Chile: Eine Elite in der Krise

Chile schlit­tert derzeit in eine tiefe gesund­heit­liche, soziale und wirt­schaft­liche Krise. In der NZZ ist zu lesen, dass diese mit der Revolte durch die „Mille­nials“ begonnen hat. Dabei hat Chile histo­ri­sche Probleme, etwa fehlende Gerech­tig­keit im Justiz­ap­parat, soziale Ungleich­heiten und eine unge­nü­gende Demo­kratie. Eine Gegen­ana­lyse zum verscho­benen Geschichts­ver­ständnis in der NZZ. 
Die chilenische Polizei ging massiv gegen die Student*innenproteste vergangenen Oktober vor. (CC by Caterina Muñoz Ramírez)

„Wohl­stand ist nicht alles: Was künf­tige Staats­gründer von Chile lernen können“, titelt die NZZ in einer Analyse von Iván Jaksic, die ins Deut­sche über­setzt wurde. Iván Jaksic arbeitet seit Jahren an der Stan­ford Univer­sity in den USA und ist nebenbei Präsi­dent des Forschungs­zen­trums für poli­ti­sche Geschichte an der privaten Univer­sität Adolfo Ibañez in Sant­iago de Chile, einer Elite­uni­ver­sität, die nach einem Mini­ster der ersten chile­ni­schen Mili­tär­dik­tatur im 20. Jahr­hun­dert benannt ist.

Der Artikel diagno­sti­ziert fehlendes Vertrauen vonseiten der Bevöl­ke­rung in den chile­ni­schen Staat und fordert deshalb, dieser solle sich neu erfinden und dem Allge­mein­wohl Sorge tragen.

Eine zutref­fende, wenn auch nicht wirk­lich krea­tive Analyse. So sind die chile­ni­sche Regie­rung und der damit zusam­men­hän­gende Staats­ap­parat in den letzten Monaten wegen massiver Menschen­rechts­ver­let­zungen und einer komplett fehl­ge­schla­genen Bekämp­fung des Coro­na­virus noch stärker in Verruf geraten, als sie es sowieso schon waren.

Doch liest man etwas genauer zwischen den Zeilen, lassen sich neoli­be­rale Geschichts­klit­te­rung und Staats­phobie in jenem Artikel erkennen. Der Autor, selbst Teil der chile­ni­schen Elite, baut einen Diskurs auf, in dem nicht etwa das klep­to­ma­ni­sche Verhalten der chile­ni­schen Olig­ar­chie oder die wach­sende Ungleich­heit Schuld an der aktu­ellen Krise haben, sondern sozi­al­staat­liche Modelle der Vergan­gen­heit, fehlendes histo­ri­sches Bewusst­sein und die „Gratis­men­ta­lität“ der jüngeren Generationen.

Am Anfang war das Nichts

Jaksic hat recht, wenn er sagt, dass in Chile am Anfang der Staat war, nicht die Nation. Doch dann beginnt er abzu­schweifen in zum Teil abstruse Geschichts­ver­klä­rungen. So war es nicht – wie Jaksic fälsch­li­cher­weise behauptet – der Staat, welcher Schulen, Spitäler und öffent­liche Infra­struktur aufbaute, sondern die Kirche und private Unter­nehmen. Der Staat war zu Beginn nicht mehr als ein Zirkel der wirt­schaft­li­chen Eliten, unfähig, eine wirk­liche Nation aufzu­bauen. Die Kirche kümmerte sich bis ins 20. Jahr­hun­dert um die öffent­liche Fürsorge, während private auslän­di­sche Minen­un­ter­nehmen im Norden Eisen­bahn­strecken bauten und die deut­sche AEG das Stras­sen­bahn­netz von Sant­iago und Valpa­raiso elektrifizierte.

Derweil setzte die Olig­ar­chie das fort, was sie seit Beginn der Erobe­rung von Amerika immer getan hatte: Krieg zur Ausbrei­tung des Terri­to­riums, Zwangs­ar­beit, Export von Rohstoffen und Import feiner Waren. Gesetze zum Schutz der arbei­tenden Bevöl­ke­rung gab es nicht. Es war der junge General Carlos Ibañez del Campo, der 1925 putschte und in den darauf­fol­genden Jahren den Staat massiv ausbaute und die ersten Gesetze zum Arbeits­schutz einführte.

Im Verlauf des 20. Jahr­hun­derts forcierten staat­liche Regie­rungen eine Indu­stria­li­sie­rung des Landes. Erst jetzt begann der Staat sich wirk­lich um Schulen, Spitäler und die öffent­liche Infra­struktur zu kümmern. Hier sieht Jaksic das Verderben Chiles: Zuneh­mende Verstaat­li­chung, Subven­tionen und poli­ti­sche Span­nungen hätten zum Mili­tär­putsch von 1973 geführt. Dabei über­sieht der Autor, dass erst zu jener Zeit ein Gross­teil der Bevöl­ke­rung poli­ti­sches Mitspra­che­recht erhielt und durch staat­liche Förder­pro­gramme endlich Teil der Gesell­schaft werden konnte. Erst jetzt wurde eine wirk­liche Nation geschaffen.

Dieser neue Teil der Bevöl­ke­rung, über Jahr­hun­derte unter­drückt, begann gleich­zeitig auch weiter­ge­hende Forde­rungen zu stellen, was zu einer Anspan­nung der poli­ti­schen Lage führte. Der Putsch war eine Reak­tion darauf. Doch die Linke und ihre sozialen, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Demo­kra­ti­sie­rungs­be­stre­bungen für eine der brutal­sten Mili­tär­dik­ta­turen Latein­ame­rikas verant­wort­lich zu machen, ist eine Art von Geschichts­klit­te­rung, die nur allzu gerne in den Hörsälen der Elite-Unis in Chile verbreitet wird – und anschei­nend auch in der NZZ Anklang findet.

Von der Mili­tär­dik­tatur zur neoli­be­ralen Demokratie

Unter der Mili­tär­dik­tatur von Augusto Pino­chet wurde der Staats­ap­parat priva­ti­siert und grosse Teile der öffent­li­chen Aufgaben an gewinn­ori­en­tierte Akteure vergeben. Gleich­zeitig – und das erwähnt Jaksic nicht – verfolgte die Diktatur jegli­chen Wider­stand, verhaf­tete, folterte und ermor­dete Tausende Chilen*innen. Während die Bevöl­ke­rung hungerte, schacherten sich die Wirt­schafts­eliten profi­table Staats­un­ter­nehmen zu; auch die Familie von Pino­chet berei­cherte sich dadurch.

Aufgrund der gras­sie­renden Armut setzte in den 80er-Jahren eine massive Protest­welle im Land ein, auf die in alter Tradi­tion mit Ausgangs­sperren und Militär geant­wortet wurde. Erst nachdem Pino­chet eine demo­kra­ti­sche Abstim­mung über den Verbleib der Diktatur ange­setzte hatte, flauten die Proteste ab. Fast alle demo­kra­ti­schen Kräfte kämpften gemeinsam für ein Nein zu Pino­chet. Geworben wurde mit einem neuen Chile: demo­kra­tisch, frei und wohl­ha­bend. „Chile, la alegría ya viene“: Chile, die Freude kommt, hiess es auf den Häuserwänden.

Spätere Mitte-links-Regie­rungen versuchten zwar, dem chile­ni­schen Neoli­be­ra­lismus ein sozia­leres Antlitz zu geben, priva­ti­sierten gleich­zeitig aber kräftig weiter. Jaksic spricht hierbei von „Sach­zwängen“ – doch diese lagen genauso wenig auf der Hand wie bei Schrö­ders Reformen in Deutsch­land. Die chile­ni­sche Linke hatte sich New Labour zuge­wandt und vergab die öffent­liche Wasser­ver­sor­gung, das Strom­netz und vieles mehr an private Hände. Auch die Diktatur wurde lange nicht belangt. Jaksic nennt dies „einen Kompro­miss“ – die Diktatur hörte auf, aber ihre Insti­tu­tionen blieben unan­ge­ta­stet. Die Verfas­sung von 1980 blieb bestehen und Pino­chet verewigte sich als Ober­be­fehls­haber der Streit­kräfte. Er setzte diesen „Kompro­miss“ mit Kanonen durch. Als 1993 die Regie­rung von Ricardo Lagos zu unsau­beren Geschäften des Sohns des Dikta­tors ermit­teln wollte, umstellte dieser wich­tige Regie­rungs­ge­bäude mit Elite­sol­daten. Die Fälle wurden nie aufgeklärt.

Die Revo­lu­tion der „Mille­nials“

Doch dann kamen die „Mille­nials“, laut Jaksic Schuld an allem Unheil. Sie gingen auf die Strasse, um das Recht auf Bildung einzu­for­dern und die krasse Ungleich­heit anzu­pran­gern. Aber das erwähnt Jaksic kaum, auch gibt es für ihn keine Gewerk­schafts­be­we­gung oder Proteste gegen das priva­ti­sierte Renten­sy­stem. Jaksic empört sich lieber darüber, dass Studie­rende über Dreh­kreuze sprangen, „um sich den Fahr­preis zu sparen“, oder dass Bürger­steige „zu einer Kampf­zone zwischen Fuss­gän­gern und Radfah­rern“ wurden. Schlimm: Plötz­lich war die Studie­ren­den­schaft nicht mehr das veräng­stigte Subjekt einer Diktatur, sondern klagte zu Recht gegen zu hohe ÖV-Preise. Das war schliess­lich auch der Auslöser der Revolte vom Oktober 2019.

Über 400 Personen verloren aufgrund von Projek­tilen in den ersten zwei Monaten der Proteste minde­stens ein Augen­licht. (CC by Cate­rina Muñoz Ramírez)

Am 18. Oktober 2019 kam es zum Ausbruch der Wut, die „Gewalt eska­lierte dann rasch und führte in allen Gross­städten zu chao­ti­schen Verhält­nissen – insbe­son­dere in der Haupt­stadt Sant­iago“, schreibt Jaksic. „Eine in die Defen­sive gedrängte Regie­rung war zu einer Reihe von Konzes­sionen gezwungen, zu denen der Volks­ent­scheid über eine neue Verfas­sung gehörte.“ Dass diese Regie­rung zuvor auf die eigene Bevöl­ke­rung schiessen liess, den Kriegs­zu­stand erklärte und erst nach Wochen der Proteste den Volks­ent­scheid ankün­digte, vergisst Jaksic leider zu erwähnen. Für ihn ging „die Gewalt weiter, was Zerstö­rungen in der Infra­struktur (speziell bei den U‑Bahn-Stationen) nach sich zog“. Auch hier vergisst er, dass die Metro­sta­tionen in Sant­iago bereits zu Beginn der Proteste in Flammen aufgingen. Tatsäch­lich ging „die Gewalt weiter“, aber in erster Linie dieje­nige der Polizei – über 400 Personen verloren aufgrund von Projek­tilen in den ersten zwei Monaten der Proteste minde­stens ein Augen­licht. Der Staat und die Regie­rung zerstörten das Vertrauen der Bevöl­ke­rung selber, mit Panzern und Sturm­ge­wehren auf der Plaza Italia, dem Ausgangs­punkt der Proteste.

Die chile­ni­sche Polizei ging massiv gegen die Student*innenproteste vergan­genen Oktober vor. (CC by Cate­rina Muñoz Ramírez)

Auch heute zeigt sich auf tragi­sche Weise, wie abge­schottet vom Rest der Gesell­schaft die chile­ni­sche Regie­rung lebt. Nachdem über Wochen die Mass­nahmen zur Eindäm­mung des Coro­na­virus nicht griffen und die Regie­rung dafür das Verhalten der Bevöl­ke­rung verant­wort­lich gemacht hatte, gab der Gesund­heits­mi­ni­ster Jaime Maña­lich zu: „Ich hatte keine Ahnung vom Ausmass der Armut und der Enge, in der diese Menschen zusam­men­leben.“ Denn gerade in den armen Haupt­stadt­vier­teln, jenen die von der Univer­sidad Adolfo Ibañez aus zu sehen sind, wohnen oft mehrere Gene­ra­tionen unter einem Dach und leben von der Hand in den Mund. Ein #Stay­thefuck­home ist hier fast unmöglich.

Die chile­ni­sche Elite hat die Bevöl­ke­rung in eine Kata­strophe geritten. Dass ihre Ideo­logen jetzt bemerken, dass da etwas nicht stimmt, ist ein Anfang. Doch das neue Chile muss drin­gend demo­kra­ti­sche Reformen einleiten, die staat­lich sank­tio­nierte Gewalt stoppen und auf die Nöte der Bevöl­ke­rung reagieren. Ein erster Schritt dazu ist eine neue Verfas­sung. Im Oktober werden die Chilen*innen abstimmen, ob sie die alte Verfas­sung aus den Zeiten der Diktatur hinter sich lassen wollen.

Anstelle dieser kommt hoffent­lich eine, die die Wünsche und Reali­täten der Bevöl­ke­rung wider­spie­gelt. Jaksic spricht hier von einem neuen Staat, der „für das gute Leben der Bürger“ einstehen soll. Das klingt schön – aber es bedeutet jahr­hun­der­te­alte Privi­le­gien abzu­werfen und die Proteste ernst zu nehmen. Denn genau das verlangen die Prote­stie­renden, ein Leben in Würde für alle. Die Antwort der Elite sah bislang gift­grün aus: Tränengas, Schrot­ku­geln und Wasserwerfer.

Einen guten Über­blick über die jüngere Geschichte Chiles liefert die Sonder­aus­gabe der Latein­ame­rika Nach­richten aus dem Jahr 2013: https://lateinamerika-nachrichten.de/wp-content/uploads/2015/01/Dossier_Chile_Web.pdf

 


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