Das Drama ist schnell beschrieben. Im Dokumentarfilm Der Maulwurf: Ein Detektiv im Altersheim geht ein Rentner als verdeckter Privatermittler in ein ebensolches. Die Tochter einer Bewohnerin hatte ihn engagiert, um angebliche Diebstähle aufzuklären. Anstatt einer Dieb:in auf die Spur zu kommen, wird der Detektiv Augenzeuge der Einsamkeit von Bewohner:innen im Altersheim.
Der Film beginnt mit einem Anstellungsgespräch. „Wie sieht es beim Umgang mit der Technologie aus?“, fragt ein Privatdetektiv. Die Szene zeigt ein halbes Dutzend alter Männer in einem Warteraum. Alle haben die rechtskonservative Zeitung El Mercurio in der Hand. Der Kamerafokus nähert sich der Zeitung. Zu sehen ist eine umkreiste Stellenanzeige. Dort steht: „Gesucht werden männliche Rentner zwischen 80 und 89 Jahren.“ Wieso ausschliesslich Männer? Die Frage wird hier nicht beantwortet.
Der Privatdetektiv, ein echter ehemaliger Kriminalkommissar, interviewt daraufhin die Rentner. Sie sollen getarnt als echte Heimbewohner in ein Altersheim eingeschleust werden. Der ehemalige Kriminalkommissar wird sie dabei begleiten. Dafür müssen sie ein Handy benutzen und damit filmen können. Dies sollen die Männer unter Beweis stellen. Doch es klappt nicht wirklich: „Ich drücke immer wieder auf den Knopf, aber es erscheint kein Foto“, sagt einer verzweifelt.
Am Schluss wird Don Sergio ausgewählt, ein kleiner, dünner, sympathischer alter Mann. Er schleust sich ins Altersheim ein, freundet sich mit anderen Bewohner:innen an und erlebt die alltäglichen Schicksale vor Ort. Mal stirbt eine Heimbewohnerin, mal hat eine andere Geburtstag und es wird mit einem Tanz gefeiert. Jeden Abend liefert er per Sprachnachricht Bericht ab.
Symbolträchtig für das Schicksal der Bewohner:innen ist das Leben von Marta. Sie steht vor dem Eingang des Altersheims hinter einem Gitter und schreit: „Bringt mich zurück zu meiner Mutter.“ Don Sergio notiert in seinem Notizbuch: „Marta wird angelogen. Man sagt, ihre Mutter hätte angerufen, aber eigentlich ist es das Personal des Altersheims. Sie machen das, damit sie ruhig bleibt, weil niemand sie besuchen kommt.“
Der Maulwurf wird zum Protagonisten und Sympathieträger des Films, der teilweise lustig-tollpatschig seine geheime Mission verfolgt. Es ist eine Mischung aus typischen Szenen eines Dokumentarfilms sowie eines Spielfilms. Der Protagonist schleicht sich heimlich von Zimmer zu Zimmer und sucht nach Beweisen für den angeblichen Diebstahl.
Laut der Regisseurin Maite Alberdi handelt es sich in diesem Fall um einen reinen Dokumentarfilm. Sie habe lediglich eine wahre Geschichte mit der Kamera begleitet. Dabei geschah ihr ein erster Fauxpas: Kurz nachdem der Film in Chile veröffentlicht wurde, kam heraus, dass der ehemalige Kriminalpolizist unehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden war. Er soll Anfang der 90er-Jahre gefangene Mitglieder linker Organisationen gefoltert, einige Jahre später Beweise in einem Verfahren zu Drogenhandel versteckt und sich sogar am Drogenhandel beteiligt haben.
Mitten in Europa: Das Chile der Regisseur:innen
Der Film selber reiht sich ein in eine Reihe chilenischer Produktionen, die internationale Bekanntheit erlangt haben. Sie zeigen gesellschaftlich enorm wichtige Themen, wie das Leben von Transgenderpersonen im Fall des Films Eine fantastische Frau, der 2018 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt, oder der Amazon-Prime-Serie La Jauría, die sich dem Thema der Femizide widmet.
Dabei kommen allerdings die Regisseur:innen meist aus der oberen Mittelschicht oder direkt aus der Oberschicht. Wodurch sich all diese Produktionen von der Lebensrealität in Chile deutlich entfernen. Eine chilenische Freundin aus der Arbeiter:innenklasse meinte dazu, dass es ihr schwerfallen würde, sich mit den Personen zu identifizieren.
Auch dieser Film scheitert an einer Darstellung der Lebensrealität von vielen Rentner:innen in Chile. Selbst wenn das Schicksal der vereinsamten Rentner:innen alle betrifft, kommt die Kritik aus der Sicht einer höhergestellten gesellschaftlichen Klasse. In Chile lebt ein Grossteil der Rentner:innen unter dem Existenzminimum und kann sich teilweise nicht einmal ein warmes Essen am Tag leisten. In den Suppenküchen der Armenviertel drängen sich alte Menschen, um ein Brot, ein paar Beutel Tee und etwas Milchpulver zu bekommen.
Der Film entbehrt jeder sozioökonomischen Perspektive. In einem Land, das seit Jahren eine tiefgreifende Debatte um sein Rentensystem führt. So wird beispielsweise nie geklärt, warum Don Sergio selbst in seinem hohen Alter weiterhin arbeiten muss.
Der Dokumentarfilm ist schlussendlich eine weitere Produktion für den europäischen und US-amerikanischen Markt. Der Maulwurf wurde für den deutschen SWR produziert und zuallererst in Deutschland ausgestrahlt.
Er stellt das Chile dar, welches sich die chilenische Elite über Jahrzehnte gewünscht hat. Ein Chile, in dem Armut nur noch am Rande existiert und man sich nicht mehr um die Grundversorgung der Bevölkerung kümmern muss. Doch gerade diese Darstellung hatte zu einer enormen Ignoranz der Politik geführt, der nicht mehr bewusst war, für welches Chile sie regierte: das ihrer Träume oder das in den Strassen der Armenviertel. Die Folge war ein sozialer Aufstand, der im Oktober 2019 begann und bis heute fortwirkt.
Der Maulwurf wirkt fast wie ein Quellendokument jener vorrevolutionären Jahre. Er behandelt die Lebensrealität jener Oberschicht, die in ihren Träumen bereits in Europa angekommen war und ebenfalls mit der Vereinsamung ihrer Rentner:innen zu kämpfen hat. In diesem Sinne ist er erfolgreich. Der Maulwurf wurde zum Oscar für den besten Dokumentarfilm nominiert und sein Protagonist ist in die USA gereist, natürlich in der Business Class.
Der Film ist trotz allem sehenswert, gerade für ein europäisches Publikum. Er ist ein bemerkenswertes Zeitdokument einer gesellschaftlichen Schicht, die sich um das Leben der älteren Menschen zu kümmern beginnt und gleichzeitig einen fatalen Ausschlussmechanismus gegen die eigene Unterschicht durchführt. Es bleibt am Ende ein mulmiges Gefühl über den letzten Lebensabschnitt unserer Generationen.
Bis zum 14. Mai ist der Film in der ARD-Mediathek zu sehen.
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