Ecuador: Schwarze Rauch­säulen am Horizont

Das Corona-Virus trifft Ecuador mit erschreckender Wucht. Das Gesund­heits­sy­stem ist über­la­stet, das Bestat­tungs­sy­stem zusam­men­ge­bro­chen. Dass die Lage derart prekär ist, hat struk­tu­relle Gründe, und die Situa­tion droht sich weiter zuzuspitzen. 
Eine Bewohnerin Guayaquils vor einem öffentlichen Spital. (Foto: Jorge Elías Cubero Toro)

Jeden Tag sieht der 38-jährige Jorge Elías Cubero Toro von seiner Wohnung aus in der Ferne schwarze Rauch­säulen empor­steigen: „Was das bedeutet, kann ich nur vermuten.“ Er lebt im südli­chen Zentrum Guaya­quils, der am stärk­sten von Corona betrof­fenen Stadt Ecua­dors mit einer der höch­sten Präva­lenz­raten der Welt. Cubero Toro kennt die vielen Videos, die momentan im Internet kursieren: Sie zeigen Menschen, die aus Verzweif­lung ihre verstor­benen Ange­hö­rigen verbrennen, weil sie nicht mehr bestattet werden können.

Auch, weil es in Ecuador kaum Krema­to­rien gibt. Die meisten Einwohner*innen können sich die Einäsche­rung ihrer Ange­hö­rigen nicht leisten, und die Fried­höfe sind über­la­stet. Inzwi­schen fällt für die Bestat­tung sogar ein Sonder­tarif an.

Die Leute auf den Strassen Guaya­quils sind der Meinung, der Staat habe versagt, sagt Cubero Toro. „Er igno­riert die Bitten der Menschen aus den Vorstädten und den am stärk­sten betrof­fenen Gebieten der Stadt.“ Denn dass das System zur Abho­lung und Pflege von Toten in sich zusam­men­ge­bro­chen ist, ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch die Kapa­zi­täten des Gesund­heits­sy­stems der Provinz sind längst ausge­schöpft. „Die, die das Glück haben, behan­delt zu werden, sterben meistens im Gesund­heits­zen­trum“, sagt Cubero Toro. Wie es vielen anderen in seinem Quar­tier gehe, habe er selbst miter­lebt, erzählt er: „Vor einer Klinik nur wenige Blocks von hier schrie kürz­lich eine Frau am Eingang des Notfalls nach Hilfe, ihr Mann war zusam­men­ge­bro­chen – aber der Eintritt in die Klinik blieb ihnen verwehrt.“

Zahlen werden vertuscht

Am Freitag sagte der Bürger­mei­ster der Provinz Guayas Carlos Luis Morales gegen­über CNN, dass ihm die Veröf­fent­li­chung der aktu­ellen Zahlen von der Regie­rung um Lenín Moreno verboten worden sei. Kürz­lich wurde eine Task-Force ins Leben gerufen, um mehr Verstor­bene bergen zu können. Ihr Spre­cher Jorge Wated spricht von 100 Toten, die seine Task-Force jeden Tag aus den Häusern Guaya­quils abhole.

Die Allge­mein­ärztin Sharon Velasco arbeitet fünf Stunden entfernt von Guaya­quil in der Provinz Santo Domingo de los Tsáchilas in der Quali­täts­si­che­rung eines öffent­li­chen Spitals. Auch hier werden Patient*innen aus Guaya­quil betreut, die aufgrund der prekären Lage des dortigen Gesund­heits­sy­stems mit eigenen Mitteln nach Santo Domingo gereist sind. „Dass hier das gleiche wie in Guaya­quil eintrifft, ist nur eine Frage der Zeit, wenn wir keine Unter­stüt­zung von der Regie­rung bekommen“, meint Velasco.

Dabei schien es zunächst so, als sei Ecuador eines der südame­ri­ka­ni­schen Länder, die im Wett­lauf gegen das Virus recht­zeitig Mass­nahmen ergriffen hatten. Die Regie­rung schloss die Grenzen schon Mitte März und verhängte verschie­dene Dekrete, die das öffent­liche Leben einschränkten. Aller­dings arbeitet die Hälfte der Einwohner*innen Ecua­dors im infor­mellen Sektor, und die Ausgangs­sperren wurden vermut­lich nicht wirk­lich einge­halten. Auch Cubero Toro berichtet von bevöl­kerten Strassen trotz der Ausgangs­sperre von 14:00 Uhr bis 05:00 Uhr morgens.

Der Zenit ist noch nicht erreicht

Sharon Velasco rechnet in den näch­sten Wochen mit einem markanten Anstieg der Infi­zierten in Santo Domingo de los Tsáchilas und in den anderen Regionen Ecua­dors. „Und wir sind nicht darauf vorbereitet.“

Es fehle zum einen an medi­zi­ni­schem Personal – obwohl Ecuador eigent­lich über genü­gend ausge­bil­dete Fach­kräfte verfüge. „Das Problem ist der Abzug von Mitar­bei­tenden in den Spitä­lern von Guaya­quil“, sagt Velasco. Laut ihr wurden rund 40 Prozent des medi­zi­ni­schen Perso­nals aus den Spitä­lern abge­zogen oder sie haben selbst gekün­digt, weil für sie ein erhöhtes Risiko besteht, an Covid-19 zu erkranken.

Dies werde von der Regie­rung aus verschie­denen Gründen aber nicht kommu­ni­ziert. Einer­seits fehle es an Berichten, die die Arbeits­ab­läufe und die Situa­tion in den Spitä­lern doku­men­tieren, und ande­rer­seits arbeitet das admi­ni­stra­tive Personal, das diese Proto­kolle erstellen sollte, jetzt von Zuhause aus. „Berichte zur Situa­tion im Spital zu verfassen, stelle ich mir so als sehr schwierig vor“, meint Velasco. „Wir sind jetzt aber an einem Punkt ange­langt, wo die Behörden nicht mehr vertu­schen können, was hier geschieht.“

Zum anderen – und vor allem – fehle es an medi­zi­ni­schem Zubehör, sagt die Ärztin. An Schutz­ma­te­rial, Medi­ka­menten – und Beatmungs­ge­räten. Laut Velasco liege die Morta­li­täts­rate in den Inten­siv­sta­tionen Guaya­quils bei fast 100 Prozent. „Wir sind tech­nisch in ganz Ecuador im öffent­li­chen Bereich viel zu wenig gut ausge­rü­stet, um die Pati­enten richtig versorgen zu können“, sagt sie.

Sharon Velasco arbeitet in einem öffent­li­chen Spital in der Provinz Santo Domingo de los Tsáchilas. Foto: Sharon Velasco

Zu wenig Hilfe – zu spät

Von Seiten der Regie­rung wurde am Wochen­ende in einem Commu­niqué die Bereit­stel­lung einer Spende der südame­ri­ka­ni­schen Gesund­heits­or­ga­ni­sa­tion (PAHO) von Opera­ti­ons­kit­teln, Hand­schuhen, Masken und weiterem Zubehör für das medi­zi­ni­sche Personal ange­kün­digt. Velaz­quez zufolge kommt diese Hilfe zu spät, und sie ist unge­nü­gend. „Nach wie vor gibt es kein natio­nales Gesetz, dass die Hand­ha­bung der Grund­ver­sor­gung regelt“, sagt sie. So gibt es keine Preis­über­wa­cher bei den Hygie­ne­pro­dukten und auch keine Verfügbarkeitsregelung.

Auch Cubero Toro ist der Meinung, dass sich die Einwohner Guaya­quils schlecht oder gar nicht vor dem Virus schützen können. Masken und Desin­fek­ti­ons­mittel seien in den Geschäften nicht mehr erhält­lich. „Die Stras­sen­ver­käufer verkaufen gebrauchte Mund­stücke für Schutz­masken, als wären sie neu, und die Desin­fek­ti­ons­mittel entspre­chen nicht dem nötigen Stan­dard“, so Cubero Toro.

Seit diesem Wochen­ende scheint die Regie­rung in Ecuador endlich ange­messen reagieren zu wollen. Am Samstag entschul­digte sich Otto Sonnen­holzner, der Vize­prä­si­dent der Repu­blik, im natio­nalen Fern­sehen für die Fehler, die im Umgang mit der Pandemie vonseiten der Regie­rung begangen wurden. Weiter versprach er, insge­samt 1’500 neue Kran­ken­haus­betten in den öffent­li­chen Spitä­lern Guayas‘ zur Verfü­gung stellen zu wollen.


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