toren. „Zu bedenken ist, dass sich die Staf gemäss Berech­nungen der Eidge­nös­si­schen Steu­er­ver­wal­tung selber finan­ziert und dem Gemein­wesen, v.a. auch den Sozi­al­ver­si­che­rungen, Mehr­ein­nahmen bescheren wird”, schreibt die FDK auf Anfrage. „Die Gegen­fi­nan­zie­rung der Staf über eine erwei­terte Besteue­rung der Erbschaften war in unserer Konfe­renz kein Thema, ebenso wenig wie die Erhö­hung anderer kanto­nalen Steuern.”

Brül­hart kann sich aber auch noch andere Gründe vorstellen, warum sich die Kantone bei der Erhö­hung der kanto­nalen Erbschafts­steuer zieren. Zum einen seien Erbschafts­steuern stark progressiv, die meisten Leute wären gar nie betroffen. „Der ökono­mi­schen Über­le­gung, gemäss der die meisten Stimmbürger*innen der Erbschafts­be­steue­rung wohl­ge­sinnt sein sollten, stehen emotio­nale Argu­mente wie etwa die Verknüp­fung von Tod und Steuern gegen­über.” Ausserdem gibt es bei den Kantonen weiterhin die Vorstel­lung, dass bei der Erbschafts­steuer ein inten­siver Wett­be­werbs­druck herrscht. „Meine Forschung wider­legt diese Vorstel­lung zwar, aber gegen ihre intui­tive Plau­si­bi­lität ist schwer anzu­kommen.” Tatsäch­lich konnte Brül­hart keine Abwan­de­rung von älteren Steuerzahler*innen als Reak­tion auf Erhö­hungen der Erbschafts­steuern nachweisen.

Gene­ra­tio­nen­so­li­da­rität und Klimaschutz

Dabei wäre die Erhö­hung der kanto­nalen Erbschafts­steuer nicht nur ein Segen für die Kantons­fi­nanzen. Sie wäre auch eine effek­tive sozi­al­po­li­ti­sche Mass­nahme und könnte im Kampf gegen die Klima­er­hit­zung einen grossen Beitrag leisten.

Wie das funk­tio­nieren könnte, beschreibt Brül­hart in seiner Studie: „Erbschafts­steu­er­erhö­hungen könnten dann mehr­heits­fähig werden, wenn sie an drin­gende neue Ausgaben gebunden werden oder als Kompen­sa­tion für die Senkung weniger effi­zi­enter anderer Steuern.”

Und der Bedarf scheint da zu sein: Wenn sich der Opti­mismus der Steu­er­ver­wal­tung und der FDK nicht bewahr­heitet und sich die Steu­er­ge­schenke der Staf auch in Zukunft nicht selber finan­zieren, müssen die Kantone wohl oder übel Leistungen kürzen oder anderswo Einnahmen gene­rieren. Eine Erhö­hung der kanto­nalen Erbschafts­steuer wäre eine sach­ge­rechte und soli­da­ri­sche Lösung.

Schliess­lich entfallen alleine auf das einkom­mens­stärkste Prozent der Schweizer Bevöl­ke­rung fast 40 Prozent der Erbschaften von einer Million und mehr. Gleich­zeitig erbt ein Drittel der Schweizer Bevöl­ke­rung nichts, ein weiteres Drittel maximal 50’000 Franken. Und es gibt ein frap­pantes Ungleich­ge­wicht zwischen den Gene­ra­tionen: Rund 60 Prozent der Erbschaften werden von Menschen über sechzig gemacht, nur gerade 1.2 Prozent der Erb*innen sind unter dreissig. Kurz: Jede staat­liche Leistung, die mit einer Erbschafts­steuer finan­ziert wird, würde nur einen sehr privi­le­gierten Teil der Bevöl­ke­rung betreffen, der zudem nicht mehr auf sein Einkommen ange­wiesen ist.

Ein Beispiel zeigt den Nutzen einer erhöhten kanto­nalen Erbschafts­steuer am deut­lich­sten. Die Kantone werden aufgrund der Klima­krise bereits in naher Zukunft Inve­sti­tionen vornehmen müssen. Einige Schät­zungen gehen von einer Milli­arde Franken pro Jahr aus, andere spre­chen von deut­lich mehr. Analysen zeigen, dass beson­ders die Boomer­ge­ne­ra­tion massiv für die Klima­er­wär­mung mitver­ant­wort­lich ist. Das zeigt sich am Pro-Kopf-Budget für CO2-Emis­sionen: Eine Person, die 1946 in Deutsch­land geboren wurde, konnte über ihr ganzes Leben hinweg 954 Tonnen CO2-Emis­sionen verprassen, um das Klima­ziel von 1.5 Grad Erder­wär­mung einzu­halten. Eine Kind, das am glei­chen Ort 2017 geboren wurde, hat noch 103 Tonnen zur Verfü­gung. Die Gene­ra­tion, die heute den Gross­teil aller Erbschaften einstreicht, hat ihr CO2-Budget um das Neun­fache überschritten.

Der Zusam­men­hang zur Erbschafts­steuer ist offen­sicht­lich: Das vererbte Vermögen hat sich dank der starken wirt­schaft­li­chen Entwick­lungen der letzten Jahr­zehnte vermehrt. Im glei­chen Zeit­raum hat sich aber auch die Klima­krise verschärft. Das mindeste, was man mit den absurden 95 Milli­arden also machen kann, ist die Inve­sti­tion in eine nach­hal­tige Zukunft.

Trans­pa­renz: Der Autor sitzt für eine regio­nale Jung­partei im Gemein­de­par­la­ment von Olten in einer Frak­tion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz noch der SP Olten.


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