Die verges­senen Kinder­sklaven der Schweiz

Bis in die 1960er-Jahre wurden in der Schweiz Zehn­tau­sende Kinder aus armen Fami­lien gerissen und auf Bauern­höfen fremd­plat­ziert. Lange totge­schwiegen, gibt es mitt­ler­weile mehrere Ausstel­lungen, Filme und Studien darüber. Doch wie viel Platz erhalten die Stimmen der Betroffenen? 
Von 1800 bis in die 1970er-Jahre lagen fürsorgerische Zwangsmassnahmen, in der Schweizer Geschichte bezeichnet als Verdingung, an der Tagesordnung. Auf dem Bild zu sehen: Verdingkinder um 1941. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

Im Theater Toffen im Kanton Bern spielte bis Mitte Mai 2022 das Thea­ter­stück Verding­bueb. Darin geht es um Max, ein Waisen­kind, das zuerst im Heim unter­ge­bracht und anschlies­send zu der Familie Bösiger auf den „Schat­te­hoger“ geschickt wird. Dort beginnt für ihn eine Odyssee, welche den Zuschauer*innen eindrück­lich vermit­telt, welche Erleb­nisse Verding­kinder durch­ma­chen mussten.

Eine von ihnen ist Hedwig*. In einem Pfle­ge­heim für Demenz­kranke in Bern sitzt sie auf ihrem Bett. Ihr Blick ist leer. Ihr Gesicht gezeichnet von der Vergan­gen­heit. Sie erin­nert sich noch gut. Die Vormund­schafts­be­hörde entreisst die 10-Jährige ihren Eltern und bringt sie im Rahmen einer soge­nannten fürsor­ge­ri­schen Zwangs­mass­nahme auf einem Bauernhof unter.

„Ich weiss noch genau, wie ich behan­delt wurde. Schlafen musste ich in der Scheune. Jeden Tag hat mich der Bauer ernied­rigt und geschlagen“, meint sie im Gespräch. Im Jahr 1940 ändert sich ihr Leben drastisch. Es besteht fortan aus Arbeit, Miss­hand­lung und Demü­ti­gung. Essen gibt es nicht viel, und wenn, dann nur altes oder verschim­meltes, wie sie erzählt. Die Arbeit auf dem Bauernhof, als Magd, ist hart. „Ich musste jeden Tag arbeiten und die Bauern­fa­milie zufrie­den­stellen“, erzählt sie. Heute rede sie nur ungern über das Erlebte.

Fremd­plat­zie­rungen unter dem Deck­mantel des Kindeswohls

Ihr Schicksal ist in der Schweiz kein Einzel­fall. Von 1800 bis in die 1960er-Jahre (verein­zelt bis in die 1970er) lagen fürsor­ge­ri­sche Zwangs­mass­nahmen, in der Schweizer Geschichte bezeichnet als Verdin­gung, an der Tages­ord­nung. Zehn­tau­sende Kinder unter­schied­li­chen Alters – meist unehe­lich geboren, in armen oder Schei­dungs­fa­mi­lien lebend oder verwaist – fielen ihr zum Opfer. Eine der bedeu­tend­sten Studien zum Thema verfassten 2015 die beiden Historiker*innen Marco Leuen­berger und Loretta Seglias.

In ihrem Buch mit dem Titel Geprägt fürs Leben: Lebens­welten fremd­plat­zierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahr­hun­dert versu­chen sie einer­seits die Lebens­welten der fremd­plat­zierten Kinder nach­zu­bilden, ande­rer­seits deren Wech­sel­wir­kung mit den dafür verant­wort­li­chen Struk­turen aufzuzeigen.

Anhand von Inter­views mit Zeitzeug*innen und schrift­li­chen Quellen zwischen 1912 und 1978 zeichnen die beiden Autor*innen nach, wie sich arme Fami­lien jedes Jahr bei der Gemeinde melden mussten, um sich einer soge­nannten Etat-Aufnahme zu unter­ziehen. Dabei wurde fest­ge­stellt, wie viel Geld eine Familie besass und ob sie sich selbst versorgen konnte.

Konnte sich die Familie nicht selbst versorgen, entschied die Gemeinde meist, ein oder zwei Kinder zu verdingen, um die Ausgaben der Sozi­al­hilfe zu redu­zieren. Indem der Staat das Problem der Armut auf das Fehl­ver­halten der Familie über­stülpte – so Leuen­berger und Seglias – wurden die Kinder unter dem Deck­mantel des Kindes­wohls von der Vormund­schafts­be­hörde abge­holt und auf Bauern­höfen oder in Heimen platziert.

Anhand der Schil­de­rungen der Betrof­fenen zeigen Leuen­berger und Seglias auf, wie jene, die auf einen Bauernhof geschickt wurden, von Gesell­schaft und staat­li­cher Fürsorge isoliert wurden, nur selten die Schule besu­chen konnten und statt­dessen auf dem Hof arbeiten mussten. Auch das gesell­schaft­liche und mediale Inter­esse sei laut Leuen­berger und Seglias die meiste Zeit gering gewesen.

Schon im 19. Jahr­hun­dert wurde promi­nente Kritik an der Verdin­gung laut, wie jene des Pädagogen Johann Hein­rich Pesta­lozzi oder des Schrift­stel­lers Jere­mias Gott­helf. Die erste Kontroll­in­stanz über das System der Verdin­gung wurde jedoch erst mit dem 1978 in Kraft getre­tenen Gesetz über die Aufnahme von Pfle­ge­kin­dern geschaffen. Dieses führte eine Bewil­li­gungs­pflicht zur Aufnahme von Pfle­ge­kin­dern und regel­mäs­sige Kontrollen der Pfle­ge­el­tern ein.

Mit der Revi­sion des Zivil­ge­setz­bu­ches 1981 wurden diese Bestim­mungen auf alle Kantone übertragen.

Skla­ven­märkte im Herzen der Schweiz

Das Gesetz von 1978 markierte einen Meilen­stein, den viele der neueren Studien zum Thema – so auch jene von Leuen­berger und Seglias – als Ende des unter­suchten Zeit­rah­mens verwenden.

Teil der histo­ri­schen Aufar­bei­tung der Verdin­gung in der Schweiz ist aber auch ein Blick zurück ins 19. Jahr­hun­dert. Wie das Histo­ri­sche Lexikon der Schweiz (HLS) im Über­sichts­ein­trag zur Verdin­gung schreibt, wurden Kinder im 19. Jahr­hun­dert bis in die 1920er-Jahre hinein oft auf Verding­märkten feil­ge­boten. Wer am wenig­sten Kost­geld verlangte, bekam den Zuschlag und durfte das Pfle­ge­kind, so die offi­zi­elle Bezeich­nung, gleich mitnehmen. 

Doch nicht nur auf Verding­märkten wurde mit Kindern gehan­delt: Manchmal wurden sie von der Vormund­schafts­be­hörde auch unter reichen Fami­lien verlost. Sobald die Kinder vermit­telt waren, war die Arbeit für die Behörde erle­digt. Ihrer Aufsichts­pflicht kam die Behörde nur in den selten­sten Fällen nach. Die Stimmen in der Bevöl­ke­rung, die dagegen prote­stierten, verhallten meist ungehört.

Fehlende Kinder­rechte und Armut seien die trei­benden Faktoren für solche Skla­ven­märkte gewesen, wie Histo­riker Marco Leuen­berger 2005 in einem Inter­view mit Swis­s­info erzählt. Begriffe wie Kinder­rechte oder das Recht auf Schul­bil­dung fehlten im 19. Jahr­hun­dert in der Verfas­sung. Erst im Jahr 1924 mit der Verab­schie­dung der Genfer Erklä­rung wurden Kindern erste Rechte eingeräumt.

Die Politik blieb lange untätig

Als im Oktober 2011 der Film Der Verdingbub in den Schweizer Kinos erschien, schwappte erst­mals der Schrecken, der die Verdin­gung mit sich brachte, in eine breite Öffentlichkeit.

Im Jahr 2013 entschul­digte sich die dama­lige Justiz­mi­ni­sterin Simo­netta Somma­ruga öffent­lich bei ehema­ligen Verding­kin­dern. Die Guido-Fluri-Stif­tung eröff­nete im Mai 2014 in einem ehema­ligen Kinder­heim die Gedenk­stätte für Heim- und Verding­kinder in Mümliswil (SO). Mit ihrer Ausstel­lung ist sie bis heute eine Anlauf­stelle zum Gedenken und Erin­nern an das den ehema­ligen Verding­kin­dern zuge­fügte Leid.

Eben­falls im Jahr 2014 wurde im Parla­ment das Bundes­ge­setz über die Reha­bi­li­tie­rung admi­ni­strativ versorgter Menschen verab­schiedet und die Wieder­gut­ma­chungs­in­itia­tive wurde einge­reicht. Zu den admi­ni­strativ versorgten Menschen zählen auch die Verding­kinder. Die Initia­tive verlangte, dass ein Fond mit 500 Millionen Franken einge­richtet wird. Daraus sollten Entschä­di­gungs­zah­lungen entrichtet werden.

Die Politik war sich partei­über­grei­fend einig, dass etwas zur Aufar­bei­tung der Verdin­gung getan werden müsse. Der Bundesrat unter­brei­tete daraufhin einen Gegen­vor­schlag. Es sollte ein Fond mit 300 Millionen Franken einge­richtet werden. Die Wieder­gut­ma­chungs­in­itia­tive wurde unter der Bedin­gung zurück­ge­zogen, dass der Gegen­vor­schlag umge­setzt wird. Dies geschah 2016, als National- und Stän­derat dem Gegen­vor­schlag zustimmten. Der Weg für Entschä­di­gungs­zah­lungen war somit frei.

Schät­zungen zufolge lebt heute noch eine fünf­stel­lige Anzahl ehema­liger Verding­kinder in der Schweiz. Über 9’000 Gesuche für Entschä­di­gungs­zah­lungen gingen nach Annahme des Gegen­vor­schlags bei den Behörden ein. Teils schwer gezeichnet und immer noch mit den Folgen der Vergan­gen­heit kämp­fend, sorgen sie dafür, dass ihr Leid nicht vergessen wird.

Als Hedwig voll­jährig wurde, war die Vormund­schafts­be­hörde nicht mehr für sie verant­wort­lich. Endlich frei, dachte sie sich − frei zu gehen und sich eine Arbeit zu suchen. Bald darauf heira­tete sie und bekam drei Kinder. Die Vergan­gen­heit auf dem Bauernhof liess sie jedoch nicht mehr los. Anderen Menschen zu vertrauen fällt ihr noch immer schwer.

„Damit hatte ich nicht mehr gerechnet, aber besser spät als nie“, meint Hedwig, als sie von den Entschä­di­gungs­zah­lungen spricht. „Die ganzen Formu­lare ausfüllen und Unter­lagen einrei­chen, das war mir zu viel in meinem Alter.“ Nur dank der Unter­stüt­zung von Freund*innen und Verwandten habe sie ihre Entschä­di­gung erhalten. Zur Bewäl­ti­gung des Traumas hilft ihr das Geld nicht. Denn vergessen wird sie diesen Abschnitt ihres Lebens, trotz Demenz, nie.

Um bei den Anträgen für Entschä­di­gungs­zah­lungen unter­stützt zu werden, können sich Betrof­fene bei der kanto­nalen Opfer­be­ra­tungs­stelle melden, die ausserdem versucht, indi­vi­du­elle Biogra­phien aufzu­ar­beiten. Die Perspek­tiven und Lebens­welten der Betrof­fenen sicht­barer zu machen, darin besteht auch die Aufgabe von Politik, Gesell­schaft, Wissen­schaft und Kultur. Denn die Veröf­fent­li­chung von Der Verdingbub vor über zehn Jahren zeigt, dass genau dies zu poli­ti­schem Handeln beitragen kann.

*Der Nach­name der betrof­fenen Person wird auf ihren Wunsch hin nicht genannt (Anm. d. Red.)

**In einer früheren Version dieses Arti­kels wurde behauptet, dass sich die Politik nach der öffent­li­chen Entschul­di­gung Simo­netta Somma­rugas 2013 vorläufig nicht mehr mit dem Thema beschäf­tigte. Das stimmte nicht. Wir haben die entspre­chende Stelle geän­dert. Ausserdem wurde darauf hinge­wiesen, dass Betrof­fene sich bis heute oft selbst orga­ni­sieren müssen, um Entschä­di­gungs­zah­lungen zu erhalten. Jedoch können sie sich kostenlos bei der kanto­nalen Opfer­be­ra­tungs­stelle melden, die sie beim Ausfüllen der Anträge unter­stützen und ihre Biogra­phien aufarbeiten. 


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