Der Maul­wurf: Ein Doku­men­tar­film am Rande der Realität

Die deutsch-chile­ni­sche Produk­tion Der Maul­wurf — Ein Detektiv im Alters­heim wurde in der Kate­gorie bester Doku­men­tar­film für den Oscar nomi­niert. Der Film ist eine emotio­nale und mitreis­sende Darstel­lung des Lebens von Rentner:innen, der leider an der privi­le­gierten Herkunft der Autorin scheitert. 
Der Privatdetektiv Rómulo bildet Sergio Chamy für die verdeckte Ermittlung aus. (Foto: SWR)

Das Drama ist schnell beschrieben. Im Doku­men­tar­film Der Maul­wurf: Ein Detektiv im Alters­heim geht ein Rentner als verdeckter Priva­termittler in ein eben­sol­ches. Die Tochter einer Bewoh­nerin hatte ihn enga­giert, um angeb­liche Dieb­stähle aufzu­klären. Anstatt einer Dieb:in auf die Spur zu kommen, wird der Detektiv Augen­zeuge der Einsam­keit von Bewohner:innen im Altersheim.

Der Film beginnt mit einem Anstel­lungs­ge­spräch. „Wie sieht es beim Umgang mit der Tech­no­logie aus?“, fragt ein Privat­de­tektiv. Die Szene zeigt ein halbes Dutzend alter Männer in einem Warte­raum. Alle haben die rechts­kon­ser­va­tive Zeitung El Mercurio in der Hand. Der Kame­ra­fokus nähert sich der Zeitung. Zu sehen ist eine umkreiste Stel­len­an­zeige. Dort steht: „Gesucht werden männ­liche Rentner zwischen 80 und 89 Jahren.“ Wieso ausschliess­lich Männer? Die Frage wird hier nicht beantwortet.

Der Privat­de­tektiv, ein echter ehema­liger Krimi­nal­kom­missar, inter­viewt daraufhin die Rentner. Sie sollen getarnt als echte Heim­be­wohner in ein Alters­heim einge­schleust werden. Der ehema­lige Krimi­nal­kom­missar wird sie dabei begleiten. Dafür müssen sie ein Handy benutzen und damit filmen können. Dies sollen die Männer unter Beweis stellen. Doch es klappt nicht wirk­lich: „Ich drücke immer wieder auf den Knopf, aber es erscheint kein Foto“, sagt einer verzweifelt.

Am Schluss wird Don Sergio ausge­wählt, ein kleiner, dünner, sympa­thi­scher alter Mann. Er schleust sich ins Alters­heim ein, freundet sich mit anderen Bewohner:innen an und erlebt die alltäg­li­chen Schick­sale vor Ort. Mal stirbt eine Heim­be­woh­nerin, mal hat eine andere Geburtstag und es wird mit einem Tanz gefeiert. Jeden Abend liefert er per Sprach­nach­richt Bericht ab.

Symbol­trächtig für das Schicksal der Bewohner:innen ist das Leben von Marta. Sie steht vor dem Eingang des Alters­heims hinter einem Gitter und schreit: „Bringt mich zurück zu meiner Mutter.“ Don Sergio notiert in seinem Notiz­buch: „Marta wird ange­logen. Man sagt, ihre Mutter hätte ange­rufen, aber eigent­lich ist es das Personal des Alters­heims. Sie machen das, damit sie ruhig bleibt, weil niemand sie besu­chen kommt.“

Der Maul­wurf wird zum Prot­ago­ni­sten und Sympa­thie­träger des Films, der teil­weise lustig-toll­pat­schig seine geheime Mission verfolgt. Es ist eine Mischung aus typi­schen Szenen eines Doku­men­tar­films sowie eines Spiel­films. Der Prot­ago­nist schleicht sich heim­lich von Zimmer zu Zimmer und sucht nach Beweisen für den angeb­li­chen Diebstahl.

Laut der Regis­seurin Maite Alberdi handelt es sich in diesem Fall um einen reinen Doku­men­tar­film. Sie habe ledig­lich eine wahre Geschichte mit der Kamera begleitet. Dabei geschah ihr ein erster Fauxpas: Kurz nachdem der Film in Chile veröf­fent­licht wurde, kam heraus, dass der ehema­lige Krimi­nal­po­li­zist uneh­ren­haft aus dem Dienst entlassen worden war. Er soll Anfang der 90er-Jahre gefan­gene Mitglieder linker Orga­ni­sa­tionen gefol­tert, einige Jahre später Beweise in einem Verfahren zu Drogen­handel versteckt und sich sogar am Drogen­handel betei­ligt haben.

Mitten in Europa: Das Chile der Regisseur:innen

Der Film selber reiht sich ein in eine Reihe chile­ni­scher Produk­tionen, die inter­na­tio­nale Bekannt­heit erlangt haben. Sie zeigen gesell­schaft­lich enorm wich­tige Themen, wie das Leben von Trans­gen­der­per­sonen im Fall des Films Eine fanta­sti­sche Frau, der 2018 den Oscar für den besten fremd­spra­chigen Film erhielt, oder der Amazon-Prime-Serie La Jauría, die sich dem Thema der Femi­zide widmet.

Dabei kommen aller­dings die Regisseur:innen meist aus der oberen Mittel­schicht oder direkt aus der Ober­schicht. Wodurch sich all diese Produk­tionen von der Lebens­rea­lität in Chile deut­lich entfernen. Eine chile­ni­sche Freundin aus der Arbeiter:innenklasse meinte dazu, dass es ihr schwer­fallen würde, sich mit den Personen zu identifizieren.

Auch dieser Film schei­tert an einer Darstel­lung der Lebens­rea­lität von vielen Rentner:innen in Chile. Selbst wenn das Schicksal der verein­samten Rentner:innen alle betrifft, kommt die Kritik aus der Sicht einer höher­ge­stellten gesell­schaft­li­chen Klasse. In Chile lebt ein Gross­teil der Rentner:innen unter dem Existenz­mi­nimum und kann sich teil­weise nicht einmal ein warmes Essen am Tag leisten. In den Suppen­kü­chen der Armen­viertel drängen sich alte Menschen, um ein Brot, ein paar Beutel Tee und etwas Milch­pulver zu bekommen.

Der Film entbehrt jeder sozio­öko­no­mi­schen Perspek­tive. In einem Land, das seit Jahren eine tief­grei­fende Debatte um sein Renten­sy­stem führt. So wird beispiels­weise nie geklärt, warum Don Sergio selbst in seinem hohen Alter weiterhin arbeiten muss.

Der Doku­men­tar­film ist schluss­end­lich eine weitere Produk­tion für den euro­päi­schen und US-ameri­ka­ni­schen Markt. Der Maul­wurf wurde für den deut­schen SWR produ­ziert und zual­ler­erst in Deutsch­land ausgestrahlt.

Er stellt das Chile dar, welches sich die chile­ni­sche Elite über Jahr­zehnte gewünscht hat. Ein Chile, in dem Armut nur noch am Rande existiert und man sich nicht mehr um die Grund­ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung kümmern muss. Doch gerade diese Darstel­lung hatte zu einer enormen Igno­ranz der Politik geführt, der nicht mehr bewusst war, für welches Chile sie regierte: das ihrer Träume oder das in den Strassen der Armen­viertel. Die Folge war ein sozialer Aufstand, der im Oktober 2019 begann und bis heute fortwirkt.

Der Maul­wurf wirkt fast wie ein Quel­len­do­ku­ment jener vorre­vo­lu­tio­nären Jahre. Er behan­delt die Lebens­rea­lität jener Ober­schicht, die in ihren Träumen bereits in Europa ange­kommen war und eben­falls mit der Verein­sa­mung ihrer Rentner:innen zu kämpfen hat. In diesem Sinne ist er erfolg­reich. Der Maul­wurf wurde zum Oscar für den besten Doku­men­tar­film nomi­niert und sein Prot­ago­nist ist in die USA gereist, natür­lich in der Busi­ness Class.

Der Film ist trotz allem sehens­wert, gerade für ein euro­päi­sches Publikum. Er ist ein bemer­kens­wertes Zeit­do­ku­ment einer gesell­schaft­li­chen Schicht, die sich um das Leben der älteren Menschen zu kümmern beginnt und gleich­zeitig einen fatalen Ausschluss­me­cha­nismus gegen die eigene Unter­schicht durch­führt. Es bleibt am Ende ein mulmiges Gefühl über den letzten Lebens­ab­schnitt unserer Generationen.

Bis zum 14. Mai ist der Film in der ARD-Media­thek zu sehen.


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